Krautreporter hier James Dyke mit Robert Watson und Wolfgang Knorr 10. Juni 2021
Jetzt
verbrennen, später bezahlen: So stellen sich viele das CO2-Budget vor, das uns
noch bleibt. Diese Utopie hat uns aber kostbare Zeit im Kampf gegen den
Klimawandel gekostet.
Manchmal kommt die Erkenntnis blitzschnell. Verschwommene Umrisse nehmen Gestalt an, plötzlich ergibt alles einen Sinn. Aber dem voraus geht oft ein viel langsamerer Abwägungsprozess: Im Unterbewusstsein wachsen die Zweifel, ob die Dinge zusammenpassen. Bis etwas klick macht und stimmt – oder vielleicht zerbricht.
Zusammengenommen
haben wir drei Autoren dieses Artikels wohl mehr als 80 Jahre damit verbracht,
über den Klimawandel nachzudenken. Warum also hat es so lange gedauert, bis wir
uns zu den offensichtlichen Gefahren des Konzepts der Klimaneutralität –
Netto-Null genannt – zu Wort melden? Zu unserer Verteidigung: Die Grundannahme
von Netto-Null ist einfach, täuschend einfach – und wir geben zu, dass sie
selbst uns in die Irre geführt hat.
Der
Klimawandel ist eine direkte Folge davon, dass sich zu viel Treibhausgase, in
erster Linie Kohlendioxid (CO2), in der Atmosphäre befinden. Daraus folgt: Wir
müssen aufhören, mehr davon auszustoßen, und sogar CO2 entfernen.
Diese
CO2-Entfernung ist zentraler Bestandteil des aktuellen Plans, eine Katastrophe
auf der Erde zu verhindern. Für die Umsetzung gibt es viele Vorschläge, von der
massenhaften Anpflanzung von Bäumen bis hin zu Hightech-Geräten, die
Kohlendioxid aus der Luft absaugen.
Derzeit
herrscht Einigkeit darüber, dass wir die globale Erwärmung schneller stoppen
können, wenn wir Kohlendioxid mit bestimmten Techniken entfernen und
gleichzeitig die Nutzung von Brennstoffen wie Kohle, Erdöl und Gas reduzieren.
So werden wir hoffentlich um die Mitte dieses Jahrhunderts die „Netto-Null“,
also die Klimaneutralität erreichen. Das ist der Punkt, an dem alle
verbleibenden Emissionen von Treibhausgasen durch Technologien ausgeglichen
werden, die diese aus der Atmosphäre entfernen.
Theoretisch
ist das eine tolle Idee. Leider trägt sie in der Praxis dazu bei, den Glauben
an eine technologische Lösung aufrechtzuerhalten. Die Dringlichkeit nimmt ab,
die Emissionen jetzt einzudämmen.
Wir
glauben, dass die Idee der Netto-Null-Emissionen einen rücksichtslosen,
leichtfertigen Ansatz zugelassen hat nach dem Motto: „Jetzt verbrennen, später
bezahlen.“ Mit der Folge, dass der CO2-Ausstoß weiter angestiegen ist. Diese
Idee hat auch die Zerstörung der Natur durch ständig steigende Abholzung
beschleunigt und das Risiko erhöht, dass diese Zerstörung in der Zukunft weitergeht.
Um
zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die Menschheit ihre Zivilisation
auf der Basis von Versprechen künftiger Lösungen aufs Spiel gesetzt hat, müssen
wir in die späten 1980er Jahre zurückkehren. Damals war auf internationaler
Bühne erstmals vom Klimawandel die Rede.
Im
Juni 1988 hatte James Hansen als Leiter des Goddard-Instituts für
Weltraumstudien der NASA eine prestigeträchtige Position. Doch außerhalb der
akademischen Welt war der US-Amerikaner weitgehend unbekannt.
