Herr Nassehi, Sie beschäftigen sich damit, wie moderne Gesellschaften auf Herausforderungen reagieren. Was haben Corona, Krieg und die Klimakrise gemeinsam?

Alle drei Herausforderungen katapultieren uns aus einer routinisierten Ruhe heraus. Und alle drei sind sowohl existenzielle, als auch kollektive Herausforderungen. Damit können moderne Gesellschaften nur schwer umgehen. Wir haben das in der Pandemie erlebt, in der es so viele unterschiedliche Probleme zu lösen galt und Politik gerade deshalb oft widersprüchlich reagierte. Wir sehen es beim Kampf gegen den Klimawandel, bei dem das richtige Verhalten nicht mit einer einzigen Entscheidung herbeizuführen ist. Und wir erleben das bei den Dilemmata im UkraineKrieg, die durch die große weltweite politische, ökonomische und nicht zuletzt mediale Vernetzung entstehen. Einfachstes Beispiel: Politisch und moralisch motivierte Sanktionen wirken durch starke, womöglich unkontrollierbare ökonomische, technische und militärische Nebenwirkungen auf uns zurück.

Sie gehen in Ihrer Forschung der Frage nach, warum wir über bestimmte Gefahren viel wissen, aber trotzdem nicht entsprechend reagieren. Auf Russland übertragen, hieße das: Man hat Putins Entwicklung gesehen, aber trotzdem die Abhängigkeit von russischem Gas nicht verringert.

In Nicht-Krisenzeiten gewöhnen wir uns daran, dass die Dinge funktionieren. Die Gewohnheiten einer trägen Gesellschaft sind unglaublich wirkmächtig und werden stets unterschätzt. Natürlich konnte man sehen, dass Putin ein aggressiver Machtpolitiker ist, dem es um nationalistische, geradezu faschistoide Ziele geht. Genug Leute haben gewarnt. Aber man konnte es ausblenden, weil die Dinge ganz gut funktioniert haben. Gesellschaftliche Routinen neigen nicht dazu, Praktiken fallen zu lassen, die sich im Alltag bewährt haben.

Sie sagen auch: „Die Nichtaufklärbarkeit der modernen Gesellschaft für unangenehme Gefahren ist stark.“

Ja. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Wir wissen, dass wir nicht so viel Fleisch essen, genug Sport machen und regelmäßig zur Krebsvorsorge gehen sollten. Und obwohl wir das wissen, tun wir es oft nicht. Das mag sich banal anhören, aber es entspricht der Logik des Ordnungsaufbaus in Systemen unterschiedlichen Typs. Wir haben uns an Routinen gewöhnt und halten an ihnen fest, Abweichungen brauchen mehr Energie als die Imitation des Bestehenden. Und das liegt interessanterweise nicht an fehlendem abrufbarem Wissen.

Lapidar hieß es dieser Tage in einer US-Zeitung „Erde auf dem Weg zur Unbewohnbarkeit – Seite 3“. Haben wir uns auch an die drohende Katastrophe in Sachen Klima bereits gewöhnt?

Das ist eine schöne Beobachtung: Auch der Weltuntergang hat kaum Informationswert. Die Berichte darüber sind Routine geworden. Das ist ein Schutzmechanismus psychischer und sozialer Systeme. Stellen Sie sich vor, man würde permanent mit einem Gefühl größter Bedrohung leben. Das würde alltägliche Routinen in Frage stellen. Wir haben das in der Pandemie gemerkt: Da wurde 2020 mit einem harten Lockdown reagiert. Aber schon in dem Moment, als die Zahlen runtergingen und die Sonne schien, war das aus den Köpfen verschwunden. Experten sagten: Wir müssen uns auf den Herbst vorbereiten. Aber das wollte und konnte in der Situation niemand wirklich hören. Politisch konnte man nicht mit der Gefahrenabwehr in fünf Monaten punkten – fast eine Parabel auf bevorstehende Krisen wie den Klimawandel. Und so waren dann alle trotzdem überrascht, als im Herbst die Zahlen wieder anstiegen.

Politik kann also bei ihren Entscheidungen nie nur die reine Problemlösung im Blick haben, weil die Regierung versucht, gleichzeitig ihre Wiederwahl zu sichern.

So ernüchternd es klingt: Einen Politiker dafür zu kritisieren, dass er den politischen Prozess im Blick hat, wäre naiv. Er ist auf Massenloyalität angewiesen und muss neben Sachproblemen auch politische Probleme lösen. Sie werden auch von keinem Unternehmer verlangen können, in Dinge zu investieren, die wirtschaftlich nicht funktionieren. Sie werden eine Zeitung nicht mit Dingen füllen, die Sie zwar selbst für wichtig halten, aber für die sich kein Leser interessiert. Wichtig ist, das nicht als Vorwurf zu formulieren, denn letztlich kommt man daran kaum vorbei.

Ein Grund, warum es uns als Gesellschaft nicht immer gelingt, unsere Probleme zu lösen, sind also diese Zielkonflikte?

Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Instanzen haben Zielkonflikte miteinander. Am Anfang der Pandemie war das, was medizinisch richtig war, ökonomisch falsch. Der Zielkonflikt wurde von der Politik aufgelöst durch halbherzige Maßnahmen und massive staatliche Unterstützungsleistungen, die die Ausfälle der Wirtschaft kompensieren sollten.

