Montag, 15. April 2024

Politische Debatten: Wir leben in einer Simulation

Spiegel hier Der Rationalist  Eine Kolumne von Christian Stöcker  14.04.2024,

Ein Faschist täuscht Harmlosigkeit vor, ein Verkehrsminister simuliert Fahrverbote, ein Boulevardblatt Sorge um Gaskunden. Über die echte Bedrohung spricht kaum jemand.

Was, glauben Sie, war das wichtigste politische Ereignis dieser Woche? Das sogenannte Duell mit dem CDU-Politiker Mario Voigt, in dem der rechtsextreme Björn Höcke hartnäckig eine fiktive Welt zu simulieren versuchte, in der er gar nicht rechtsextrem ist ? Oder die bizarren Wortmeldungen von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), in denen er eine Welt zu simulieren versuchte, in der es am Wochenende bald Autofahrverbote gibt?

Oder, wenn Sie die »Bild«-Zeitung lesen, glauben Sie vielleicht, die wichtigste Nachricht war die, dass Augsburg bald sein Gasnetz stilllegt? Keine Sorge, Augsburger: Auch das war natürlich nur eine Simulation.

Diese Ereignisse haben etwas gemeinsam: Sie basieren darauf, dass die handelnden Personen die Realität aktiv ausblenden – und das geneigte Publikum einladen, mit ihnen gemeinsam das Gleiche zu tun.

Volker Wissing, Bundessimulationsminister

Verkehrsminister Volker Wissing etwa ist ein echter Simulationskünstler. Am Anfang der Legislaturperiode simulierte er die Bereitschaft , »die Technologie des Verbrennungsmotors hinter uns (zu) lassen«. Was dann geschah, ist bekannt – es war die erste von diversen EU-Blamagen  durch Last-Minute-Meinungsänderungen der FDP. Dann simulierte Wissing ein »Sofortprogramm« zum Klimaschutz, das sich als solche Luftnummer erwies, dass der Expertenrat der Regierung erklärte, da gebe es leider nichts zu bewerten. Als herauskam, dass einer seiner Abteilungsleiter befreundeten Firmen Millionenförderung zuschanzte, simulierte Wissings Ministerium eine hausinterne Untersuchung, bei der – völlig überraschend – nichts herauskam.

Konsequenzen gab es erst, als der SPIEGEL weiter recherchierte und dabei peinliche Details zur »Untersuchung« und weitere Unregelmäßigkeiten  ans Licht kamen. Dann erst wurde der betreffende Abteilungsleiter entlassen . Die SPIEGEL-Kollegen hatten eben recherchiert, nicht simuliert.

Die Ablehnung eines Tempolimits begründete Wissing einmal damit, dafür fehlten die Verkehrsschilder. Zuletzt verstieg er sich zu der Aussage, ein Tempolimit »wollen die Leute nicht«. Fakt ist: Selbst eine Mehrheit der Mitglieder des ADAC (!)  befürwortet ein Limit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen. Der Verkehrsminister simuliert also sogar die öffentliche Meinung.

Wissing versuchte sich abzusichern, indem er dieses »wollen nicht« auf ein sehr spezifisches Szenario bezog, das gar nicht ernsthaft zur Debatte steht: flächendeckend 30 innerorts, 80 auf Landstraßen und 120 auf Autobahnen. Grüne und SPD wollen aber in Wahrheit nur 130 auf Autobahnen. Der Minister simulierte also auch eine Forderung, um die dann für unrealistisch zu erklären.

Die OECD rügt die FDP

Das Verkehrsministerium scheitert an der Erreichung seiner Klimaziele so dramatisch, dass sich sogar die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) öffentlich  über die FDP-Blockaden beschwert: »Viele Chancen, wie z.B. ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert.«

Von Fahrverboten am Wochenende ist auch bei der OECD (natürlich) nicht die Rede. Dieses Drohszenario zog der Simulationskünstler Volker Wissing nun aber trotzdem aus dem Hut: Wenn ihr mich zwingt, meine Hausaufgaben zu machen, dann nehme ich euch samstags und sonntags die Autos weg. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass Wissing die gesamte Ausübung seines Amtes nur simuliert.

Das eigentliche Problem ist die Normalitätssimulation

All das ist Teil einer noch weit größeren Simulation, die von Teilen der deutschen Politik, flankiert von Teilen der deutschen Medienlandschaft, derzeit inszeniert wird: die nämlich, dass sich eigentlich gar nichts ändern müsse und alles ganz normal sei.

Das war diese Woche in der »Bild«-Zeitung wieder einmal zu besichtigen : Die bayerische Stadt Augsburg (regiert übrigens von der CSU, aber das kam im »Bild«-Artikel komischerweise gar nicht vor, schuld war dort mal wieder Robert Habeck) wolle ihr »Gasnetz stilllegen«, behauptete »Bild«. Das ist zunächst einmal, jedenfalls in den behaupteten Zeiträumen, falsch, was eine Sprecherin der Stadt Augsburg anschließend eilig zu Protokoll gab . Aber »Bild« simuliert – wie die FDP, die die Zeitung ja bekanntlich »stärken« soll  – eben gern Parallelrealitäten.

Teil der großen Simulation, in der wir alle leben, ist die Debatte über die Gasnetze in einer fundamentalen Hinsicht: Selbstverständlich wird Deutschland, wenn es in 20 Jahren klimaneutral sein soll, in absehbarer Zeit kein flächendeckendes Gasnetz mehr brauchen. Wir werden dann mit Wärmepumpen oder Fernwärme heizen. Das Zeitalter des Verbrennens muss enden, wenn die Menschheit eine Chance haben soll. Das steht fest.

