Montag, 29. April 2024

"Fakten bringen niemanden dazu, sein Verhalten zu ändern"

 Zeit hier  Maren Urner/ Interview: Simone Gaul  28. April 2024

Wir tun so, als sei Politik eine rationale Angelegenheit. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner sagt: Das ist Quatsch. Es gehe immer um Gefühle.

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner sagt: Was würde es uns allen besser gehen, wenn wir unsere Emotionen besser verstehen könnten. Sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie beschreibt, wie wichtig Emotionen in der Politik sind.

ZEIT ONLINE: Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker, gewaltsame Proteste, Hassnachrichten im Netz – unsere Gesellschaft hat ein Problem mit Emotionen. Warum?

Maren Urner: Weil uns die emotionale Reife fehlt. Wir nehmen uns nicht die Zeit oder schaffen es nicht, zu erkennen, wie wir selbst und andere fühlen. Treffen dann aber Entscheidungen, die von diesen unadressierten Emotionen bestimmt sind. Deshalb eskalieren so viele Situationen.  

ZEIT ONLINE: Sie fordern mehr Aufmerksamkeit für Emotionen, vor allem auch in der Politik. Warum? Sollte Politik nicht rational entscheiden und versuchen, Emotionen außen vor zu lassen?  

MAREN URNER

ist promovierte Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. 2016 gründete sie das Onlinemagazin Perspective Daily für konstruktiven Journalismus mit. Sie leitete die Redaktion bis März 2019 als Chefredakteurin und ist Autorin mehrerer Bücher.

Urner: Nein, auf keinen Fall. Politik ist doch genau das: ein Aushandeln von Gefühlen, Werten oder Überzeugungen. Politik ist Kommunikation darüber, wie es mir als Individuum und uns als Gesellschaft geht. Um dann Wege zu suchen, die ein möglichst gutes Zusammenleben ermöglichen. Aber wir tun so, als gehe es um rationale Entscheidungen, die frei von Emotionen sind. Dabei lässt sich beides nicht trennen. Wir können nur rational – also abwägend und zielorientiert – entscheiden, weil wir Vorlieben, Wünsche und Werte haben. Hinzu kommt: Jede Entscheidung hängt davon ab, wie angespannt, glücklich oder wütend wir gerade sind. Wir Menschen sind emotionale Blobs auf zwei Beinen.  

ZEIT ONLINE: Bitte was?    

Urner: Eine Art Knäuel aus wabernden Emotionen. Ein Blob, so hab ich es mal genannt, weil mir während einer Diskussion kein anderer Begriff einfiel. Mittlerweile mag ich das Wort sehr. Jedenfalls sind wir jederzeit voll mit Gefühlen, aber uns fehlt oft das Verständnis dafür.   

ZEIT ONLINE: Wenn Politikerinnen und Politiker über ein Gesetz verhandeln, wäre es aber wenig zielführend, wenn jede und jeder die ganze Zeit seine persönlichen Befindlichkeiten mit reinbringt?   

Urner: Richtig! Es geht nicht darum, dass ich in jedem Moment mitteile, dass ich hungrig bin, unglücklich verliebt oder morgen in den Urlaub fahre. Sondern es geht um die versteckten emotionalen Grundlagen unserer Entscheidungen. Darum, da genauer hinzuschauen. Warum habe ich eine gewisse Überzeugung? Warum will ich ein Tempolimit oder ein Frauenwahlrecht? Ich kann nur faktenbasiert darüber reden, wenn ich mir vorher klarmache, ich habe diese und jene Überzeugung und dieses oder jenes Gefühl zu einem Thema. Sich das klarzumachen, zeugt von emotionaler Reife. Der zweite Schritt ist die kommunikative Reife, also über diese Einstellungen und Gefühle auch zu sprechen. Und zwar ehrlich.  

ZEIT ONLINE: Fakten und Argumente sind aber schon auch wichtig im politischen Prozess.   

