hier Zeit Eine Kolumne von Marcel Fratzscher 12. April 2024
Fratzschers Verteilungsfragen / Gescheiterter Neoliberalismus
Der Neoliberalismus ist gescheitert, jetzt dominiert in Politik und Gesellschaft ein Nullsummen-Denken mit Gewinnern und Verlierern. Es ist Gift für den Zusammenhalt.
Unterschiedliche Interessen abwägen und austarieren, einen Konsens und damit Lösungen für bestimmte Problemlagen finden, das wird in vielen Demokratien immer schwerer. Denn die Polarisierung der Gesellschaft nimmt in vielen demokratischen Ländern zu. Die Polarisierung nimmt in fast allen demokratischen Gesellschaften zu. Eine Ursache dafür ist, dass sich im öffentlichen Diskurs zunehmend ein Nullsummen-Denken durchsetzt und damit die Überzeugung, dass der Gewinn des einen zwingend der Verlust des anderen ist. Dabei lassen sich nur durch Kooperation und einen breiten gesellschaftlichen Konsens die großen Herausforderungen unserer Zeit – von Klimaschutz bis Migration – zufriedenstellend lösen, national wie auch international. Es wäre Aufgabe der Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, diesen Konsens herzustellen.
Eine neue Studie von vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den USA zeigt, wie stark dieses Nullsummen-Denken die Einstellungen und das Handeln von immer mehr Menschen dominiert. Dies gilt für alle Gruppen innerhalb der Gesellschaft und über politische Parteien hinweg. Und es ist vor allem in Deutschland stark verankert.
Die Logik dahinter lässt sich wie folgt beschreiben: Alle Ressourcen der Welt sind begrenzt, ein Verteilungskampf ist unumgänglich. Jeder will für sich selbst das größte Stück vom Kuchen und verhindern, dass andere mehr bekommen. Es lohnt sich nicht, mit anderen Gruppen zu kooperieren. Stattdessen muss man mit ihnen in den Wettstreit um die knappen Ressourcen treten. Soziale Leistungen für Geflüchtete, für Rentner oder Bezieherinnen von Bürgergeld werden daher kausal als Ursache für unzureichende Leistungen für andere dargestellt. Ein mehr an Unterstützung für andere muss zwingend ein Verzicht für sich selbst bedeuten, daher gilt es, erst einmal Widerstand gegen jegliche zusätzliche Leistung für andere zu leisten.
Ist der Verteilungskampf unumgänglich?
Das Nullsummen-Denken ist aus einer engen Perspektive häufig richtig, aber gesellschaftlich und langfristig betrachtet meist falsch. Ein Beispiel: Wenn der Nachbar erfolgreich einen der wenigen Kitaplätze für sein Kind ergattert, bedeutet dies, dass dieser Platz nicht mehr zur Verfügung steht. Es gibt aber keinen Grund, wieso es langfristig zu wenige Kitaplätze geben muss. Zwar lindert diese Erkenntnis kurzfristig nicht die Knappheit. Langfristig kann nur eine Ausweitung des Angebots, nicht aber eine Verschärfung des Verteilungskampfes die Knappheit lösen helfen.
Höhere Steuern für Besserverdiener werden von den Betroffenen als eine stärkere Belastung und reine Umverteilung an andere gesehen. Eine kluge Nutzung dieser Gelder – für Bildung, Infrastruktur, soziale Vorsorge, für Sicherheit und Investitionen – kann jedoch auch für diese Steuerzahlenden einen Gewinn an Wohlfahrt und langfristig eine geringere Steuerlast bedeuten. Durch den Schutz von Klima und Umwelt fühlen sich manche Menschen vielleicht zum Verzicht gezwungen, langfristig ist Klimaschutz die einzige Möglichkeit, wie Menschen auf diesem Planeten noch leben können.
Eine Reaktion auf den gescheiterten Neoliberalismus
Die Dominanz dieses Denkens ist eine Reaktion auf das Scheitern des Neoliberalismus, bei dem das Narrativ ist, dass alle von einem freien Markt profitieren würden und der Staat mit seiner Umverteilung der Ressourcen eher stört. Der Gegenpol zum Nullsummen-Denken ist das sogenannte Pareto-Prinzip, das alle Studierenden der Wirtschaftswissenschaften auch heute noch im ersten Semester lernen: Die Politik soll so handeln, dass alle besser dran sind und niemand einen Nachteil erfährt.
Der Neoliberalismus und seine Pareto-Effizienz sind genauso falsch, wie ein Nullsummen-Denken und sein Verteilungskampf. Der Neoliberalismus führt häufig nicht zu mehr Wohlstand für alle, sondern einige wenige profitieren, meist zulasten verletzlicher Gruppen. Eines der vielen Beispiele ist die globale Finanzkrise 2008 und 2009: Viele Finanzinstitutionen sind Risiken eingegangen, bei denen sie die Gewinne privatisieren, die Verluste jedoch sozialisieren und auf die Gesellschaft abschieben konnten. Auch in der Pandemie und in anderen Krisen ist die Schere weiter aufgegangen. Einige konnten profitieren, wogegen andere ihren Lebensstandard einschränken mussten. Jeder Fünfte hierzulande ist mittlerweile von Armut betroffen oder von Ausgrenzung bedroht.