Please stärke die Gasbranche

Weiterhin wird aber so getan, als sei all das am Ende irgendwie doch optional. Oder als könne das Gasnetz eines Tages statt Erdgas Wasserstoff in heimische Boiler transportieren. Auch das ist weder technisch noch wirtschaftlich auch nur annähernd sinnvoll und wird deshalb definitiv nicht in relevantem Ausmaß passieren. Das zeigt die Fachliteratur praktisch einhellig .

»Heizen mit Wasserstoff« ist eine weitere Simulation, eine von interessierter Seite entzündete Nebelkerze, um den zwangsläufig heraufziehenden Moment, in dem sich das Hunderte von Milliarden teure Gasnetz in ein »Stranded Asset« verwandelt, noch ein bisschen hinauszuzögern – und bis dahin noch möglichst viel Gas zu verkaufen. Und das »Bild«-Mutterhaus Springer gehört eben zu fast der Hälfte mehreren sehr großen Fossilinvestoren. Please stärke die Gasbranche.

Und so simulierten »Bild«, Union und FDP im vergangenen Jahr eine Welt, in der Wärmepumpen irgendwie keine Alternative sind – obwohl in weit kälteren Ländern längst die Mehrheit der Haushalte so heizt und auf diese Weise nicht nur CO₂, sondern auch Geld spart.

Wenn die Simulation platzt, wird es teuer

Hierzulande haben die Simulationskünstler mit vereinten Kräften dafür gesorgt, dass viele Menschen sich noch schnell eine Öl- oder Gasheizung eingebaut haben. Wenn die CO₂-Preise, die zwangsläufig steigenden Netzentgelte und der Weltmarkt dann dafür sorgen, dass das immer teurer wird – und das wird zwangsläufig passieren – wird die Simulation platzen. Wir alle können uns dann auf die Forderung einstellen, Besitzer fossiler Heizungen zu »entlasten«, sprich: CO₂-Freisetzung weiter zu subventionieren. Wenn die Simulation sich nicht mehr aufrechterhalten lässt, wird es teuer, für uns alle.

Die schlimmste der in unserer Wirklichkeitssimulation ausgeblendeten Wahrheiten ist aber eine, die Fachleute aus Klimawissenschaft und Meteorologie derzeit in Angst und Schrecken  versetzt, und doch medial seltsamerweise kaum stattfindet: Oder haben Sie mitbekommen, dass das Erdsystem mit seiner unerhört schnellen Erhitzung gerade alle Modelle sprengt ? 2023 war bereits ein Jahr mit Luft und Ozeantemperaturen weit außerhalb aller normalen Schwankungen. Und 2024 ist noch heißer. Der März war in Deutschland vier volle Grad Celsius wärmer als das langjährige Mittel von 1961 bis 1990.

»Absolutes Neuland«

Noch heißer als die Luft sind die Weltmeere . 2023 waren sie zu heiß, 2024 sind sie noch einmal deutlich heißer. Heißer als in der gesamten Menschheitsgeschichte . »Wir betreten absolutes Neuland, was die Wärmerekorde angeht. Nichts ist vergleichbar mit dem, was wir seit 2023 erleben«, so der Extremwetterexperte Maximiliano Herrera  zu »T-Online«. Und das ist keine Simulation.

Korallen werden sterben und es wird in diesem Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehr gewaltige Extremregenereignisse geben als im Katastrophenjahr 2023. Gleichzeitig schmilzt das polare viel Eis schneller und regeneriert sich viel langsamer als in der Vergangenheit. Dadurch wird unter anderem das Meerwasser in den Polarregionen weniger salzig. »Die moderne globale Erwärmung schreitet zu schnell voran, als dass sich der Ozean vollständig anpassen könnte«, so der weltweit renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf  diese Woche in einem sehr lesenswerten Text in einer Fachzeitschrift.

»Verheerende Folgen«

Das könnte, so Rahmstorf (und andere ), sehr viel schneller, als man sich das bislang vorstellen konnte, eine »gewaltige planetare Katastrophe« auslösen: Falls nämlich die sogenannte Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC) abbricht, eine Meeresströmung, zu der auch das gehört, was man bei uns Golfstrom nennt. Die Temperaturen in Nordeuropa würden binnen kürzester Zeit dramatisch fallen, gleichzeitig würde es hier viel trockener.

Andernorts würden sich Monsunregionen verschieben, der Meeresspiegel würde, etwa an der US-Atlantikküste, abrupt ansteigen. Alles in allem gäbe es »verheerende Folgen für die Menschheit und Ökosysteme im Meer und an Land«, so Rahmstorf (der Weltklimarat sieht das genauso, siehe S. 73 ).

Möchten Sie Ihren Kindern und Enkeln die sehr reale Möglichkeit einer solchen planetaren Katastrophe hinterlassen?

Ob, und wenn ja, wann diese Katastrophe sich wirklich ereignen wird, ist unklar – sicher ist, dass die Faktoren, die zur ihrer Entstehung beitragen könnten, sich gerade beschleunigen. Und dass es schon in unserem Jahrhundert passieren könnte. Weil wir weiterhin Normalität simulieren, statt unsere Emissionen schneller zu reduzieren. Weil manchen der Verbrennungsmotor und anderen die Erlöse der Gasbranche irgendwie doch wichtiger sind.

War Ihnen das klar? Womöglich nicht.

Es ist aber die Realität. Keine Simulation. 

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