Mittwoch, 26. Mai 2021

Wolfram Frommlet schreibt einen offenen Brief - Danke und Ja! De-Eskalation ist geboten

Ein Offener Brief zur Eskalation um die Klimaaktivisten 25. Mai 2021


Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht 
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Ich möchte mit diesen Zeilen nicht zur weiteren Eskalation um die Baumbesetzer beitragen, sondern zur De-Eskalation. Ich bin bereit, mich - mit langer professioneller Erfahrung - moderierend einzubringen. Ich habe seit meiner Rückkehr nach Ravensburg in teils öffentlichen Kulturprojekten sehr positiv mit Organisationen wie dem Wifo, dem Stadtmarketing, dem MHQ und anderen zusammen gearbeitet und neige nicht zur einem „Feindbild Verwaltung“. Ich habe die Möglichkeit, in der „Schwäbischen Zeitung“, kritischen und soliden Journalismus zu machen und weise die Angriffe gegen diese Zeitung als Teil der Eskalation entschieden zurück. Ich habe den Polizeipräsidenten Stürmer als besonnenen Vertreter der Polizei erlebt. 


Ich befürworte die Baumbesetzungen, auch die im Hambacher Forst und im Dannenröder Forst als regionale Mikrokosmen innerhalb der globalen Plünderung und Zerstörung unseres Planeten. Dennoch erlaube ich mir Kritik an Verwaltung, wie Baumbesetzern. Ich empfinde die gegenwärtige Eskalation als beängstigend und habe Fragen, auf die ich keine Antworten habe.

Ein Robin Halle bezeichnet in dem Anzeigenblatt „Südfinder“, der - dieses Blatt wird in haltloser Form zusammengemischt, und hat mit der Redaktion der „Schwäbischen Zeitung“ nichts zu tun -  als „pubertierend“, fordert die Erstattung der Kosten für die Einsätze durch die Eltern. Da dieser Kommentar nichts mit Journalismus zu tun hat, möchte ich darauf nicht weiter eingehen, aber er ist Teil einer Diffamierung.

Herr Mohr, vom Kieskonglomerat "Mohr+Meichel", ruft in einem Beitrag des DLF nach dem Staat und bezeichnet die Baumbesetzungen als „Anarchie“.

Ein Herr Sitta, der weder im Gemeinderat noch im Kreistag sitzt, kanzelt in einem Bericht der "Schwäbischen Zeitung" angeblich im Namen der CDU, und der CDU-Bürgermeister im Kreis, die gesamte Bewegung junger Menschen im Altdorfer Wald pauschal ab. 


Herr Franke
vom Regionalverband behauptet in der Öffentlichkeit, die Baumbesetzer hätten erheblichen Schaden an Dach am Gebäude im Hirschgraben angerichtet. Dafür gibt es keine Beweise, keine Fotos eines Dachdeckers. Aber sie werden subtil kriminalisiert.

Herr Stürmer (Polizeipräsident) rechtfertigt in der "Schwäbischen Zeitung" vom 25. Mai den Einsatz der Polizei und verweist auf die juristische Seite von Demonstrationen in einer Demokratie. Das ist aus seiner Sicht nachvollziehbar. Dennoch frage ich mich, warum es einer Hundertschaft aus Göppingen bedurfte, beim ersten Großeinsatz (29.12.2020) einen (1) !! Baumbesetzer und einen (1) Professor der FH Weingarten, der nicht mal auf dem Baum war, zu „beseitigen“? 

Bei der jüngsten Besetzung, bei der ein Seil über die Schussenstraße gespannt wurde (was ich durchaus kritisch sehe) kam ein SEK in beängstigender Montur zum Einsatz.
SEKs werden in der Regel gerufen, wenn besonders gewaltbereite oder möglicherweise bewaffnete Straftäter festgenommen werden sollen oder bei Razzien, wie etwa gegen hoch-kriminelle Organisationen wie die Ndragheta. Wofür bedurfte es dieses Einsatzes, der diese jungen Menschen in ein hoch-kriminelles Umfeld bringt? Die jungen Aktivisten wären gewiss ohne den Einsatz der Feuerwehr und des THW dazu zu bewegen gewesen, ihre Seilaktionen über der Schussenstraße zu beenden. Aber es entstehen Kosten, um potentiell die Eltern auch finanziell zu ruinieren. 