Am
Nachmittag des 23. Juni war er auf dem besten Weg, der berühmteste
Klimaforscher der Welt zu werden. Denn in seiner Aussage vor dem US-Kongress
lieferte er Beweise, dass sich das Erdklima erwärmt und der Mensch die
Hauptursache dafür ist: „Der Treibhauseffekt ist nachgewiesen und er verändert
jetzt unser Klima.“
Wenn
wir damals nach Hansens Aussage gehandelt hätten, wären wir in der Lage
gewesen, unsere Wirtschaftsweise so umzustellen, dass pro Jahr etwa zwei
Prozent weniger Kohlendioxid freigesetzt werden. Dann hätten wir etwa eine
Zwei-Drittel-Chance gehabt, die Erwärmung auf nicht mehr als 1,5 Grad Celsius
zu begrenzen. Es wäre eine riesige Herausforderung gewesen, aber die
Hauptaufgabe hätte lediglich darin bestanden, die zunehmende Nutzung fossiler
Brennstoffe zu stoppen und gleichzeitig die künftigen Emissionen fair zu
verteilen.
Vier
Jahre später gab es einen Hoffnungsschimmer, dass dies möglich sein würde.
Auf
dem Erdgipfel in Rio 1992 einigten sich alle Nationen darauf, die
Konzentrationen von Treibhausgasen zu stabilisieren, um sicherzustellen, dass
sie keine gefährlichen Auswirkungen auf das Klima haben. Der Kyoto-Gipfel 1997
versuchte, dieses Ziel in die Tat umzusetzen. Doch im Laufe der Jahre wurde die
Aufgabe immer schwieriger, da immer mehr fossile Brennstoffe genutzt wurden.
Etwa
zu dieser Zeit entwickelten Forscher die ersten Computermodelle, die die
Treibhausgasemissionen mit den Auswirkungen auf verschiedene
Wirtschaftssektoren verbanden. Diese hybriden Klima- und Wirtschaftsmodelle
ermöglichten es den Modellierern, wirtschaftliche Aktivitäten mit dem Klima zu
verknüpfen. Sie untersuchten zum Beispiel, wie Veränderungen von Investitionen
und von Technologie zu Veränderungen der Treibhausgasemissionen führen könnten.
Diese
Modelle schienen wie ein Wunder: Man konnte Maßnahmen am Computerbildschirm
ausprobieren, bevor man sie umsetzte, was der Menschheit kostspielige
Experimente ersparte. Sie entwickelten sich schnell zu einer wichtigen
Orientierungshilfe für die Klimapolitik. Diese Vorrangstellung behielten sie
bis zum heutigen Tag bei.
Leider
haben sie auch die Notwendigkeit für tiefgreifendes kritisches Denken
beseitigt. Solche Modelle stellen die Gesellschaft als ein Netz von
idealtypischen, emotionslosen Käufern und Verkäufern dar und ignorieren damit
komplexe soziale und politische Realitäten oder sogar die Auswirkungen des
Klimawandels selbst. Sie gehen davon aus, dass marktbasierte Ansätze immer
funktionieren werden. Folglich beschränkten sich die Diskussionen über
politische Maßnahmen auf das, was für die Politiker am bequemsten war: Sie
änderten schrittweise Gesetze und Steuern.
Ungefähr
zu der Zeit, als die Modelle entwickelt wurden, gab es Bestrebungen, die USA zu
Klimaschutzmaßnahmen zu bewegen, indem man ihnen erlaubte, die
Kohlenstoffsenken der Wälder ihres Landes anzurechnen. Das Argument der USA
war: Bei guter Bewirtschaftung der Wälder sind sie in der Lage, eine große
Menge an Kohlenstoff in Bäumen und Böden zu speichern. Diese Menge sollte von
ihren CO2-Einsparzielen abgezogen werden. Letztendlich setzten die USA ihren
Willen weitgehend durch. Ironischerweise waren die Zugeständnisse alle
vergeblich, da der US-Senat das entsprechende Abkommen nie ratifiziert hat.
