Bundesverfassungsgericht:
Regierung von Schwaben muss sich Kritik gefallen lassen,
Inhaftierung von Samuel Bosch grundgesetzwidrig,
Bosch musste sofort entlassen werden
Claire meint: Ist das nicht mehr als peinlich für ein Gericht, sich sagen lassen zu müssen, was erlaubte Meinungsäußerung ist?Und dann die Jugendlichen in den Knast stecken, obwohl noch eine Revision vor den höheren Gericht ansteht! Amigo-Söder geht in Bayern so gegen Klima-Demonstranten vor.
+++ Pressekonferenz am morgigen Freitag (5.4.) um 11:00 Uhr in der Ravensburger Innenstadt, Marienplatz +++
„Lohwald-Rodung trotz laufender Gerichtsverfahren? Frech!“ Ein Banner mit dieser Aufschrift hatten Aktivist*innen und Unterstützer*innen des Augsburger Klimacamps im Oktober 2022 an der Fassade der Regierung von Schwaben angebracht [1,2,3,4,5] – und wurden dafür vom Augsburger Amts- und Landgericht hart bestraft [27-33], die dpa berichtete mehrmals über den Vorgang: drei Wochen Haft für Samuel Bosch (21), eine Woche Haft für Charlie Kiehne (21) und ein halbes Jahresgehalt Geldstrafe für Ingo Blechschmidt (35).
Das Bundesverfassungsgericht beschloss nun: Die Augsburger Urteile waren rechtswidrig, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit wurde von den Gerichten missachtet. Damit musste die Jugendarrestanstalt Göppingen Bosch, in der er bis heute Abend inhaftiert war, sofort entlassen.
„Eine finanzielle Haftentschädigung kann die zwei Wochen Haftzeit nicht wieder gut machen“, erklärt Bosch. „Aber der eigentliche Schaden liegt in den Folgen der Erdaufheizung. Es lohnt sich, für Klimagerechtigkeit zu kämpfen, auch wenn dies bedeutet, eingesperrt zu werden.“
„Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG“ (RdNr. 11), so der unanfechtbare höchstrichterliche Beschluss [25]. Bei Äußerungen wie der Kritik an der Regierung von Schwaben sei zu beachten, wenn diese „nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzung“ getätigt werden, sondern „zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen“ (RdNr. 14). Explizit erwähnt das Gericht, dass der „Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen [ist]“ (RdNr. 12). „Die [Augsburger] Gerichte gehen mit einer verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht genügenden Begründung vom Vorliegen einer Tatsachenbehauptung aus und verkürzen damit den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit. [...] Insbesondere erfolgt jeweils keinerlei Einordnung in den Kontext“ (RdNr. 18).
▸ Rechtlich besonders geschützter Bannwald
Der Lohwald ist ein nach dem Bayerischen Waldgesetz rechtlich geschützter Bannwald bei Biberbach und Langweid. Art. 9 dieses Gesetzes setzt für Rodungsvorhaben bei Bannwäldern voraus, dass „zwingende Gründe des öffentlichen Wohls es erfordern“ [6]. Ein Interesse an der Rodung des Lohwalds hatten die angrenzenden Lech-Stahlwerke, die behaupteten, ihr Werksgelände vergrößern zu wollen. Mehr als ein Jahr später liegt die Rodungsfläche indes immer noch brach, wie eine Foto-Dokumentation von Fridays for Future Augsburg ergab [7]. Thomas Frey, der Regionalreferent des BUND Naturschutz, sprach in Bezug auf die Rodung damals von einer „perfiden Aktion“ und einer „Watschen für die engagierte Bürgerschaft“ [8].
Zum Zeitpunkt der Rodung war der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit einer Rechtswidrigkeitsprüfung des Rodungsvorhabens beschäftigt – und ist es immer noch [9,10].
Die an den Wald angrenzende Gemeinde Biberbach hatte nämlich, wie auch der BUND Naturschutz, eine Normenkontrollklage eingereicht. Diese Klagen entfalteten allerdings keinen einstweiligen Rechtsschutz, da die Rodung erst für den Oktober 2023, nach Abschluss gewisser artenschutzrechtlicher Maßnahmen, vorgesehen war und daher vermeintlich keine Eilbedürftigkeit bestand. Die Aktivist*innen kritisierten, dass die Regierung von Schwaben mit einer Ausnahmegenehmigung der vorgezogenen Rodung des Lohwalds Tür und Tor öffnete, ohne die Gemeinden darüber zu informieren, und sie so der Möglichkeit beraubte, einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen.
