Hermann Ott kennt wie kein Zweiter die Rechtslage beim deutschen Klimaschutz und glaubt deshalb, dass die nächste Bundesregierung aktiv werden wird wie keine zuvor. Einfach, weil sie das gesetzlich muss
Er ist ein Wanderer zwischen den Welten: Als Wissenschaftler am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie hat Hermann Ott geforscht und die Politik beraten, bevor er selbst Politiker wurde und im Bundestag als klimapolitischer Sprecher der Bündnisgrünen für mehr Klimaschutz kämpfte. Danach baute er die deutsche Sektion der Umweltrechtsorganisation ClientEarth auf, die Regierungen, Ministerien oder Konzerne wegen zu wenig Klimaschutz verklagt.
Heute ist Ott Honorarprofessor, Rechtsanwalt und Berater der norwegischen Regenwaldstiftung. Gerade ist er aus Oslo zurück, wo er an den Planungen zur COP30 teilgenommen hat, dem nächsten Klimagipfel im November in Brasilien.
der Freitag: Herr Ott, Sie behaupten, der nächste Bundeskanzler wird der erste Klimakanzler, der diesen Namen zu Recht trägt. Wie kommen Sie zu dieser Annahme?
Hermann Ott: Er muss. Die Gesetzeslage ist eindeutig: Die Bundesregierung muss die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 65 Prozent unter das Niveau von 1990 senken.
Nehmen wir an, Friedrich Merz von der Union wird nächster Kanzler. Ausgerechnet er soll Klimakanzler werden?
Vor allem Merz! Im Wahlkampf plakatiert er, dass er „Recht und Ordnung“ wieder durchsetzen will. Nun, da ist in der Klimapolitik einiges zu tun. Außerdem ist es seine Chance, in die Geschichte einzugehen: Was die „Klimakanzlerin“ Merkel und der selbst ernannte „Klimakanzler“ Scholz nicht hingekriegt haben, könnte ihm gelingen. „Only Nixon could go to China“, sagt man in der Politikwissenschaft: eine Metapher dafür, dass gerade frühere Gegner politischer Reformen starke Veränderungen glaubhaft durchsetzen können. Nur die CDU konnte beispielsweise unter einer Kanzlerin Merkel die Wehrpflicht abschaffen.
Merz lässt sich von der AfD unter die Arme greifen und übernimmt selbst rechtspopulistische Positionen: Klimaschutz scheint da äußerst unwahrscheinlich.
Auf den ersten Blick wirkt es so,
als sei Merz verloren für den Klimaschutz.
Falls er überhaupt noch Kanzler wird ...
Aber selbst ein Friedrich Merz kommt an der Rechtslage und
am Bundesverfassungsgericht nicht vorbei.
Ein Kanzler Merz wäre nicht der erste Kanzler, der ein Klimaziel reißt. Gerhard Schröder (SPD) hätte bis 2005 die Emissionen um 25 Prozent senken müssen. Geschafft hat seine Regierung aber nur 21 Prozent.
Schröders Ziel war nicht verbindlich, es stammte aus dem Jahr 1990 von der Regierung Kohl.
Jetzt gibt es das Klimaschutzgesetz und das Reduktionsziel besitzt Gesetzeskraft.
Kanzler Merz könnte das Gesetz ändern! Das hat seine Vorgängerregierung auch gemacht.
Das wäre jetzt nicht mehr so einfach. Grundlage des jetzigen Klimaziels ist ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2021. Das oberste deutsche Gericht urteilte, dass durch das Klimaschutzgesetz die Rechte zukünftiger Generationen verletzt würden. Deshalb änderte damals die CDU-geführte Regierung von Angela Merkel das Gesetz und hob unter anderem das Klimaziel von minus 55 auf minus 65 Prozent. Ich sehe nicht, wie ein Kanzler Merz aus der Nummer herauskommen könnte.
Indem er zum Beispiel nicht liefert? Die Ampel hat beim Klimaschutz in vielen Sektoren auch nicht geliefert, beispielsweise im Verkehrs- oder im Gebäudesektor. Eine wahrscheinliche Option?
Auch das glaube ich nicht! Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg verurteilte die Bundesregierung im Herbst 2023, sogenannte Sofortprogramme in diesen Sektoren auf den Weg zu bringen, um den Fehlbetrag nachzuholen. Daraufhin haben FDP, SPD und Grüne das Klimagesetz so geändert, dass diese „Sektorenziele“ abgeschafft wurden ...
... zeigt das nicht, dass ein Kanzler Merz eben doch ohne Klimaschutz davonkommt?