Wer
eine Zukunft mit mehr Bäumen postuliert, könnte die Verbrennung von Kohle, Öl
und Gas in der Gegenwart ausgleichen. Da Modelle leicht Zahlen ausspucken
konnten, die den Kohlendioxidgehalt so weit sinken ließen, wie man wollte,
konnten immer ausgefeiltere Szenarien erforscht werden. Gleichzeitig nahm die
wahrgenommene Dringlichkeit ab, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu
reduzieren. Durch die Einbeziehung von Kohlenstoffsenken in klimaökonomische
Modelle wurde die Büchse der Pandora geöffnet.
An
dieser Stelle entstand die heutige Netto-Null-Politik.
„Es war für mich ein echter Schock zu erkennen, dass ich persönlich zur Netto-Null-Falle beigetragen haben muss. Im Jahr 2008 veröffentlichte ich einige Berechnungen, die ich eigens durchgeführt hatte, um die Notwendigkeit von Netto-Null auf lange Sicht zu zeigen. Ich stellte fest, dass alle verbleibenden Kohlendioxid-Emissionen als Folge menschlicher Aktivitäten durch eine künstliche Senke ausgeglichen werden müssten. Aber da keiner der Co-Autoren unserer Studie ein Experte war, haben wir nicht berücksichtigt, wie viele dieser künstlichen Senken nötig wären, um unser Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten oder ob es überhaupt technisch möglich wäre, sie zu schaffen.“
Wolfgang Knorr, leitender Wissenschaftler für Physische Geografie und Ökosystem-Wissenschaften an der Universität Lund, Schweden
Mitte
der 1990er Jahre lag das Hauptaugenmerk jedoch auf der Steigerung der
Energieeffizienz und der Umstellung auf andere Energieträger (zum Beispiel der
Umstieg von Kohle auf Gas) sowie auf dem Potenzial der Atomenergie, große
Mengen an kohlenstofffreiem Strom zu liefern. Solche Innovationen würden
hoffentlich den Anstieg der Emissionen fossiler Brennstoffe schnell umkehren.
Doch um die Jahrtausendwende zeigte sich: Diese Hoffnungen waren vergeblich. Angesichts der Kernannahme eines stufenweisen Wandels wurde es für ökonomische Klimamodelle immer schwieriger, gangbare Wege zu finden, um einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden.
Als Reaktion darauf begannen die Modellierer, immer
mehr Beispiele für die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid
einzubeziehen. CO2 sollte aus Kohlekraftwerken aufgefangen und dann tief unter
der Erde für unbestimmte Zeit gespeichert werden.
Dass
dies grundsätzlich möglich ist, zeigte eine Reihe von Projekten seit den 1970er
Jahren. Dabei wurde komprimiertes Kohlendioxid von fossilem Gas getrennt und dann
in den Untergrund gepresst. Ziel dieser „Enhanced Oil Recovery“-Programme war
eigentlich, Gase über Bohrlöcher einzuspeisen, damit das Öl zu den Bohrtürmen
gedrückt wird und so mehr gefördert werden kann – Öl, das später verbrannt
wird, wodurch noch mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt.
Die
Weiterentwicklung „Carbon Capture and Storage“ (CCS) bot den Dreh, das
Kohlendioxid nicht mehr zur Förderung von Öl zu verwenden, sondern im
Untergrund zu belassen und es aus der Atmosphäre zu entfernen. Diese angeblich
bahnbrechende Technologie sollte klimafreundliche Kohle und damit die weitere
Nutzung dieses fossilen Brennstoffs ermöglichen. Doch lange bevor die Welt
Zeuge eines solchen Vorhabens wurde, war der hypothetische Prozess bereits in
klimaökonomische Modelle eingeflossen. Am Ende bot die bloße Aussicht auf
Kohlenstoffabscheidung und -speicherung den politischen Entscheidungsträgern
einen Ausweg, die dringend benötigte Verminderung des Treibhausgasausstoßes zu
verschieben.
