Ein Blick nach Österreich zeigt dort ähnliche Probleme wie bei uns:
JULIA HERR hier
Ökologische Lebensführung allein wird das Klima nicht retten. Der moralische Druck auf den Einzelnen führt nur in die Sackgasse
Um in der Klimafrage zu erreichen, braucht es soziale Gerechtigkeit und ein anderes Wirtschaftssystem, sagt die SPÖ-Abgeordnete Julia Herr im Gastkommentar.
Sebastian Kurz..: Mit seinem Versprechen, die Klimakrise ohne "Verzicht" bekämpfen zu wollen, gibt er der Klimadebatte einen gefährlichen Drall. Mit seinem Steinzeit-Sager verspricht er etwas zu verhindern, was niemand gefordert hat. Seinem grünen Koalitionspartner weist er damit unausgesprochen die Rolle der Verbotspartei zu.
Dass sämtliche Wissenschafterinnen und Wissenschafter erklären, dass seine Aussagen Humbug sind, spielt keine Rolle. Im Gegenteil: Es passt gut in sein Drehbuch, in dem er wie der frühere US-Präsident Donald Trump die "städtischen Eliten" als Gegenpol zum Durchschnittsösterreicher konstruiert, der unter dem "Klimawahn" zu leiden hat.
Dass dieser Schmäh überhaupt funktioniert, hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Klimadebatte tatsächlich oft auf der Ebene individueller Verzichtsrhetorik geführt wird: Man solle auf die Erdbeeren im Winter verzichten, auf die Billigmode, auf Kurzstreckenflüge und lieber das Getränk im Glas statt in der Dose kaufen. Da wir stets beim Thema Konsum steckenbleiben, diskutieren wir also über Lifestyle. Nicht selten steckt einiges an Selbstüberhöhung in der Debatte. Wer regionales Biogemüse kauft (und kaufen kann!), steigt als moralische Siegerin aus.
Doch diese Sichtweise ist bei genauerer Betrachtung einfach nur die andere Seite der Kurz’schen Verharmlosungsmedaille, die der Dimension der Klimakrise nicht einmal annähernd gerecht wird. Zu Recht weist der früher in Wien und aktuell in Hamburg lehrende Soziologe Sighard Neckel darauf hin, dass individuelle, ökologische Lebensführung die Klimakrise nicht erfolgreich bekämpfen kann. Der moralische Druck auf die Bürgerinnen und Bürger ist eine Sackgasse.
Ja, natürlich macht es einen Unterschied, ob wir für kurze Strecken in der Stadt das Auto nehmen oder mit Öffis fahren oder gleich zu Fuß gehen. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob unsere Nahrungsmittel gesund und regional produziert werden oder ob sie unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt und quer um den Globus verschickt werden: nicht nur fürs Klima, sondern auch für unsere Gesundheit und Lebensqualität und für weltweite Arbeitsbedingungen. Aber all diese Fragen brauchen eine systemische Lösung, keine individuell-moralisierende.
Unsere Alltagsgewohnheiten bedürfen einer Änderung auf kollektiver, nicht auf individueller Ebene. Es ist also nicht die Zeit der sinnlosen Verzichtsdebatten, an denen sich ein paar wenige moralisch erhöhen und die Gefahr laufen, mit sozialer Verachtung all jener, die sich dem "grünen Konsum" nicht unterordnen, einherzugehen, sondern die des kollektiven Gesellschaftsumbaus.
Klimapolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Macht des großen Geldes infrage stellt, statt die Verantwortung auf den Einzelnen abzuschieben. Ein winziges Beispiel aus der aktuellen österreichischen Innenpolitik ist das unwürdige Gezerre um das Plastikpfand: Österreichs Regierung könnte längst für die Verwendung nachhaltiger Verpackungen in der Getränkeindustrie sorgen, statt an die Verantwortung der Konsumentinnen und Konsumenten zu appellieren. Dass sie es nicht tut und wichtige Entscheidungen weiter verschiebt, zeigt auch im Kleinen, welche Macht das große Geld im System Kurz hat. So gibt es zwar immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten, die nachhaltige Produkte und Verpackungen einfordern, die es sogar auf den Markt schaffen: Es bleibt jedoch beim höherpreisigen Sortiment mit Bio-Bobo-Vermarktung.
Nicht zufällig hat die Bewegung rund um Bernie Sanders in den USA ein radikales Programm für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen mit einem radikalen Programm für Klimapolitik verbunden. Denn diese Fragen gehören zusammen, und nur wenn der Kampf gegen die Klimakrise auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit ist, wird er Erfolg haben......
Um unsere Gesellschaft Richtung Ressourcenschonung zu bewegen, brauchen wir aber einen gesamtwirtschaftlichen Plan, einen "Green New Deal", der unsere Klimaziele mit der Schaffung von guter Arbeit für alle verbindet; der eine Kreislaufwirtschaft mit regionaler Produktion statt CO2-belasteter Importe forciert; es braucht ein Ende der industriellen Landwirtschaft und Viehzucht, für die der Regenwald brennt, und ein Ende der industriellen Fischerei, die unsere Ozeane regelrecht zerstört und dadurch unseren größten CO2-Speicher attackiert.
Statt Scheindiskussionen in der Regierung zu führen, mit denen die Grünen und die ÖVP ihre jeweilige Klientel motivieren wollen, und statt individueller Konsumkritik brauchen wir einen kollektiven, staatlich vorangetriebenen Transformationsprozess. Nur wenn wir klimapolitische Maßnahmen mit einem Kampf für soziale Gerechtigkeit und mit einer grundlegenden Änderung unseres Wirtschaftssystems verbinden, haben wir eine reale Chance: einerseits um die enormen CO2-Einsparziele zu erreichen und andererseits um Mehrheiten für eine Politik zu schaffen, die Klimapolitik nicht in das Gewand eines moralischen Vorwurfs kleidet, sondern als Versprechen für ein gutes Leben für alle versteht. (Julia Herr, 31.7.2021)
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