Freitag, 1. April 2022

„Demokratie ist nicht für Harmonie gemacht“

 17.02.2022  hier  im Südkurier

Herr Nassehi, eigentlich wird derzeit jeden Tag wegen der Corona-Politik von der Spaltung der Gesellschaft geredet. In Ihrem Buch, das zur Corona-Pandemie passt wie wenige andere, gehen Sie von dem Befund aus, dass die Spaltung der Gesellschaft der Normalfall ist. Wie kommen Sie dazu?

Die Frage ist, wovon reden wir, wenn wir von Spaltung reden?
In meinem Buch geht es um gesellschaftliche Teilbereiche
wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Medien und Kultur.
In der aktuellen Debatte geht es um soziale Gruppen.
Vereinfacht wird gesagt, dass es auf der einen Seite die Befürworter der Corona-Maßnahmen gibt und auf der anderen die Kritiker. Das ist natürlich eine sehr vereinfachte Darstellung. Schon die zahlenmäßige Verteilung beider Gruppen rechtfertigt es nicht, von einer gespaltenen Gesellschaft zu sprechen, wie wir das zum Beispiel in den Vereinigten Staaten beobachten können. Ich habe heute Morgen gelesen, dass die Corona-Todesrate bei den Republikanern zum Teil fünfmal so hoch ist wie bei den Anhängern der Demokraten, weil diese sich nicht an die Corona-Regeln halten. Das ist tatsächlich eine gesellschaftliche Spaltung bzw. Polarisierung.

Was wir bei uns erleben, ist keine Spaltung der Gesellschaft, aber schon eine zum Teil aggressive Form der öffentlichen Diskussion darüber, was sich in den Querdenker-Geschichten zeigt.
Was mich interessiert, ist eigentlich nicht so sehr die Spaltung in der sozialen Dimension, also der Blick auf verschiedene Gruppen, sondern das Leben in einer Gesellschaft, die ja nicht aus einem Guss ist. Sie ist vor allem dadurch geprägt, dass wir sehr unterschiedliche Logiken darin haben. Das sind politische, wissenschaftliche, ökonomische, rechtliche und mediale Logiken. Diese Logiken widersprechen sich und es ist schwer, sie in ein schlüssiges Konzept zu bringen.

Wenn es das Virus also medizinisch erfordert, alles dichtzumachen, widerspricht das der wirtschaftlichen Logik.

Genau, die Pandemie hat diese Widersprüche offengelegt.

Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 gab es aber doch den viel beschworenen Zusammenhalt und Konsens, die Gesellschaft aus einem Guss. Ist das die Ausnahme zur Regel?

Ja, das würde ich so zusammenfassen: Das war wirklich ein Ausnahmezustand für eine moderne Gesellschaft, dass man wirklich aus einem Guss handeln konnte. Und ich würde das gar nicht Zusammenhalt nennen, sondern einen ganz klaren Vorrang nicht nur des politischen Systems, sondern noch stärker der Exekutive. Und es haben sich tatsächlich alle auch so gut wie ohne Protest untergeordnet. Das hat man ungefähr vier Wochen durchgehalten, wenn ich mich recht erinnere. In dieser Zeit war auch die Solidarität sehr groß. Alle haben für die Älteren eingekauft, für Schwestern und Pfleger wurde geklatscht. Ich habe das damals schon gesagt, dass das der absolute Ausnahmezustand ist. Es gab einige Fachkollegen, die meinten, man kann ja doch durchregieren. Wäre das nicht ein tolles Modell für den Klimawandel oder Ähnliches?

Ist es nicht?

Das war eine Ausnahmesituation, die sich dadurch ausgezeichnet hat, dass es natürlich Angst gab und totale Unsicherheit. Es gibt eigentlich nur eine parallele Situation, in der so was auch geht. Das ist der Krieg. Im Krieg kann man womöglich auch fast alles dem Politischen unterordnen, aber das auch nur für eine bestimmte Zeit lang.

Ihr Buch trägt den Titel „Unbehagen“. Es ist das treffende Wort für das Leben in unserer Zeit. Es transportiert die Furcht vor dem unsichtbaren Virus, aber auch das Gefühl des Entzugs von Alltag und Freiheit. Ist bei Ihnen das Unbehagen an einer zerbröselten Gesellschaft gemeint?

Das ist keineswegs nur ein abstraktes Unbehagen, das ist ja eines, das wir in so einer modernen Gesellschaft eigentlich immer haben. Dass eben nicht alles zueinander passt, es viele Widerstände gibt. Im Gegenzug muss man sich nur den Preis vorstellen, wenn es eine Stelle oder Institution gäbe, die das alles zentral organisieren und regeln könnte. Das wäre natürlich das Ende einer liberalen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die tatsächlich mit der Demokratie aufhören müsste. Die Demokratie ist nicht für die Harmonie gemacht, sondern für das Gegenteil. Und jetzt haben wir so eine Stresssituation und stellen fest, wie schwierig es ist, konsistente Lösungen hinzukriegen.

Gesellschaften haben ein hohes Beharrungsvermögen. Denkt man das weiter, dann müssen sich die Ampel-Parteien viel einfallen lassen, um neben der Pandemie den Klimawandel zu bekämpfen.

Wir sind unglaublich geübt darin, auf weißen Blättern neue Welten zu entwerfen, auf denen genau steht, wer was wann wie machen sollte, oder wie die Dinge laufen sollen. Und dann stellt man komischerweise fest, dass das nicht funktioniert, dass die Gesellschaft träger ist, als wir denken.
Die Strukturen ermöglichen es ja überhaupt, eine kalkulierbare Welt zu haben. Die Welt ist schon volatil genug.

Der Wandel darf also nicht wehtun?

Das ist mir jetzt ein bisschen zu journalistisch. Aber Sie haben einen Punkt getroffen, denn es wird mir immer wieder vorgeworfen, ein konservativer Bremser zu sein. Was ich meine, ist Folgendes. Damit sich Leute klimafreundlich verhalten und zum Beispiel ihr Auto stehen lassen, brauchen sie Alternativen. Und zwar müssen die nicht nur technisch angemessen sein, sondern auch ästhetisch angemessen sein. Sie müssen vielleicht ein Prestige mitproduzieren. Sie müssen gar nicht als Verzicht, sondern als Gewinn erscheinen. Dann ändern wir auch unser Verhalten. Das wissen wir aus der Verhaltenstheorie und aus der Sozialpsychologie relativ genau.

Haben wir eigentlich das richtige Bild von Gesellschaft vor Augen, wenn wir über Politik reden? Sie beschreiben eine Gesellschaft der Widersprüche, deren Teilbereiche sich reiben, doch tatsächlich scheint mir die Vision einer geeinten Gesellschaft aus einem Guss mit dem guten König an der Spitze, noch immer das Idealbild zu sein.

Was hieße denn Handeln aus einem Guss? Das heißt, den Widerspruch zu eliminieren oder zumindest zu neutralisieren. Und ich wünsche mir deshalb, dass wir nicht aus einem Guss sind. Dass wir so eine differenzierte Gesellschaft sind, hat auch einen zivilisatorischen Wert. Wir leben doch gerade in einer Weltgesellschaft, in der es den Antagonismus gibt zwischen den eher liberalen, differenzierten westlichen Modellen und den autoritären Modellen wie in China.

Fragen: Christian Grimm

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