Der
Aufstieg der Netto-Null
(oder: 2009 sollte Biomasse als „Senke“ das Klima
retten)
Als
sich die internationale Klimagemeinschaft 2009 in Kopenhagen traf, war klar:
Kohlenstoffabscheidung und -speicherung würde aus mehreren Gründen nicht
ausreichen. Niemand hatte Anlagen zur Abscheidung und Speicherung von
Kohlendioxid in einem Kohlekraftwerk in Betrieb. Es war auch nicht abzusehen,
dass diese Technologie in naher Zukunft irgendeinen Einfluss auf die steigenden
Emissionen aus der zunehmenden Nutzung von Kohle haben würde.
Das
größte Hindernis für die Umsetzung waren im Wesentlichen die Kosten.
Der
Anreiz, riesige Mengen an Kohle zu verbrennen, liegt in der Erzeugung von
relativ billigem Strom. Die Nachrüstung der bestehenden Kraftwerke mit
Kohlenstoffabscheidern, der Aufbau der Infrastruktur für den Transport des
abgetrennten Kohlendioxids und die Entwicklung geeigneter geologischer
Lagerstätten erforderten riesige Geldsummen. Folglich ist die einzige Anwendung
der Kohlenstoffabscheidung in der Praxis damals – und heute –, das abgetrennte
Gas in verbesserten Programmen zur Ölgewinnung zu verwenden. Abgesehen von
einem einzigen Demonstrationsprojekt hat es nie eine Abscheidung von
Kohlendioxid aus dem Schornstein eines Kohlekraftwerks mit anschließender
unterirdischer Lagerung gegeben.
Genauso
wichtig ist, dass 2009 immer deutlicher wurde, dass es nicht einmal möglich
sein würde, die von den politischen Entscheidungsträgern geforderten
schrittweisen Reduktionen zu erreichen. Noch nicht einmal, wenn die
Kohlendioxidabscheidung und -speicherung funktionieren würden. Die Menge an
CO2, die jedes Jahr in die Atmosphäre freigesetzt wurde, belegte, dass der
Menschheit zusehends die Zeit davonlief.
Da
die Hoffnungen auf eine Lösung der Klimakrise wieder schwanden, war ein
weiteres Wundermittel gefragt. Es musste eine Technologie her, die den Anstieg
der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre nicht nur verlangsamt, sondern
sogar umkehrt. Folglich griffen die klimaökonomischen Modellierer – die bereits
in der Lage waren, pflanzliche Kohlenstoffsenken und geologische
Kohlenstoffspeicher in ihre Modelle einzubeziehen – zunehmend auf die „Lösung“
zurück, diese beiden Auswege aus der CO2-Misere zu kombinieren.
So
wurde die Bioenergie-Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Bioenergy Carbon
Capture and Storage, BECCS) schnell zur neuen Rettungstechnologie. Indem man
„austauschbare“ Biomasse wie Holz, Feldfrüchte und landwirtschaftliche Abfälle
anstelle von Kohle in Kraftwerken verbrennt und dann das Kohlendioxid aus dem
Schornstein des Kraftwerks abfängt und unterirdisch speichert, könnte BECCS
Strom erzeugen und gleichzeitig Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen. Denn
wenn Biomasse wie ein Baum wächst, saugt sie Kohlendioxid aus der Atmosphäre.
Durch das Pflanzen von Bäumen und anderen Biomassepflanzen und die Speicherung
des Kohlendioxids, das bei ihrer Verbrennung freigesetzt wird, könnte mehr
Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt, als eingebracht werden.
Mit
dieser neuen Lösung in der Hand gruppierte sich die internationale Gemeinschaft
nach wiederholten Misserfolgen neu, um einen weiteren Versuch zu starten,
unsere gefährlichen Eingriffe in das Klima einzudämmen. Die Bühne war bereitet
für die entscheidende Klimakonferenz 2015 in Paris.
Im
Jahr 2015 kommen Zweifel an den Fantasiewelten auf
Als
der Generalsekretär die 21. Konferenz der Vereinten Nationen über den
Klimawandel beendete, ertönte Jubel. Menschen sprangen auf, Fremde umarmten
sich, Tränen quollen aus vom Schlafmangel blutunterlaufenen Augen.
Die
Emotionen vom 13. Dezember 2015 waren nicht nur für die Kameras bestimmt.