Die oben genannte Studie zeigt, welche gesellschaftlichen Gruppen besonders stark von einem Nullsummen-Denken betroffen sind. Vor allem die individuelle Lebenserfahrung spielt eine Rolle. Menschen mit Migrationsgeschichte, die den Aufstieg geschafft haben, denken weniger in diesen Dimensionen, sondern sehen vor allem die Chancen einer offenen Gesellschaft für alle. Menschen, die selbst Diskriminierung erfahren haben, wenig Bildungschancen oder Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten, die zu ethnische Minderheiten gehören oder auch in strukturschwachen Regionen leben, zeigen dagegen ein sehr viel stärkeres Nullsummen-Denken, belegt die Untersuchung. Das erklärt beispielsweise, wieso manche Migranten in Deutschland die AfD wählen und strikt gegen mehr Immigration sind. Sie befürchten, hart erarbeitete Errungenschaften und Akzeptanz in der Gesellschaft wieder zu verlieren.
Zudem sind junge Menschen deutlich häufiger im Nullsummen-Denken verhaftet. Dies ist interessant und deprimierend zugleich, denn man würde hoffen, dass junge Menschen mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Die Forschung hat dafür zwei Erklärungen: Zum einen ist der wirtschaftliche Wohlstand in den vergangenen 20 Jahren weniger stark gestiegen als in den Jahrzehnten davor. Zum anderen werden junge Menschen stark von ihrem Umfeld geprägt. Es beeinflusst ihr Denken und ihr politisches Verhalten, wenn sie sehen, wie stark der Verteilungskampf ist.
Nullsummen-Denken in konservativen und progressiven Parteien
Alle politischen Lager tendieren übrigens zu diesem Denken, aber bei unterschiedlichen Themen. Konservative Parteien und ihre Wählerinnen und Wähler sehen vor allem bei den Themen Migration, Staatsbürgerschaft und offene Gesellschaft ein Nullsummenspiel. Progressive Parteien und ihre Wählerschaft dagegen tun dies eher bei Themen der Bildung, Gleichstellung oder Steuern. Die resultierende politische Polarisierung macht es dann immer schwieriger, funktionierende Koalitionen zu finden, die kohärent und konsequent eine klare Politiklinie verfolgen. Die Ampelregierung symbolisiert diesen Kampf und die scheinbar unvereinbaren Gegensätze.
Auch Krisen befeuern dieses Denken. Denn verunsicherte oder ängstliche Menschen fokussieren sich eher auf ihre eigenen Interessen. Sie neigen dazu, sich stärker auf ihre eigenen Interessen zu fokussieren, weniger solidarisch zu sein und seltener langfristig zu denken.
Populisten missbrauchen diese Sorgen und Ängste, um das Nullsummen-Denken der Menschen für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Keinem Deutschen geht es besser, wenn Geflüchtete oder Menschen mit Bürgergeld weniger Leistungen erhalten und schlechter behandelt werden. Aber solche Ängste sind leicht geschürt.
Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden, wird somit immer schwieriger. Und gerade deshalb tun sich Demokratien in Zeiten der Polykrisen so schwer. Autokratische Regime haben es dagegen leichter.
Leidtragende der Veränderungen müssen mitgenommen und entschädigt werden
Es ist daher Mut und Ehrlichkeit gefragt: Jede politische und wirtschaftliche Entscheidung hat Verteilungswirkungen, auch solche – wie die digitale Transformation – die vermeintlich nur Gewinner zu haben scheint. Menschen, die unter den Veränderungen leiden, müssen daher Kompensationen erhalten. Der Schutz von Klima und Umwelt ist im Interesse aller, aber kurzfristig ist der Pendler auf dem Land oder die Beschäftigte, deren Unternehmen durch grüne Technologien ihren Arbeitsplatz verliert, negativ betroffen. Auch deshalb ist beispielsweise die Auszahlung des Klimagelds so wichtig, weil die Bepreisung von CO₂-Emissionen Menschen mit geringen Einkommen und andere Gruppen proportional viel stärker belastet. Die Bundesregierung scheint nicht verstehen zu wollen, dass soziale Akzeptanz gerade von verletzlichen Gruppen für den Erfolg von Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt essenziell ist.
Auch muss das Instrumentalisieren von Ängsten und das Schüren von Verteilungskämpfen entlarvt werden. Hier geht es aber nicht nur um die AfD. Politiker aller demokratischer Parteien müssen aufhören, Menschen auszugrenzen. Die Politik braucht eine Kultur, die Vertrauen schafft, Brücken baut und ein demokratisches Miteinander stärkt.
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