Sonntag, 24. April 2022

„Was wir hier machen, ist höchst gefährlich“

Schwäbische Zeitung  hier  Von Michaela Miller

Flächenversiegelung auf Teufel komm raus 

In Fronreute wurde über das Thema nachhaltiges Wohnen und Bauen diskutiert

Die Gemeinde Fronreute ist Spitzenreiter in der Baustatistik des Landkreises.
Als Veranstalter luden BUND und Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) gemeinsam zu einer Diskussion mit Roland Roth von der Wetterwarte Süd, Gerhard Schiele als Experte für sozialen Wohnungsbau und Christa Gnann, Leiterin des Projektes „Aus Alt mach 2 - und mehr“, in Bodnegg ein. Im Dorfgemeinschaftshaus Blitzenreute wurde nach kurzen Vorträgen der Fachleute eine Möglichkeit zum Meinungsaustausch geboten und Anregungen zum zukunftsgerechten Bauen und Umbauen geteilt
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Einige Folgen der rasanten Bauentwicklung nannte Bernadette Schwarz vom KAB-Ortsverband: hoher Flächenverbrauch und damit einhergehend eine Explosion der Grundstückspreise; es werde inzwischen auf problematischem Grund gebaut, der zu erwartende Wasserverbrauch bei so viel Zuzug sei schwierig, und wer integriere die vielen neuen Mitbürger? Selbst Bürgermeister Oliver Spieß, ein Befürworter der neu ausgewiesenen Baugebiete in Fronreute, gab an anderer Stelle zu: Die Fläche geht schlicht aus, man müsse infolgedessen auf weniger geeignete Flächen zurückgreifen.

Roland Roth machte seinem Unmut erstmal Luft: Seit 40 Jahren halte er Vorträge und warne vor den Auswirkungen des Klimawandels, doch „es ist gar nichts geschehen“. Glücklich schätzen könnten sich die Fronreuter Bürger über die Tatsache, dass sie in einem „jungfräulichen Gebiet“ leben, dass bis vor 15 000 Jahren von mächtigen Gletschern bedeckt gewesen sei und wunderschöne Seen und Landschaften zu bieten habe. Dennoch: Im mittleren Schussental sei eine Erwärmung um beinahe zwei Grad seit 1980 zu beobachten. Der „Klimawandel lasse grüßen“, mit einer Zunahme der Wetterextreme: Hagelschlag, orkanartige Stürme, sintflutartige Regenfälle, verursacht durch eine grundlegende Veränderung des Wettergefüges.

Während die Region bis ins Voralpenland hinein früher für ihr wechselhaftes Wetter berühmt und berüchtigt gewesen sei, habe man es jetzt mit langen Tief- und Hochdruckphasen zu tun. Auf lange Phasen der Trockenheit folgen heftige Regenfälle. Der Boden kann jedoch so schnell die Feuchtigkeit nicht aufnehmen, der wertvolle Niederschlag fließe oberirdisch ab und führe zu Hochwasser im Schussenbecken und in Ablaufrinnen. Roth wünscht sich mehr „ökologisches Handeln“, Denken reiche eben nicht.

Gewerbe könnte sich auch auf Industriebrachen im Osten des Landes ansiedeln, damit sei der zunehmenden Überbevölkerung in unserer Gegend entgegengewirkt. „Was wir hier machen, ist höchst gefährlich“, warnte Roth.

Gerhard Schiele, viele Jahre Geschäftsführer der Stiftung Liebenau und Aufsichtsratsmitglied des Bau- und Sparvereins, beschrieb die aktuelle Lage aus einem anderen Blickwinkel. Schon 1970 habe der „Club of Rome“ auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen. In den vergangenen Jahrzehnten sei es trotzdem zu vielen städtebaulichen Fehlplanungen gekommen. Es sei inzwischen klar, dass jedes Quartier oder Wohngebiet Strukturen brauche für Kontakte, Nachbarschaftshilfe und sozialen Austausch. Die Menschen wünschen sich vielfältiges Leben anstatt „Monokultur“. Als solche bezeichnet Schiele Wohngebiete, die von Einwohnern einer Generation bewohnt wird.

Lebensräume für Jung und Alt, Mehrgenerationenhäuser wie das Gänsbühl in Ravensburg kämen den Wünschen der Menschen nach sozialem Leben und Beteiligung viel eher entgegen. Der Altersdurchschnitt der Bewohner betrage dort 48 Jahre, in einer Einrichtung für betreutes Wohnen läge dieser bei über 80 Jahren. In der Galgenhalde in Ravensburg sei beispielsweise ein Wohnungsbestand entsprechend umgestaltet worden, für 3000 Einwohner sei ein Quartier mit höherer Lebensqualität geschaffen worden. Das „Denken in sozialen Lebensräumen“ sei die Zukunft, Quartiersmanagerinnen und Manager seien Bestandteil der Konzepte, um bedarfsgerechte soziale und bezahlbare Angebote zu ermöglichen.

Christa Gnann aus Bodnegg beschrieb das Projekt „Aus ALT mach 2 - und mehr“, das seit 2020 im Gemeindeverwaltungsverband Gullen von ihr betreut wird. Ausgangslage: Junge Familien suchen Haus mit Garten, ältere haben viel Platz, nachdem die Kinder ausgezogen sind und hätten gern weniger Arbeit mit Putzen und Instandhaltung. Der Wohnort soll gleich bleiben, schließlich sind das Lebensumfeld und die sozialen Kontakte seit Jahrzehnten gewachsen, so Gnann. Bei dem Projekt „Aus Alt mach 2 - oder mehr“ komme auf Wunsch ein Architekt ins Haus und mache nach einem Beratungsgespräch Vorschläge, wie umgebaut werden könnte, damit beispielsweise aus einer großen Wohneinheit zwei Einheiten mit separatem Eingang gemacht werden können.

Als absoluten Jackpot bezeichnete Gnann den Fall, wenn die Eltern einen kleineren Wohnungsteil beziehen und eines der Kinder mit Familie ins große Haus einzieht. So sei die gegenseitige Unterstützung gewährleistet und die Freude aneinander groß. Gnann appellierte an die anwesenden Gemeinderäte und Bürgermeister Spieß, man könne durchaus auch als Gemeinde steuern, indem Bebauungspläne entsprechend flexibel gestaltet werden und Häuslebauer beraten werden, damit in Neubauten an entsprechende Flexibilität für zukünftige Bedürfnisse gedacht werde. „Es muss nicht jede Generation ihr eigenes Haus bauen, das nachher zunehmend leer steht“, so Gnann.

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