Nach
wochenlangen, zermürbenden Verhandlungen auf höchster Ebene war in Paris
endlich ein Durchbruch erzielt worden. Wider Erwarten hatte sich die
internationale Gemeinschaft nach Jahrzehnten der Fehlstarts und Misserfolge
endlich darauf geeinigt, das Nötige zu tun, um die globale Erwärmung auf
deutlich unter 2 Grad Celsius, am besten auf höchstens 1,5 Grad Celsius
gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
Das
Pariser Abkommen war ein überwältigender Sieg für diejenigen, die am meisten
vom Klimawandel bedroht sind. Zwar trifft der globale Temperaturanstieg auch
zunehmend die reichen Industrienationen. Aber es sind die tief liegenden
Inselstaaten wie die Malediven und die Marshallinseln, die wegen des steigenden
Meeresspiegels unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sind.
Doch
wer ein wenig tiefer gräbt, könnte eine weitere Emotion finden, die am 13.
Dezember die Delegierten umtrieb. Zweifel. Es fällt uns schwer, einen einzigen
Klimawissenschaftler zu nennen, der das Pariser Abkommen zu diesem Zeitpunkt
für umsetzbar hielt. Inzwischen haben uns einige Wissenschaftler gesagt, das
Pariser Abkommen sei „natürlich wichtig für die Klimagerechtigkeit, aber nicht
umsetzbar“ und „ein kompletter Schock, niemand hielt eine Begrenzung auf 1,5
Grad Celsius für möglich.“ Anstatt die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu
begrenzen, kam ein hochrangiger Wissenschaftler, der am IPCC beteiligt war, zu
dem Schluss, dass wir bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf über 3 Grad Celsius
zusteuern.
Anstatt
uns unseren Zweifeln zu stellen, beschlossen wir Wissenschaftler, immer
aufwändigere Fantasiewelten zu konstruieren, in denen wir sicher wären. Der
Preis für unsere Feigheit: Wir müssen den Mund halten über die immer größer
werdende Absurdität der geforderten Kohlendioxid-Entfernung im Weltmaßstab.
„Sich auf ungetestete Mechanismen zur Beseitigung von Kohlendioxid zu verlassen, um die Ziele von Paris zu erreichen, obwohl wir die Technologien haben, um heute von fossilen Brennstoffen wegzukommen, ist schlichtweg falsch und leichtsinnig.“
Robert Watson, emeritierter Professor für Umweltwissenschaften, Universität von East Anglia, Großbritannien
Im
Mittelpunkt stand BECCS, weil zu diesem Zeitpunkt nur so klimaökonomische Modellierer
Szenarien finden konnten, die mit dem Pariser Abkommen vereinbar waren. Denn
anstatt sich zu stabilisieren, waren die globalen Kohlendioxid-Emissionen seit
1992 um etwa 60 Prozent gestiegen.
Leider
war BECCS, wie alle bisherigen Lösungen, zu schön, um wahr zu sein.
In
den vom Weltklimarat erstellten Szenarien mit einer 66-prozentigen oder
besseren Chance, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen,
müsste BECCS jedes Jahr 12 Milliarden Tonnen Kohlendioxid entfernen. BECCS in
diesem Umfang würde massive Anpflanzungsprogramme für Bäume und
Bioenergiepflanzen erfordern.
Sicher,
die Erde braucht mehr Bäume. Seit Beginn der Landwirtschaft vor etwa 13.000
Jahren hat die Menschheit etwa drei Billionen Bäume gefällt. Aber anstatt den
Ökosystemen die Möglichkeit zu geben, sich von den menschlichen Einflüssen zu
erholen und Wälder nachwachsen zu lassen, bezieht sich BECCS meist auf
spezielle Plantagen im industriellen Maßstab, die regelmäßig für Bioenergie
geerntet werden, anstatt den Kohlenstoff in Wäldern in Stämmen, Wurzeln und
Böden zu speichern.
