Mittwoch, 10. April 2024

Klares Urteil aus Straßburg: Klimaschutz ist Menschenrecht

     hier zum Anhören NDR 

Auszug von Dr. Roda Verheyen: "Heute ist ein ganz ganz wichtiger Tag und der europäische Menschenrechtsgerichtshof hat die Türen für weitere Klagen ganz weit aufgestoßen......
Es wurde hier nicht nur ganz klar gesagt, dass es eine Verbandsklage in Richtung Menschenrechtsschutz gibt, sondern es wurde auch gesagt, dass es Klimaschutzpflichten gibt, des Staates aus der europäische Menschenrechtskonvention.....
Die europäische Menschenrechtskonvention ist einzuhalten, sowohl in der EU als auch in Deutschland, das ist unbestritten.... Das bedeutet: die Rechtsgrundsätze, die heute festgestellt worden sind, sind überall in Europa verbindlich, über die EU-Grenzen hinaus.
......waren heute 33 Staaten quasi auf der Beklagten-Bank.... es geht darum dass die richtigen Signale auch in die politischen Chefetagen gesendet werden und in die Chefetagen von Unternehmen. Die Tatsache also, dass der europäische Menschenrechtsgerichtshof heute wieder gesagt hat, dass ein schlüssiges CO2-Budget Voraussetzung ist, dass man Klima ausreichend schützen kann, das hat aus meiner Sicht auch auf privatrechtlicher Ebene Bedeutung....

hier  zum Anhören NDR 


ZDF  hier Update am Abend  von Larissa Hamann  09.04.2024
mit vielen Grafiken und eingebetteten Videos

Wegweisende Urteile fürs Klima und Familien: heute gab es gleich mehrere wegweisende Gerichtsurteile: Die Schweiz wurde wegen zu wenig Klimaschutz verurteilt. Und in Deutschland stärkt das Bundesverfassungsgericht die Rechte leiblicher Väter - und ermöglicht damit theoretisch die rechtliche Elternschaft auf mehr als zwei Menschen.

Zu wenig Klimaschutz in der Schweiz

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte zum allerersten Mal ein Land wegen zu wenig Klimaschutz. Schuldig: die Schweiz. (Vorerst) nicht schuldig: Deutschland, Portugal und weitere Länder.

Schweizer Seniorinnen hatten geklagt, weil sie durch ihr Alter besonders durch den Klimawandel gefährdet sind, beispielsweise wegen extremer Hitzewellen. Die europäischen Richterinnen und Richter entschieden, dass der mangelnde Klimaschutz in der Schweiz die Seniorinnen in ihren Menschenrechten verletzt - und somit auch, dass es ein Menschenrecht auf Klimaschutz gibt. Dieses Urteil könnte nun ein Präzedenzfall für weitere Klimaklagen sein.

Erfolglos waren hingegen junge Menschen aus Portugal. Sie warfen ihrem Heimatland, Deutschland und weiteren Ländern vor, die Klimakrise verschärft zu haben und damit die Zukunft ihrer Generation zu gefährden. Das lehnten die Richterinnen und Richter ab: Die Jugendlichen hätten sich zuerst durch die Instanzen in Portugal klagen müssen.


Klimaschutz ist Menschenrecht

hier ZDF  von Jan Henrich und Sebastian Langer  09.04.2024

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat entschieden, dass es ein Menschenrecht auf effektiven Klimaschutz gibt. Eine Klimaklage von Seniorinnen aus der Schweiz hatte Erfolg.

Bedeutet ein mangelnder Klimaschutz auch gleichzeitig eine Verletzung von Menschenrechten? Diese Frage hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) jetzt bejaht - und damit Neuland betreten. Das Urteil stellt eine Grundsatzentscheidung mit weitreichender Signalwirkung dar.

EGMR verurteilt die Schweiz zu mehr Klimaschutz

Gleich drei Klimaklagen standen beim EGMR an diesem Dienstag zur Entscheidung an. Erfolgreich war die Klage des Vereins "KlimaSeniorinnen" gegen die Schweiz.

Grafiken zum Klimawandel im Überblick  hier

Konkret haben die Richter am EGMR entschieden, dass der unzureichende Klimaschutz der Schweiz die Menschenrechte der klagenden Seniorinnen verletzt. Dabei entnahm der Gerichtshof dem Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 der Menschenrechtskonvention) ein Recht auf wirksamen Schutz vor den nachteiligen Folgen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität.

Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens,
ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

Menschenrechtskonvention, Artikel 8 (1)


Dieser Verpflichtung sei die Schweiz nicht gerecht geworden. Diese habe es versäumt, ein CO2-Budget aufzustellen oder anderweitig zu berechnen, wie stark sie ihre Emissionen zu reduzieren habe. Das Urteil bindet zunächst zwar nur die Schweiz, allerdings dürfte es für alle zukünftigen Klimaklagen einen Präzedenzfall geschaffen haben.

Nur indirekte Auswirkungen auf Deutschland

Auf Deutschland hat das Urteil des EGMR zunächst nur indirekte Auswirkungen. Laut der Umweltrechtlerin und Rechtsanwältin Roda Verheyen werde aber auch der deutsche Gesetzgeber überprüfen müssen, inwieweit das derzeitige Klimaschutzgesetz den vom EGMR aufgestellten Grundsätzen entspricht.

Aus meiner Sicht hat der EGMR heute die Position derer, die sagen,
Klimaschutz muss Realität werden und nicht nur auf dem Papier stehen, gestärkt.

Klima-Anwältin Roda Verheyen


Entscheidend sei für sie, dass der EGMR auch die Umsetzung des Klimaschutzes durch die Staaten als Teil des Menschenrechts angesehen habe.

Seniorinnen fordern Überprüfung der Klimapolitik

Die Schweizerinnen hatten argumentiert, dass die Schweiz nicht genug unternehme, um klimaschädliche Emissionen einzudämmen. Hiervon seien sie unmittelbar betroffen. Denn häufigere Hitzewellen würden sich insbesondere negativ auf die Gesundheit von älteren Frauen auswirken. Vor Schweizer Gerichten hatte die Gruppe zuvor mit ihrer Klage keinen Erfolg.


DW hier  Bernd Riegert  9.4.24

Europäisches Gericht: Klimaschutz ist Menschenrecht

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gibt Schweizer Seniorinnen recht, die Klimaschutz als Menschenrecht ansehen. Ein juristischer Hammer mit möglichweise großen Folgen. 

Die große Kammer des Europäischen Gerichts für Menschenrechte (EGMR) hat ein wegweisendes Urteil zugunsten der sogenannten "Klima-Seniorinnen" in der Schweiz gefällt. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass die große Spruchkammer mit 17 Richtern dieses Verfahren an sich gezogen hat. Das geschieht nur, wenn es noch keine laufende Rechtsprechung des Gerichts zu einem wichtigen Thema gibt. Das war beim Klimaschutz bis heute der Fall und hat sich nun grundlegend geändert.

Die Richterinnen und Richter entschieden, dass der Schutz vor den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels zu den europäischen Grundrechten gehört. Diese sind seit 1950 in der Europäischen Konvention für Menschenrechte festgeschrieben. Aus dem Urteil im Fall der Schweizer Klima-Seniorinnen kann nun ein individueller Anspruch auf mehr Klimaschutzmaßnahmen abgeleitet werden. Außerdem können auch Verbände unter gewissen Voraussetzungen klagen. Das öffnet weiteren Verfahren vor dem EGMR Tür und Tor. Sechs weitere Beschwerden gegen Regierungen von Mitgliedsstaaten des Europarates sind in Straßburg bereits anhängig.

"Regierungen werden gebunden"

Gerry Liston, Anwalt beim gemeinnützigen globalen Juristen-Netzwerk GLAN, meint, dass das Urteil nicht nur ein Sieg für die Schweizerinnen sei, sondern für jeden Menschen. "Die Entscheidung bindet Regierungen in ganz Europa, nicht nur in der Schweiz, wissenschaftlich fundierte Klimaschutz-Ziele zu setzen, die die Erwärmung unter 1,5 Grad halten. Das Urteil kann jetzt direkt bei Prozessen auf nationaler Ebene als Referenz herangezogen werden", so Gerry Liston in Straßburg gegenüber der DW.

Die Schweizer Regierung sieht das allerdings anders. Eine Sprecherin erklärte gegenüber der DW, man werde in Bern das Urteil jetzt genau prüfen. Notwendigkeit zu schnellem politischem Handeln entstehe aus dem Spruch der Großen Kammer nicht. Die Schweiz tue bereits sehr viel, um den Klimawandel einzudämmen.

