Sonntag, 13. Februar 2022

„Friedliche Sabotageaktionen sind Akte der legitimen Notwehr“

Berliner Zeitung hier  Tadzio Müller12.2.2022
Klimakrise - 
Die Untätigkeit der Oberen lässt Aktivisten keine andere Wahl, als Autobahnen zu blockieren. Das sei nicht radikal, das sei Selbstverteidigung, so unser Autor.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst einer radikalisierten Klimabewegung. Derzeit geistert es über deutschen Autobahnen und Hauptverkehrsadern, in Gestalt der Klimaaktivistinnen und -aktivisten der „Letzten Generation“, die im Kampf für einen rationaleren, klimaschützenderen, mithin global gerechteren Umgang mit Nahrungsmitteln immer wieder Autobahnen und Hauptverkehrsadern in Berlin und andernorts blockieren, indem sie ihre Hände auf den Straßenbelag kleben. Ihnen schlagen tsunamiartige Wellen gutbürgerlicher und autofahrerischer Wut entgegen, sogar viele klimabewegungsaffine Menschen distanzieren sich von diesen Aktionen, träfen sie doch vor allem die Falschen, nicht die Verursacher der Klimakrise.

 Dabei muss man gar kein Klima- oder Linksradikaler sein, um einzusehen: Die Störungen im „normalen“ gesellschaftlichen Betriebsablauf, die von solchen Aktionen verursacht werden, sind nicht nur gerechtfertigt, sie sind notwendig, da es sich um Aktionen legitimer Notwehr handelt.

Das Argument geht folgendermaßen: Es ist Anfang 2022. Vor sieben Jahren hat die Weltgemeinschaft das Pariser Abkommen unterzeichnet, dadurch ein letztes Mal den Eindruck vermittelt: Ja, wir Regierungen kümmern uns um die Klimakrise. Dann aber kam der Katastrophensommer 2021, der qua Rheinlandflut, abbrennender Urlaubsinseln und des neuen Berichts des Weltklimarats IPCC zweierlei eindrücklich zeigte.

Erstens, dass die Klimakrise eine unmittelbare Gefahr für Eigentum, Gesundheit und Menschenleben darstellt – auch in Deutschland, besonders im Ahrtal – und nicht, wie viele bisher dachten, ein Problem, das vor allem irgendwann anders („Future“) und irgendwo anders („globaler Süden“) virulent sein würde.

Zweitens, dass die Regierungen der Welt, unsere voran, nichts, zumindest nichts Effektives gegen die Krise tun.
Schlimmer noch: In den meisten Fällen stecken sie mit den verschmutzenden Firmen unter einer (Lobby-)Decke, treiben die Krise also aktiv voran, anstatt sie zu stoppen. Freundlicherweise haben die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung diese Tatsache durch ihre Taxonomie-Entscheidung noch einmal besonders deutlich unterstrichen, in der die Kommission absurderweise Investitionen in Atomkraft und fossiles Gas als nachhaltig und klimafreundlich deklarierte und die Bundesregierung hart daran arbeitete, die zunächst eher strengen Umweltgrenzwerte beim Erdgas aufzuweichen.

Globale Treibhausgasemissionen steigen bekanntermaßen stetig weiter an, abgesehen vom kleinen Knick während des ersten Coronalockdowns. Dieser Anstieg ist im Grunde von jeder Art von Klimapolitik unbeeinflusst – Klimapolitik im Sinne von Klimaschutz findet nicht wirklich statt. Dies sollte uns allen, insbesondere denen, die sich bisher von freitäglichen Schulstreiks weit ferngehalten haben, zu denken geben. Es bedeutet nämlich, dass die Mechanismen, die wir als Gesellschaft designed haben, um mit Krisen umzugehen, um Veränderung zu managen, in der Bearbeitung genau jener Krise vollends versagen, welche die Tragfähigkeit der Erde für menschliches Leben infrage stellt.