Derzeit
sind die beiden effizientesten Biokraftstoffe Zuckerrohr für Bioethanol und
Palmöl für Biodiesel – beide werden in den Tropen angebaut. Endlose Reihen
solcher schnell wachsenden Monokulturen von Bäumen oder anderen
Bioenergiepflanzen, die in kurzen Abständen geerntet werden, zerstören die
Artenvielfalt.
Man
schätzt, dass BECCS zwischen 0,4 und 1,2 Milliarden Hektar Land benötigen
würde. Das sind 25 bis 80 Prozent aller derzeit bewirtschafteten Flächen. Wie
wollen wir das erreichen, wenn wir gleichzeitig 8 bis 10 Milliarden Menschen in
der Mitte des Jahrhunderts ernähren wollen? Wie, ohne die einheimische
Vegetation und Artenvielfalt zu zerstören?
Der
Anbau von Milliarden von Bäumen würde riesige Mengen an Wasser verbrauchen –
teilweise an Orten, an denen die Menschen bereits durstig sind. Eine zunehmende
Walddecke in höheren Breitengraden kann mehr Erwärmung bedeuten, weil die
Landoberfläche dunkler wird, wenn Grasland oder Felder durch Wälder ersetzt
werden. Dieses dunklere Land absorbiert mehr Sonnenenergie, die Temperaturen
steigen. Und wer den Schwerpunkt auf die Entwicklung riesiger Plantagen in
ärmeren tropischen Ländern legt, riskiert, dass Menschen von ihrem Land
vertrieben werden.
„Der Vorläufer von Netto-Null wurde und wird immer noch Kompensation genannt. Einst war ich voller Hoffnung, dass Kohlenstoff-Kompensationsprogramme das Kunststück vollbringen könnten, intakte Waldökosysteme vor der fast sicheren Zerstörung durch wirtschaftliche Entwicklung zu retten. Doch heute erschrecken mich die Folgen von Netto-Null fast mehr als die der Klimaerwärmung.“
Wolfgang Knorr
Außerdem
wird oft vergessen, dass die Bäume und das Land im Allgemeinen bereits große
Mengen an Kohlenstoff aufnehmen und speichern – die sogenannte natürliche
terrestrische Kohlenstoffsenke. Eingriffe in dieses System könnten sowohl
diesen Vorgang stören als auch zu doppelter Bilanzierung führen.
Weil
diese Auswirkungen immer besser verstanden werden, hat die Aufbruchstimmung
rund um BECCS abgenommen.
Neue
Trugbilder ersetzen fehlgeschlagene technische Lösungen
Als
die Erkenntnis dämmerte, wie schwierig die Umsetzung von Paris angesichts der
ständig steigenden Emissionen und des begrenzten Potenzials von BECCS sein
würde, entstand in Politikerkreisen ein neues Schlagwort: das
„Überschreitungsszenario“. Danach dürfen die Temperaturen kurzfristig über 1,5
Grad Celsius steigen, müssen dann aber bis zum Ende des Jahrhunderts durch eine
Reihe von Maßnahmen zur Kohlendioxid-Entfernung gesenkt werden. Dies heißt,
dass Netto-Null eigentlich Kohlenstoff-negativ bedeutet. Innerhalb weniger
Jahrzehnte müssen wir unsere Zivilisation von einer Wirtschaftsweise, die
derzeit jährlich 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre pumpt, auf
eine umstellen, die netto 10 Milliarden Tonnen entfernt.
Massenhaft
Bäume anzupflanzen für Bioenergie oder als Versuch des Ausgleichs, war die
jüngste Bemühung, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu drosseln. Aber der
immer größer werdende Bedarf an Kohlenstoffentfernung verlangt nach mehr.
Deshalb hat sich die Idee der direkten Luftabscheidung durchgesetzt, die jetzt
von einigen als die vielversprechendste Technologie angepriesen wird, die es
gibt. Sie ist generell schonender für die Ökosysteme, weil sie deutlich weniger
Land für den Betrieb benötigt als BECCS, einschließlich des Landes, das für die
Energieversorgung mit Wind- oder Sonnenkollektoren benötigt wird.