"Das ist ein maximaler Sieg"

Die Co-Vorsitzende des Vereins der Klima-Seniorinnen, Rosmarie Wydler-Wälti, freute sich mit ihren Mitstreiterinnen trotzdem sehr. Im Foyer vor dem Gerichtssaal wurde viel geklatscht und gejubelt. Viele Vereinsmitglieder saßen während der Verkündung im Publikum. "Das ist ein maximaler Sieg. Jetzt haben wir nach Artikel 2 und 8 ein Recht auf Gesundheit und ein gutes Leben. Was wollen wir mehr? Das ist ein Nachweis, dass wir Schutz brauchen", sagte Wydler-Wälti der DW kurz nach der Verlesung des Richterspruchs, der von einigen Experten als "historisch" angesehen wird. "Das muss jetzt eine Wirkung haben. Die Schweiz hat die Menschenrechtskonvention ratifiziert und muss da jetzt folgen." Die Schweiz habe Fehler gemacht und müsse jetzt ihren Kurs ändern, so die Co-Vorsitzende der siegreichen Seniorinnen.

Im November 2020 hatten die sogenannten "Klima-Omas" aus der Schweiz ihre Klage in Straßburg eingereicht. Der Verein der Klima-Seniorinnen Schweiz sah die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben nach Artikel 2 und gesunde Lebensführung nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, durch die Schweizer Regierung verletzt. Einige der Klägerinnen sind schon deutlich über 70 Jahre alt; sie verlangten, dass die Schweiz mehr tun müsse, um Hitzewellen und Stürme zu verhindern, die durch den Klimawandel entstünden.

Beschwerden aus Portugal und Frankreich abgewiesen

Zwei weitere ähnliche Verfahren haben die Straßburger Richterinnen und Richter heute zurückgewiesen, aus eher formalen Gründen. Sechs Kinder und Jugendliche aus Portugal, die unter den Folgen von Waldbränden in ihren Heimatdörfern litten, waren im September 2020 die ersten Beschwerdeführer, die nach Straßburg zogen. Ihre Klage kann aber vom EGMR nicht entschieden werden, weil sie den Rechtsweg in Portugal nicht vollständig ausgeschöpft haben. Erst danach wäre ein Gang nach Straßburg zulässig. Ein ehemaliger Bürgermeister aus der französischen Stadt Grande-Synthe scheiterte ebenfalls. Da der Beschwerdeführer nicht mehr in Frankreich lebe, habe er nicht klarmachen können, wie er ein Opfer der französischen Klimapolitik sein könne, schrieben die Richter in ihrer Urteilsbegründung.

Gegen eine Entscheidung der Großen Kammer des EGMR gibt es kein Rechtsmittel. Sie ist endgültig. Das Gericht könnte sogar Geldstrafen festlegen, die die Staaten an die Beschwerdeführer als Entschädigung für die Einschränkung ihrer Menschenrechte zu zahlen hätten. In letzter Zeit hielt sich das Gericht eher damit zurück, in solchen Verfahren grundsätzlich gegen die Staaten zu urteilen. Eine Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen beim Klimaschutz könnte nun zu einer erheblichen Klageflut von einzelnen Beschwerdeführern führen, meinen Rechtsexperten in Straßburg in Hintergrundgesprächen. 

Mehr Klagen in Sachen Klimaschutz

Klimaaktivisten versuchen schon seit Jahren, den Klimaschutz nicht nur auf der Straße, sondern auch im Gerichtssaal durchzusetzen. Die erste Klage gewannen sie bereits 2015 in den Niederlanden. Dort verpflichtete ein Gericht den Staat, die Emissionen von Treibhausgasen massiv zu reduzieren.

Vor dem EGMR sind mittlerweile sechs weitere Klagen anhängig, eine davon auch aus Deutschland. Nach Angaben des UN-Umweltprogramms UNEP gibt es weltweit inzwischen über zweitausend Klagen wegen klimaschädlichen Verhaltens vor allem vor nationalen Gerichten, die meisten davon in den USA. Staaten werden von ihren Bürgern verklagt,  so etwa von Inselbewohnern im Pazifik. Außerdem mehren sich die Klagen gegen einzelne Unternehmen. Ein peruanischer Bauer geht etwa gerichtlich gegen den deutschen Energiekonzern RWE vor. Der Schweizer Zementhersteller Holcim wird von Bewohnern der indonesischen Insel Pulau Pari vor Gericht beschuldigt, mit seinen Emissionen das Leben in Indonesien zu beeinträchtigen.