Am erschreckendsten empfinde ich die Reaktion von Frau Heike Engelhardt, Bundestagskandidatin der SPD. Die Sprache der Baumbesetzer erinnere sie an die RAF. Die Rote Armee Fraktion! Eine Mörder-, eine Terrorbande. Deren Sprache hatte ein Ziel - wie jede Sprache: Gewalt, Terror, Mord. Dies ist ungeheuerlich und Frau Engelhardt distanziert sich bis heute nicht davon. Ein solcher Vergleich scheint niemanden in der SPD-Fraktion zu empören. Frau Engelhardt rechtfertigt sich damit, es sei im Umfeld der Aktivisten bei der Polizei in Friedrichshafen von „Politischen Gefangenen“ die Rede gewesen und dies sei untragbar für eine Demokratie. Dies hätte man in Gelassenheit durchaus sagen können. Aber ohne Bezug zur RAF. Frau Engelhardt zitiert ein Graffito in der Nähe der Baumcamps im Altdorfer Wald, „Die Bagger werden brennen“. Es gibt nicht den geringsten Beweis, dass dieses Grafitto von einem Samuel Bosch oder anderen Baumbesetzern stammt. Nach meinen Erkundigungen unter den Baumbesetzern war Frau Engelhardt nie vor Ort, hat kein Wort mit den jungen Aktivisten gewechselt. Ich war mehrfach im Altdorfer Wald und habe eine völlig gewaltfreie Sprache erlebt, ein brüderlich-schwesterliches Verhalten unter den Jugendlichen, die ein einmaliges Naturreservat vor der Abholzung bewahren wollen, wofür sie aus vielen angrenzenden Gemeinden und von diversen Bürgermeistern unterstützt werden. Dennoch kein Wort der Entschuldigung. Frau Engelhardt rechtfertigt nach wie vor ihren ungeheuerlichen Vergleich gewaltloser, um IHRE Zukunft (nicht meine, nicht die von Frau Engelhardt) zutiefst besorgte Klimaaktivisten. 

Ich bin in den 1970er Jahren aus der SPD ausgetreten, als sie auf Kanzlerebene für die Stationierung der "Cruise Missiles" und für die Notstandsgesetze, und für die Berufsverbote stimmte. Dennoch hat sich diese Partei geprägt - Willy Brandt, Erhard Eppler, Dieter Lattmann, Klaus Thüsing, Herta Däumler-Gmelin. Und Rudolf Bindig ist für mich einer der entschiedensten und kompetentesten Kritiker des geplanten Regionalplans. Ich habe keine Aversionen gegen die SPD. Im Gegenteil. Und deshalb empfinde ich die Bezüge einer SPD-Bundestagskandidatin zu einer kriminellen Terrororganisation als unerträglich.

Mir kommen da ganz andere Erinnerungen und Bezüge:
Am 9. Mai 2021 wäre Daniel Berrigan 100 Jahre alt geworden. Er wurde einer der bekanntesten, der erste radikale Priester der Welt. Gegen Vietnam, gegen den Irrsinn der amerikanischen Hochrüstung. Er ging nicht vor jedem Protest zum Ordnungsamt und fragte, ob das legal sei (die einzige Diskussion momentan auf den „etablierten“ Ebenen in Ravensburg.) Einen Monat nach der Ermordung Martin Luther Kings drangen Barrigan und sieben weitere Aktivisten in ein  Rekrutierungsbüro in Cantonsville ein, nahmen 300 Einberufsungsakten mit und übergossen sie mit selbstgemachtem Napalm. Ich babe in Vietnam die Bilder gesehen von brennenden Napalm-Opfern.

Am 24. Mai 2021 wurde einer der großartigsten Musiker und Poeten der letzten 560 Jahre - 80 Jahre alt - Bob Dylan. Hunderttausende kamen zu seinen Konzerten, die ein Protest waren gegen den Vietnamkrieg und ein früher Protest der amerikanischen Jugend gegen den irrwitzigen „American way of life“.

Im Jahr 2012 drangen die 84-jährige Nonne Megan Rice, der 65-jährige
Vietnamkriegs-Veteran Michael Walli und der 58-jährige Anstreicher Gregory Boertje-Obed mit Kerzen und biblischen Slogans in das Uran-Anreicherungsgelände „Y-12“ in Oak Ridge (Tennessee) ein, um gegen die Atomrüstung der USA zu protestieren. Sie fragten um keine Erlaubnis beim Ordnungsamt und ob legal sei. Sie hatten eine Botschaft, die heute bei den Aktivisten im Hambacher Forst, im Dannenröder Forst, im Altdorfer Wald und neuerdings in einem Wald bei Langenargen weiterlebt: es geht um den Krieg gegen die Natur, um Rohstoffe (für unsere High-Tech-Rüstung auch am Bodensee), um den Raubbau an den Wäldern im Süden für Agrobusiness.

„Schöpfung bewahren“ heißt der Widerstand dagegen seit Jahren auf Kirchentagen. Und ich wünschte, die Kirchen in Ravensburg, die Joel-Jugendkirche insbesondere, stellten sich an die Seite der mutigen, aufrichtigen Baumbesetzer.

Am Pfingstsamstag demonstrierte ein Vater mit einem Pappkarton auf dem
Marienplatz gegen die Kriminalisierung der Baumbesetzer. Es brauchte fünf Polizisten, ihn zu behindern.

Wolfram Frommlet

entnommen aus dem Ravensburger Spectrum  hier

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