Leider
wird weithin angenommen, dass die direkte Luftabscheidung aufgrund ihrer
exorbitanten Kosten und ihres Energiebedarfs, falls sie jemals in großem
Maßstab eingesetzt werden kann, nicht mit BECCS konkurrieren kann, trotz dessen
unersättlichen Appetits auf erstklassige landwirtschaftliche Flächen.
Es
sollte nun klar werden, wohin die Reise geht. Wenn die Trugbilder einer
magischen technischen Lösung verschwinden, taucht eine andere, ebenso
untaugliche Alternative auf, um ihren Platz einzunehmen. Die nächste ist
bereits am Horizont zu sehen – und sie ist sogar noch grauenhafter. Sobald wir
erkennen, dass Netto-Null nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht erreicht
werden kann, wird wahrscheinlich Geo-Engineering – der absichtliche und
großflächige Eingriff in das Klimasystem der Erde – beschworen werden als
Lösung, um den Temperaturanstieg zu begrenzen.
Eine
der am meisten erforschten Geoengineering-Ideen ist die Beeinflussung der
Sonneneinstrahlung – die Injektion von Millionen Tonnen Schwefelsäure in die
Stratosphäre, die einen Teil der Sonnenenergie von der Erde abstrahlen soll. Es
ist eine verrückte Idee, aber einige Akademiker und Politiker meinen es
todernst, trotz erheblicher Risiken. Die US National Academies of Sciences zum
Beispiel haben empfohlen, in den nächsten fünf Jahren bis zu 200 Millionen
US-Dollar bereitzustellen, um zu erforschen, wie Geo-Engineering eingesetzt und
reguliert werden kann. Die Finanzierung und Forschung in diesem Bereich wird
sicherlich deutlich zunehmen.
„Es ist erstaunlich, wie die andauernde Abwesenheit einer glaubwürdigen Technologie zur Kohlenstoffentfernung die Netto-Null-Politik nicht zu beeinflussen scheint. Mittlerweile habe ich erkannt, dass wir alle einer Form von Verarschung aufgesessen sind.“
James Dyke, Senior Lecturer für Globale Systeme, Universität von Exeter, Großbritannien
Schwierige
Wahrheiten (oder: Netto-Null-Politik taugt nicht zur Begrenzung der
Erderwärmung)
Im
Prinzip gibt es nichts Falsches oder Gefährliches an Vorschlägen zur
Kohlenstoffentfernung. In der Tat kann es sich ungeheuer aufregend anfühlen,
Möglichkeiten zur Reduzierung der Kohlendioxidkonzentration zu entwickeln. Du
setzt Wissenschaft und Technik ein, um die Menschheit vor einer Katastrophe zu
bewahren. Was man tut, ist wichtig. Es gibt auch die Erkenntnis, dass die
Entfernung von CO2 notwendig sein wird, um einen Teil der Emissionen aus
Sektoren wie der Luftfahrt und der Zementproduktion aufzufangen. Deshalb wird
es eine kleine Rolle für eine Reihe von verschiedenen Ansätzen zur
Kohlendioxidentfernung geben.
Problematisch
wird es erst, wenn davon ausgegangen wird, dass diese Vorschläge in großem
Maßstab eingesetzt werden können. Damit wird praktisch ein Blankoscheck für die
weitere Verbrennung fossiler Brennstoffe und die zunehmende Zerstörung von
Lebensräumen ausgestellt.
Die
Technologien zur Kohlenstoffreduzierung und das Geoengineering sollten als eine
Art Schleudersitz gesehen werden, der die Menschheit vor raschen und
katastrophalen Umweltveränderungen bewahren könnte. Genau wie ein Schleudersitz
in einem Düsenflugzeug sollte er nur als allerletztes Mittel eingesetzt werden.
Politik und Wirtschaft scheinen es jedoch durchaus ernst zu meinen mit dem
Einsatz hochspekulativer Technologien als Mittel, um unsere Zivilisation auf
einen nachhaltigen Weg zu bringen. Tatsächlich handelt es sich dabei um nichts
mehr als Märchen.