Aus dieser mittlerweile überzeugend dokumentierten Untätigkeit oder auch Gegentätigkeit von Regierungen (und Wirtschaft) im Angesicht der Klimakrise leitet sich Folgendes notwendig ab: In der von unserer Regierung unbehandelten und ungelösten Klimakrise wird die friedliche Sabotage von Unternehmen, die von Aktivitäten profitieren, die die Klimakrise vorantreiben (insbesondere natürlich Firmen, deren Geschäftsmodell zentral auf fossilen Brennstoffen basiert), ein Akt der Notwehr, ja der legitimen Selbstverteidigung. Die Klimakrise ist ein Angriff, den es abzuwehren gilt.

Der Notwehrparagraph, § 32 des StGB, stellt klar, dass: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, ... nicht rechtswidrig (handelt), (und dass) Notwehr … die Verteidigung (ist), die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“ Einen Schritt weiter: Ich könnte sogar argumentieren, dass in der eskalierenden Klimakrise, die sowohl im rheinischen Sinzig als auch im Südpazifik Menschen das Leben kostet, nicht zu sabotieren, also nicht Nothilfe zu leisten, im Grunde eine Art unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB darstellt.

Sie sagen jetzt vielleicht: Klingt vermessen! Ich finde: Nicht wirklich. Stellen Sie sich das mal vor: Ich laufe des Nachts durch eine dunkle Gasse in Berlin und werde auf der Straße angegriffen. Oder für Sie eindrücklicher: Sie werden in dieser dunklen Gasse angegriffen – und die Polizei ist nirgendwo zu sehen. Wenn ich Ihnen jetzt nicht zur Hilfe eilen würde (zumindest sofern sich die Risiken für mich dabei in Grenzen halten), würde ich mich doch zutiefst unethisch, würde ich mich falsch verhalten. Ähnlich verhält es sich mit der Klimakrise.

Im Rahmen ihrer offensichtlichen Eskalation wissen Firmen wie RWE oder VW, dass das weitere Verbrennen fossiler Brennstoffe (oder der Bau von Autos mit Verbrennungsmotor, ganz unabhängig von eventuellen Schummeleinstellungen) einen bloß zeitlich vermittelten, aber kausal doch ganz direkten Angriff auf unser Leben darstellt.

Natürlich ließe sich jetzt antworten, dass dieses Argument, dieser Versuch, die bürgerliche Mitte von der Legitimität friedlicher Sabotage für Klimagerechtigkeit zu überzeugen, daran scheitert, dass „Notwehr“ in einem zeitlich (und räumlich) unmittelbaren Zusammenhang zur Bedrohung, zu einem Angriff stehen muss. Jedoch: Das im Frühjahr 2021 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz hebelt das einzige Strukturproblem dieses Arguments – Notwehr brauche eine unmittelbare Bedrohung – aus, denn es ermöglicht uns das Denken von Rechtsgütern und ihres Verhältnisses zueinander auf einer Zeitachse. Ein Angriff auf die Zukunft, der jetzt verursacht wird, darf, muss sogar im Jetzt bekämpft werden.

Wenn all dies stimmt, dann bedeutet das, dass man nicht klima- oder linksradikal sein muss, um der Meinung zu sein, dass in der eskalierenden, tatsächlich gewaltvollen Klimakrise friedliche Sabotageaktionen Akte der legitimen Notwehr sind – oder zumindest sein können. Konkret bedeutet das: Friedliche Sabotageaktionen sind solche, bei denen zuallererst peinlich genau darauf geachtet wird, dass keine Menschen zu Schaden kommen. Sollte dies nicht möglich sein, wird die Aktion im Zweifelsfall abgeblasen. Ansonsten könnte dann zum Beispiel bei einer Tagebaublockade der Klimabewegung ein Kohlebagger nicht nur besetzt werden, es könnten Bestandteile entfernt werden, die notwendig sind, um den Bagger am darauffolgenden Tag zu betreiben. Aktivistinnen und Aktivisten könnten Baugerätschaften auf Gaskraftwerkbaustellen länger als nur ein paar Stunden lahmlegen, indem Sirupmelasse in den Tank geschüttet wird. All dies sind eminent friedliche Aktionen, die aber einen höheren materiellen Schadenseffekt erreichen als bloße Blockaden. Sie wären im oben beschriebenen Sinne: legitime Notwehr.