▸ Höchstrichterlicher Beschluss mit Strahlkraft
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich zunächst nur auf das Augsburger Urteil gegen Bosch, den die Arrestanstalt nun sofort aus der Haft entlassen musste. Seine ebenfalls verurteilten Mitstreiter*innen Charlie Kiehne und Ingo Blechschmidt hatten bislang keine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Für Kiehne kommt der Beschluss auch zu spät: Kiehne saß die Haft bereits ab. Kiehne kann höchstens Haftentschädigung von 75 Euro pro Tag beantragen. Blechschmidt könnte sein als Strafe gezahltes halbes Jahresgehalt zurückerhalten.
„Ein Beschluss mit Strahlkraft“, findet Blechschmidt. Die höchstrichterliche Entscheidung wertet er nicht nur in Bezug auf ihre Kritik an der Regierung von Schwaben als wichtiges positives Zeichen: Seit letztem Jahr ist Deutschland aufgrund von immer weiter zunehmenden Einschränkungen des Versammlungsrechts auf der internationalen Ächtungsliste der Menschenrechtsorganisation Amnesty International gelandet – neben Ländern wie China und dem Iran [11,12].
In Deutschland würden Proteste von staatlichen Behörden mitunter als „Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ wahrgenommen, [...] anstatt sie als Kernelement eines lebendigen gesellschaftlichen Diskurses zu ermöglichen und zu schützen, sagte Paula Zimmermann, Expertin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Amnesty International in Deutschland. „Heute ist ein guter Tag für zivilgesellschaftliches Engagement. Mit seinem wegweisenden Beschluss verteidigte das Bundesverfassungsgericht die dafür so wichtige Versammlungs- und Meinungsfreiheit“, so Ingo Blechschmidt vom Augsburger Klimacamp. Das Bundesverfassungsgericht folgt mit seinem Beschluss auch einer Forderung der UN, Klimaaktivist*innen stärker zu schützen [13].
Die Augsburger Staatsanwaltschaft steht überregional in der Kritik [14,15,16a], sogar die New York Times berichtete schon über ihre Übergriffe [16b,17]. Charlie Kiehne kritisiert, dass dadurch Menschen von ihrem Engagement für die Lebensgrundlagen abgebracht werden könnten: „Die Augsburger Justiz sendet ein völlig verdrehtes Signal in unsere Gesellschaft: Es sind vielmehr die Stahl-, Zement- und Autohersteller, die gigantische Verbrechen an der Zukunft unserer Kinder und an den aktuellen Lebensgrundlagen der Menschen im globalen Süden begehen“. Eine ähnliche Haltung vertritt auch UN-Generalsekretär António Guterres, der in einer Rede erklärte: „Klimaaktivisten werden manchmal als ‚gefährliche Radikale‘ dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen erhöhen“ [18].
Während des Prozesses in Augsburg spielten auch persönliche Meinungen der Richter, wie Aktivismus auszusehen habe, eine Rolle. In der Urteilsbegründung des Jugendrichters am Augsburger Landgerichts äußerte Richter Rauh etwa pauschale Kritik an Fridays for Future: Aktivismus sei bedrohlich für die Lebensgrundlagen von acht Milliarden Menschen; man könne nicht alles verbieten. „In der Verhandlung gab es von Seiten des Landgerichts zwar viele Emotionen und persönliche Meinungen, wie Aktivismus auszusehen hätte, aber leider wenig sachliche Erklärung“, kommentierte damals Boschs Strafverteidiger Klaus Schulz.
▸ Während Haft Workshop-Woche im besetzten Altdorfer Wald organisiert
Die Zeit in der Haft hat Bosch genutzt, um sein Engagement für Klimagerechtigkeit auf andere Weise fortzuführen. Er richtete eine Art zweigeteiltes Büro ein, per Post unterhielt er ausführlich Korrespondenz mit Bürgerinitiativen, Freund*innen und Aktivist*innen. Auf diese Weise organisierte er aus der Arrestanstalt heraus eine umfangreiche Workshop-Woche in der von ihm mitinitiierten Besetzung im Altdorfer Wald bei Ravensburg: Vom 17. bis zum 26. Mai 2024 wird es in den Baumhausdörfern ein vielfältiges Programm geben. Bürger*innen können dort lernen, wie sie in Notsituationen Bäume zu ihrem Schutz besetzen können, oder wie man Städte verklagen kann, wenn sie Demonstrationen verbieten [19]. Daneben werden auch Dokumentarfilme rund um die seit mehr als zwei Jahren bestehende Besetzung gezeigt [20,21,22].