Der
einzige Weg, die Menschheit zu schützen, ist die sofortige und nachhaltige
radikale Senkung der Treibhausgasemissionen auf sozial gerechte Weise.
Gewöhnlich
sehen sich Akademiker als Diener der Gesellschaft. In der Tat sind viele als
Beamte angestellt. Diejenigen, die an der Schnittstelle von Klimawissenschaften
und Politik arbeiten, kämpfen verzweifelt mit einem zunehmend schwierigen
Problem, dem Klimawandel. In ähnlicher Weise arbeiten auch diejenigen mit den
besten Absichten, die sich für das Netto-Null-Ziel einsetzen.
Die
Tragödie ist, dass sie mit ihren kollektiven Bemühungen nie in der Lage waren,
einen klimapolitischen Prozess wirksam zu hinterfragen, der nur die
Untersuchung von wenigen Szenarien zulässt.
Den
meisten Akademikern ist es ausgesprochen unangenehm, die unsichtbare Linie zu
überschreiten, die ihren Tagesjob von umfassenderen sozialen und politischen
Belangen trennt. Sie befürchten, dass es ihre Unabhängigkeit gefährden könnte,
wenn sie als Befürworter oder Gegner bestimmter Themen gesehen werden.
Wissenschaftler gelten als eine der vertrauenswürdigsten Berufsgruppen.
Vertrauen ist sehr schwer aufzubauen und leicht zu zerstören.
Aber
es gibt noch eine andere unsichtbare Linie, die die Wahrung der akademischen
Integrität von der Selbstzensur trennt. Als Wissenschaftlern wird uns
beigebracht, skeptisch zu sein, Hypothesen gründlich zu testen und zu
hinterfragen. Aber wenn es um die vielleicht größte Herausforderung für die
Menschheit geht, zeigen wir oft einen gefährlichen Mangel an kritischer
Analyse.
Im
privaten Bereich äußern Wissenschaftler erhebliche Skepsis gegenüber dem
Pariser Abkommen, BECCS, Kompensationsmaßnahmen, Geoengineering und Netto-Null.
Von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, gehen wir in der Öffentlichkeit
ruhig unserer Arbeit nach, beantragen Fördermittel, veröffentlichen
Publikationen und lehren. Der Weg zu einem katastrophalen Klimawandel ist mit
Machbarkeitsstudien und Folgenabschätzungen gepflastert.
Anstatt
den Ernst unserer Lage anzuerkennen, beteiligen wir uns weiter an der Utopie
von Netto-Null. Was werden wir tun, wenn die Realität uns einholt? Was werden
wir unseren Freunden und Angehörigen über das Versäumnis sagen, uns jetzt zu
Wort zu melden?
Es
ist an der Zeit, unsere Ängste auszusprechen und gegenüber der Allgemeinheit
ehrlich zu sein. Die aktuelle Netto-Null-Politik wird die Erwärmung nicht auf
1,5 Grad Celsius begrenzen, weil sie nie dazu gedacht war. Sie wurde und wird
immer noch von der Notwendigkeit angetrieben, Business as usual zu schützen,
nicht das Klima. Wenn wir die Menschen schützen wollen, dann müssen wir die
Kohlenstoffemissionen jetzt stark und nachhaltig reduzieren. Das ist der ganz
einfache Härtetest, der auf alle klimapolitischen Maßnahmen angewendet werden muss.
Für Wunschdenken ist es zu spät.
James
Dyke ist Senior Lecturer für Globale Systeme an der Universität Exeter in
Großbritannien.
Robert
Watson ist emeritierter Professor für Umweltwissenschaften an der Universität
von East Anglia in Großbritannien.
Wolfgang
Knorr ist leitender Wissenschaftler für Physische Geografie und
Ökosystem-Wissenschaften an der Universität Lund in Schweden.
Ihren
Artikel veröffentlichten sie auf Englisch bei The Conversation. Hier könnt
ihr den Originalartikel
lesen.
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