Das stellt für die gesellschaftliche Mitte (ein sehr viel breiterer Raum als die „politische Mitte“) ein nicht unerhebliches Problem dar, nachdem sie jahrelang den klimawissenschaftlichen Claims zugestimmt hat, die die Klimabewegung unter einen erheblichen gefühlten Zeitdruck setzen: Ja, die Klimakrise ist menschengemacht; ja, sie stellt die „Zukunft der Zivilisation“ infrage (Boris Johnson beim Klimagipfel in Glasgow); ja, sie entsteht durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe.

Die Kombination aus unbearbeiteter Klimakrise mit fast notwendigerweise katastrophalen Folgen und massivem Zeitdruck ergibt also ein astreines Widerstandsrecht – und genau davor muss jede gesellschaftliche Mitte Angst haben, nämlich dass sich ein Teil der Gesellschaft nicht mehr an die Regeln dieser Gesellschaft gebunden fühlt. Zur Hölle mit der Tatsache, dass diese Regeln genau die sind, in deren Rahmen die Klimakrise nur vorangetrieben, aber nicht gelöst werden kann.

In dieser für die gesellschaftliche Mitte offensichtlich schwierigen Situation schälen sich drei diskursive Gegenstrategien heraus.
Erstens, das einfache Leugnen der Tatsache, dass die Klimakrise mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit katastrophale Folgen haben wird. Ungefähr: „Kommt schon, so schlimm wird’s doch nicht werden.“ Diese klassische psychologische Verdrängungsstrategie lässt sich, wie alle Verdrängungsstrategien, nicht wirklich durch Fakten bekämpfen, aber John Schellnhuber, Gründer des Potsdam- Instituts für Klimafolgenforschung, hat das abschließend beschieden: „Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.“

Zweitens wird häufig darauf hingewiesen, dass radikaler Klimaschutz im Moment keine Mehrheiten in Deutschland findet, deshalb also nicht stattfinden könne. Dieses Argument lässt außer acht, dass die deutsche repräsentative Demokratie national organisiert ist, der Klimawandel aber global, was bedeutet, dass nicht alle, die zum Beispiel von deutscher Braunkohlepolitik betroffen sind, auch darüber abstimmen können; und dass Mehrheitsherrschaft ohne Menschenrechte, um die es ja im Kampf für Klimagerechtigkeit geht, auch einfach eine majoritäre Unrechtsherrschaft sein kann. Vor allem in Deutschland sollte dies nicht vergessen werden.

Drittens wird, natürlich, die „Gewaltkeule“ geschwungen. In einer merkwürdigen Täter-Opfer-Umkehr werden klimawandelbedingte Tote einfach ausgeblendet, ob in Madagaskar oder im Rheinland. Es werden Autokarosserien über Menschenleben gestellt, das Herausdrehen von Schrauben aus einem Kohlebagger oder die friedliche Blockade einer Hauptverkehrsader per ordre de Mufti zu Gewalt erklärt.

Friedliche Sabotage richtet sich aber gegen seelenlose Gegenstände, denen keine Gewalt angetan werden kann, weil sie keine Lebewesen sind. Natürlich kann die Zerstörung von Gegenständen Menschen Gewalt antun, aber inwiefern das der Fall ist, wenn ein paar Schrauben aus einem Kohlebagger herausgedreht werden, ist mir noch nicht überzeugend erklärt worden.

Außerdem ist es die Klimakrise, die die wahre Gewalt darstellt, eine strukturelle Gewalt, die in Deutschland mitverursacht wird und die durch die Projektion des Gewaltbegriffs auf friedliche Klimaaktivisten verdrängt werden soll: Wenn auf den Schwurbler-Demos „dem System“ faschistische Züge vorgeworfen werden, tun die angeblichen Querdenker dies ja, um sich selbst und andere von den faschistischen Grundzügen ihrer Bewegung abzulenken.

Aber die Zeit der Verdrängung ist vorbei. Auch weil sie uns dies so klar vor Augen halten, bin ich den Autbahnblockierern der letzten Generation so dankbar.

Tadzio Müller ist Politikwissenschaftler, Globalisierungskritiker und Umweltaktivist, seit 25 Jahren kämpft er für globale Klimagerechtigkeit. Bis 2021 war er als Referent für Klimagerechtigkeit und internationale Politik in der Rosa- Luxemburg-Stiftung beschäftigt.


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