Der EGMR, der 1959 vom Europarat errichtet wurde, wacht über die Menschenrechtskonvention von 1950. Er ist eine Art letzter Zufluchtsort für Menschen, die sich von ihrem Heimatstaaten nicht gerecht behandelt fühlen. Der Gerichtshof verhandelt jährlich hunderte Fälle hauptsächlich wegen unfairer Justizverfahren oder ungerechtfertigter Inhaftierung.

Seine Urteile sind für die Mitgliedsstaaten des Europarates bindend. In knapp der Hälfte der Fälle werden sie tatsächlich befolgt. Das Gericht hat keine Polizeibehörde, die die Urteile durchsetzen könnte. Die Richter, die aus den Mitgliedsstaaten nach Straßburg entsandt werden, müssen sich darauf verlassen, dass die Regierungen sich an ihre Urteile halten.

Der Europarat besteht seit 1949; er ist kein Organ der Europäischen Union, sondern eine lose Konföderation aller europäischer Staaten - außer Belarus und Russland - zum Schutz der Menschenrechte. 



Watson hier  Geschichte von Ralph Steiner  9.4.24

«Ich kann Ihnen Neuigkeiten überbringen, die in die Geschichte eingehen werden»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Dienstagvormittag das Urteil im Fall Klimaseniorinnen gegen die Schweiz verkündet. Das Gericht hat eine Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Zugang zum Gericht) der Menschenrechtskonvention festgestellt.

Die Freude bei den Klimaseniorinnen und ihrem Anwaltsteam ist riesig. Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti sagte zu den anwesenden Medien: «Ich kann es immer noch nicht ganz fassen.»

Die Klimaseniorinnen hätten im Vorhinein immer gedacht, dass sie die Hoffnungen nicht zu hoch schrauben dürften, sonst werde der Fall viel zu tief. «Jetzt sind wir beim Maximum angekommen.»

«Ich freue mich ausserordentlich, hier vor Ihnen stehen zu dürfen, es ist ein historischer Tag», betonte Cordelia Bähr, die leitende Rechtsanwältin der Klimaseniorinnen, vor Ort in Strassburg. «Ich kann Ihnen Neuigkeiten überbringen, die in die Geschichte eingehen werden.»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe mit seinem Urteil festgestellt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht sei, so Bähr weiter. «Der EGMR macht mit diesem Entscheid klar, dass die Schweiz die Pflicht hat, Seniorinnen und Senioren vor den Auswirkungen der Klimaerwärmung auf ihr Leben und ihre Gesundheit zu schützen

Schweizer Frauen mit Erfolg bei Klimaklage vor EU-Gerichtshof

Die Schweiz müsse nun deshalb ihre aktuellen Klimazielsetzungen, gestützt auf wissenschaftliche Grundlagen, überprüfen, einer Evaluation unterziehen und entsprechend nachbessern.

«Das ist ein immenser Sieg für uns und ein unbeschreiblicher Moment», so Bähr, «und es ist ein Präzedenzfall für sämtliche Mitgliedstaaten des Europarates».

«Verbindung zwischen Grundrechten und Klimaveränderung»

Das Urteil zwinge die Eidgenossenschaft und möglicherweise auch andere Länder dazu, mehr für den Klimaschutz zu tun, so Raphaël Mahaim, einer der Anwälte der Klimaseniorinnen, nach der Urteils-Eröffnung.

Die Schweiz könne jedoch die Mittel wählen, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Das am Dienstag in Strassburg eröffnete Urteil stelle «zum ersten Mal die Verbindung zwischen den Grundrechten und der Klimaveränderung her», sagte der Nationalrat der Grünen (VD) dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Mahaim betonte, dass der Bund in Bezug auf das Klima «nicht genug tut», und deshalb liege eine Verletzung der Menschenrechte im Sinne von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, der das Recht auf Gesundheit schütze.

Die Richter hätten klar gezeigt, dass sie die Ansicht vertreten, dass das Klima und die Gesundheit besser geschützt werden müssten. Sie würden der Schweiz die Wahl der Mittel dazu überlassen. Das Urteil schreibe dem Bund nicht vor, was er konkret tun müsse, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Über die Massnahmen müsse in der Schweiz nun diskutiert werden.

Potenziell könnten alle Staaten des Europarats, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet haben, betroffen sein. Das Urteil «ist ein Präzedenzfall, man kann sich Auswirkungen auf mehr als 40 Länder vorstellen», sagte auch Mahaim. Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert. (rst/sda)

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