Wie lassen sich Probleme denn trotz dieser Zielkonflikte besser lösen als bisher?

Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Geschichte geben: Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden die unterschiedlichen westlichen Wohlfahrtsstaatsmodelle. Auch hier ging es um so etwas wie Zielkonflikte: einen volatilen Kapitalismus mit planbaren Lebensverhältnissen, der Möglichkeit für sozialen Aufstieg und einem demokratischen, pluralistischen, politischen System zu verbinden. Es waren einerseits starke Interessenskämpfe, andererseits aber auch Versuche, Zielkonflikte durch ein neues Arrangement von rechtsfesten Institutionen zu bändigen, indem politische Programme und ökonomische Akteure wie Gewerkschaften und Unternehmen um einen Ausgleich stritten. Heute stellt sich die Frage strukturell ähnlich: wie in einer hoch leistungsfähigen Wirtschaft der CO2-Ausstoß gesenkt werden kann, trotzdem Wohlstand verteilt und Lebensformen stabil gehalten werden können. Man darf sich das nicht als friedliches Hauptseminar vorstellen – hier geht es um divergierende Interessen und funktionierende Praktiken.

Akteure verschiedener Disziplinen zusammenbringen – das wurde in den Corona-Expertenräten ja versucht.

Ja, ich saß auch in verschiedenen. Dort fiel dann auf, dass es noch nicht einmal eine gemeinsame Beschreibung der Pandemie aus einem Guss gibt. Für jemanden, der das Virus erforscht, ist sie etwas anderes als für jemanden, der ein Unternehmen führt oder für jemanden, der mit zwei Kindern in einer viel zu kleinen Wohnung festsitzt. Auch Wissenschaftler können immer nur die Perspektive vertreten, die sie selbst erforschen. Virologen reden anders als Psychologen, Ökonomen oder Familienforscher. Im Nachgang der Pandemie ist jetzt die Frage: Wie können die unterschiedlichen Akteure sprechfähig miteinander werden, um Politikberatung auf eine bessere Basis zu stellen? An dem prinzipiellen Problem der Differenz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Logiken ändert das nichts, aber vielleicht lässt sich deren Konflikt selbst als wissenschaftliche Herausforderung behandeln.

Welche Rolle spielen Schocks? Etwa die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal, die Bilder aus dem italienischen Bergamo in der Pandemie oder das Massaker von Butscha in der Ukraine. Können Sie nicht dafür sorgen, dass sich plötzlich alle einig sind und die Politik dadurch schneller handeln kann?

Ja, Schocks produzieren die Möglichkeit für kollektives Handeln. Aber das Zeitfenster schließt sich stets sehr schnell wieder. Olaf Scholz hat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende angekündigt. Davon ist schon jetzt nicht mehr viel übrig. Wir haben in den letzten Jahren viele Schocks erlebt, aber sie bringen uns nicht dauerhaft aus der Ruhe. Nehmen Sie die sogenannte Flüchtlingskrise 2015: Weder hat das unsere Gesellschaft aus den Angeln gehoben noch wurde das Sterben im Mittelmeer beendet. Auch jetzt, nach dem Schock von Butscha, sind es die Routinen der Tagesordnung, die unsere Aufmerksamkeitsökonomie bestimmen. Wir sind schnell ablenkbar.

Ist das schlimm?

Moralisch schon, aber, wie gesagt, es ist ein Schutzmechanismus. Schocks wären keine Schocks, wenn sie nicht schnell vorbei wären – danach ordnen sich die Dinge wieder. Sonst wären Systeme nicht lebensfähig. Ein unrealistisches Bild von der Welt ist unter therapeutischen Gesichtspunkten sehr heilsam. Und um es deutlich zu sagen: das sind Beschreibungen, keine normativen Forderungen oder Programme. Und nachträgliche Erkenntnis muss sich der Tatsache stellen, dass Fehleinschätzungen vor allem auf Beobachtungsroutinen beruhten. Wer heute behauptet, Putin habe ihn getäuscht, täuscht sich selbst. Man hat es nicht gesehen, weil es nicht im eigenen Horizont des Möglichen auftauchte. Man täuscht sich meistens selbst.

Trotzdem dürfte der Krieg in der Ukraine ja für Veränderungen sorgen, die wir auch als Chance begreifen können.

Ich gebrauche gern die psychiatrische Metapher von einem lichten Moment, den wir gerade erleben, vom „lucidum intervallum“. Ich habe die Hoffnung, dass jetzt unterschiedlichen Akteuren auffällt: Die Umstellung auf erneuerbare Energien ist aus Industrieperspektive keine Störung, sondern eine Bedingung des Überlebens. Ökonomie und Ökologie sind auf einmal keine Gegensätze, sondern gleiche Interessen. Man kann jetzt auch feststellen, dass Ausgaben für Landesverteidigung nicht nur eine lästige Anforderung sind, sondern eine existenzielle Frage. Nachhaltig gelernt wird selten freiwillig.

Die Fragen stellte Maria Fiedler.

Armin Nassehi (62)  ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der Herausgeber der Kulturzeitschrift „Kursbuch“.