Urner: Natürlich. Sie sollten die Grundlage aller politischen Entscheidungen sein. Zwei und zwei sind vier. Aber sobald es komplexer wird und wir über Bewertungen und Folgen sprechen, wird es automatisch emotional. Wenn es darum geht, Windräder zu bauen oder ein Tempolimit einzuführen, dann geht es um Werte und Vorstellungen eines guten Lebens. Wie gesagt, wir können Verstand und Emotionen unmöglich voneinander trennen, weil wir nur aufgrund unserer Werte und Vorlieben entscheidungsfähig sind.


Hass ist die eskalierte Form von Angst.

Maren Urner


ZEIT ONLINE: Woher kommt der Hass im öffentlichen Diskurs?   

Urner: Beim Hass geht es oft um Angst. Angst ist häufig getrieben durch Unsicherheit. Wenn jemand anders spricht, anders aussieht, andere Musik lieber mag, schafft das Unsicherheit. Die sorgt im Gehirn für Unruhe, weil alles Unbekannte eine potenzielle Gefahr bedeuten kann. Wird Angst nicht adressiert, kann sie wachsen und in Hass münden. Ein emotional reifer Umgang wäre, zu fragen: Ich spüre Angst, warum eigentlich? Aber das fragen sich die wenigsten. Hass ist also die eskalierte Form von Angst.  

ZEIT ONLINE: Was hilft dagegen?   

Urner: Begegnungen schaffen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen. Das kann über eine einfache Frage passieren, wie: Woran hast du Freude? Und auf einmal finden wir Gemeinsamkeiten, die ein Grundvertrauen schaffen. In der Politik geht es vor allem um Vertrauen. Politische Verantwortung zu übernehmen, bedeutet also möglichst früh unterschiedliche Meinungen, Werte und Gefühlslagen zu erkennen und dann Formate für einen konstruktiven Austausch anzubieten.

ZEIT ONLINE: Welche denn zum Beispiel?   

Urner: Wir sehen in Bürgerräten, oder anderen Zusammenkünften unterschiedlichster Menschen, dass mit guter Moderation zielführende Ergebnisse möglich sind. Die Mehrheit der Teilnehmenden sagt: Wow, was für ein toller Prozess. Die Menschen haben sich gegenseitig zugehört. Sie haben ihre Aufmerksamkeit auf eine Fragestellung fokussiert. Wenn wir es schaffen, den Menschen zu vermitteln, dass wir ihre Stimmen wirklich brauchen, kommen tiefgründige, reflektierte Lösungsvorschläge heraus.

ZEIT ONLINE: Wie könnte eine Politikerin emotional reif mit wütenden Demonstrierenden umgehen, wenn die sie anschreien?   

Urner: Wenn es bereits eskaliert ist, kann sie in dem Moment wenig tun. Dann sind Hirne und Menschen im Ausnahmezustand. Was akut hilft: durchatmen und Abstand herstellen. Auch hier lohnt es sich, genauer auf die auslösenden Emotionen zu schauen. Wichtig ist: Politikerinnen und Politiker müssen auch radikal ehrlich mit ihren eigenen Emotionen umgehen. Denn auch hinter jeder ihrer Entscheidungen stehen Werte, Einstellungen und Gefühle.    

ZEIT ONLINE: Im März war Annalena Baerbock bei Caren Miosga in der Sendung, und Frau Miosga sagte zu ihr, für eine Außenministerin reagiere sie ganz schön emotional. Sollte eine Außenministerin Emotionen zeigen?   

Urner: Ja, wenn die Emotionen ehrlich sind. Aber ohne zu übertreiben oder gar mit der Absicht, zu manipulieren. Olaf Scholz schafft es mit seiner vermeintlichen Emotionslosigkeit weder Menschen mitzureißen noch zu kommunizieren, dass auch seine Entscheidungen wertegebunden sind. Wenn wir nicht wissen, welche Überzeugungen, Werte und Emotionen eine andere Person vertritt, ist das verunsichernd. Deshalb nehmen viele Olaf Scholz als unnahbar wahr. 