Interessierte können auf www.ravensburg.klimacamp.eu weitere Details nachlesen. Es werden Aktivist*innen aus ganz Europa erwartet, die meisten Workshops werden auf Deutsch und auf Englisch angeboten.
▸ Solidaritätsaktionen in Göppingen
Boschs Haft wurde von mehreren Solidaritätsaktionen begleitet, etwa am gestrigen Mittwochnachmittag mit einem Banner mit der Aufschrift "Ihr seid nicht alleine!", das eine Unterstützerin ohne Genehmigung in einem Baum direkt vor der Jugendarrestanstalt anbrachte. Auch Boschs Mitgefangene haben sich sehr über diese Aktion gefreut; Fotos der Aktion, die ihnen heute per Post zugespielt wurden, mussten sie zwischenzeitlich aber auch wieder abgeben.
Davor gab es am Freitag (29.3.) ein öffentliches Picknick vor der Arrestanstalt; der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt, da es über die Feiertage kein anstaltsinternes Programm gibt.
Am heutigen Donnerstag brachten Unterstützer*innen Flyer in der Regierung von Schwaben an, die Mitarbeiter*innen dazu aufriefen, zur Aufklärung der vorgezogenen Bannwaldrodung beizutragen und mögliche bislang verschlossene Informationen zu veröffentlichen [23].
Weitere REFERENZEN
[24] https://etherpad.wikimedia.org/p/r.4b6cfff13433e4336ae369655d900a7c
[25] https://www.speicherleck.de/iblech/stuff/.rvs2/bverfg.pdf
[27] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/klimaaktivist-protest-ulm-gefaengnis-100.html
[28] https://www.schwaebische.de/regional/oberschwaben/ravensburg/samuel-bosch-und-charlie-kiehne-rechtskraeftig-verurteilt-1986484
[29] https://www.schwaebische.de/regional/oberschwaben/vogt/klimaaktivist-samuel-bosch-muss-fuer-drei-wochen-in-jugendarrest-2344750
[30] https://www.suedkurier.de/region/bodenseekreis/bodenseekreis/nach-berufung-gericht-verurteilt-ravensburger-klimaaktivisten;art410936,11761080
[31] https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/augsburg-klimaaktivisten-scheitern-mit-berufung-und-muessen-in-den-arrest-id68217581.html
[32] https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/prozess-in-augsburg-klimaaktivisten-muessen-nach-abseil-aktion-in-arrest-id66971786.html
[33] https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/642/richterinfehlt-die-politische-reife-8971.html
HINWEIS
Bosch trat die Haft selbstbestimmt am 21. März an, nachdem er für den 13. März geladen war [26]. „Ich hatte einige feste Termine für meinen Klimaaktivismus, daher wäre ein pünktlicher Haftantritt unsinnig gewesen“, hatte Bosch in einer Mitteilung angekündigt. In der Zeit zwischen angeordnetem Haftantritt und dem 21. März nahm Bosch an einer öffentlichen Podiumsdiskussion beim Ulmer Theater teil, führte Interessierte im Rahmen des wöchentlichen Waldrundgangs durch die Besetzung im Altdorfer Wald und beteiligte sich an einer Diskussion im "Denksalon" des neuen Ravensburger Kunstvereins mit Oberbürgermeister Rapp über Rechtsextremismus an.
Bosch führte ein ausführliches Knasttagebuch, das in Auszügen veröffentlicht werden wird. Auf Anfrage kann dieses geteilt werden. Bosch, Kiehne und Blechschmidt sind im Einklang mit früherer Berichterstattung mit der Nennung ihrer vollen Namen einverstanden. Fotos der zu Unrecht so verurteilten Aktion zur freien Verwendung gibt es auf: https://www.speicherleck.de/iblech/stuff/.rvs2 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts findet sich dort auch.
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