Welche Menschen haben in der Vergangenheit andere Menschen wirklich bewegt? Das waren emotional überzeugende Persönlichkeiten, die klar gesagt haben, was ihre Werte sind und wofür sie auf die Straße gehen. Menschen wie Martin Luther King oder Rosa Parks. Menschen handeln, wenn sie emotional berührt sind, weil Emotionen die Währung für Bedeutung sind. Fakten allein bringen niemanden dazu, das eigene Verhalten zu ändern. Wut, Trauer, Angst und Mitleid schaffen das.


Welche Menschen haben andere Menschen bewegt?
Das waren emotional überzeugende Persönlichkeiten.
Martin Luther King. Rosa Parks.

Maren Urner


ZEIT ONLINE: Wie bei der Klimakrise? Die Fakten sprechen für sich, aber viele Menschen reagieren trotzdem nicht. Liegt das daran, dass die Krise sie emotional nicht erreicht?   

Urner: Ja. Wie sehr uns etwas betrifft, wird dadurch bestimmt, wie nah es uns ist. Die Emotionsforschung lehrt uns: Je emotionaler eine Information für uns ist, desto stärker speichern wir sie ab, desto länger denken wir darüber nach

Warum haben wir überhaupt den Klimanotfall? Weil wir alle, auch Entscheidungsträgerinnen und Medien, diese emotionale Nähe nicht gespürt haben. Eisbären auf schmelzenden Schollen? Weit weg, räumlich und zeitlich. Unser Gehirn lebt vor allem im Hier und Jetzt. Bereits die nächsten Monate sind weit weg, das gilt erst recht für Jahre und Jahrzehnte. Inzwischen sprechen wir zwar über Kipppunkte im Klimasystem, aber das ist immer noch abstrakt. Solche Informationen können wir weder gut verarbeiten, noch lassen sie uns unser Verhalten ändern. Dazu kamen die Ablenkungsmanöver mächtiger Menschen und Konzerne, die noch immer große finanzielle Gewinne aus dem fossilen Zeitalter ziehen – auch das ist übrigens ein Beispiel für kurzfristiges Denken. 

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch schlagen Sie eine emotionale Reifeprüfung für Politikerinnen und Politiker vor. Wie meinen Sie das?   

Urner: Ähnlich wie in Mathe, Deutsch oder Sachkunde brauchen Menschen emotionale Bildung. Wir sollten sie im Kindergarten, in der Schule und in der Ausbildung unterbringen. Für jede politische Amtsübernahme ist mein Vorschlag, diese emotionale Reife zu überprüfen. Denn was sehen wir aktuell? Weil Menschen eben nicht emotional reif sind, führen wir absurde Debatten.   

ZEIT ONLINE: Wie kann so eine Prüfung aussehen?   

Urner: Die genaue Ausgestaltung sollten wir gesellschaftlich gemeinsam entwickeln. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die jedem Menschen einen individuellen Weg zur emotionalen Reife erlauben. Ich denke, ein wesentlicher Bestandteil könnten praktische Tests mit simulierten Gesprächen sein. Ich fände es sehr spannend, so eine Prüfung mit auszuarbeiten.

ZEIT ONLINE: Vielleicht sollten wir Psychologinnen oder Therapeuten mit an die politischen Verhandlungstische setzen.

Urner: Absolut. Wenn ich mir vorstelle, wie große Verhandlungen über Krieg und Frieden ablaufen würden, wenn dort ganz selbstverständlich Menschen säßen, die moderieren, einordnen und gegebenenfalls unterbrechen – was würden wir für so viel bessere Entscheidungen treffen! Was hätten wir in der Vergangenheit alles verhindern können! Was würde es uns allen besser gehen! 

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