Nein. Erstens hat das geänderte Gesetz immer noch dasselbe Ziel: minus 65 Prozent. Die Ampelkoalitionäre haben nur den Weg dorthin geändert. Zweitens – ein Indiz – lag dieses Gesetz monatelang beim Bundespräsidenten zur Unterschrift, die Rechtsabteilung hatte offenbar ernsthafte Zweifel. Aber dann hat Frank-Walter Steinmeier in letzter Sekunde doch unterschrieben – als drittens feststand, dass die Umweltbewegung gegen das neue Gesetz wiederum vor das Bundesverfassungsgericht ziehen wird.
Wann wird verhandelt?
Das Gericht erklärte im vergangenen Jahr, die Verfassungsbeschwerde „zeitnah“ zu behandeln, spätestens im Frühjahr 2025. Könnte also sein, dass der Richterspruch mitten in die Koalitionsverhandlungen platzt. Noch ein Grund, warum der nächste Kanzler nicht um den Klimaschutz herumkommt.
Sie gehen davon aus, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg hat?
Die vorherige Entscheidung stammt vom März 2021. Das war vor dem Hochwasser an Ahr und Erft und vor den verheerenden Bränden in Los Angeles und anderen Katastrophen der letzten Jahre. Die zunehmenden Wetterextreme zeigen uns, wie stark die Klimaerhitzung unser Leben bereits verändert. Warum also sollten die Verfassungsrichter hinter ihr Urteil von 2021 zurückfallen?
Können Gerichte also bessere Politik machen?
Ein klares Jein: Auf der einen Seite „ja“, weil Gerichte einem anderen Wertesystem unterliegen. Die juristische Logik unterliegt eben nicht der Verwertungslogik unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems.
Sondern?
Es folgt einer anderen Logik. Ein Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 ganz nebenbei eines der – vermeintlichen – Hauptargumente gegen den Klimaschutz zunichtegemacht: Deutschland sei ja nur für zwei Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich, für das Weltklima sei also egal, ob wir reduzieren oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht urteilte damals: Völlig egal, wie groß der Beitrag ist, Rechtspflicht ist Rechtspflicht. Also muss die Regierung ihrer Pflicht zum Klimaschutz nachkommen. Damit hat das Gericht eine jahrzehntelange Diskussion einfach weggewischt, die aus der ökonomischen Ecke kam. Gerichte können eher von ökonomischen Erwägungen absehen als das politische Establishment.
Was ist der Nein-Teil vom Jein?
Den haben wir bei der Entwicklung zum Klimagesetz gesehen: Die Ampel hat sich einfach ein neues Gesetz geschrieben, um unbeliebte Urteile zu umgehen. Oder sie ignoriert das Urteil, wie möglicherweise in der Schweiz: Dort hat ein Mitglied der Regierung angekündigt, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht anzuerkennen. Gerichte können Entwicklungen beschleunigen, sie können Entwicklung in Gang setzen. Aber sie können die politische Ebene nicht ersetzen: Gerichte können eben keine Gesetze erlassen.
Das Schweizer Urteil ist den wenigsten geläufig. Worum ging es?
„Seniorinnen“ hatten aufgrund altersspezifischer Gefahren für mehr Klimaschutz geklagt. Schweizer Gerichte hatten die Frauen abblitzen lassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber verurteilte die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention zu mehr Klimaschutz. Aber nicht immer haben Zivilrechtsklagen Erfolg. Umweltorganisation hatten zum Beispiel deutsche Autobauer verklagt: Sie sollten nach 2030 keine Pkw mit Verbrennungsmotor mehr verkaufen dürfen. Doch die Gerichte sahen sich nicht zuständig.
Neben dem Zivilrecht gibt es auch das Verwaltungsrecht. Wie eignet sich das für Klimaklagen?
Das Verwaltungsrecht ist klassisches Umweltrecht: Die Kläger gehen gegen das Verletzen umweltrechtlicher Vorschriften vor. Man kann das am Klimaschutzgesetz der Bundesregierung illustrieren: 2018 hatten Bauern von der Insel Pellworm geklagt, die wegen des steigenden Meeresspiegels ihre Existenz gefährdet sahen. Das war vor dem Inkrafttreten des Klimaschutzgesetzes Ende 2019. 2024 aber, als das Klimaschutzgesetz galt, urteilte dasselbe Gericht anders. Die Bundesregierung muss nun das Klimaschutzprogramm 2023 um erforderliche Maßnahmen ergänzen, so die Richter.
Zivilrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht – welche Möglichkeiten für Klimaklagen gibt es noch?
Das Strafrecht. Beispielsweise haben indigene Gruppen in Brasilien den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagt. Ihr Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ein „Ökozid“?
Ja, das wird so genannt, nach dem englischen „ecocide“. Dadurch, dass Bolsonaro die Strafverfolgung der illegalen Abholzung ausgesetzt hatte, sei ihre Lebensgrundlage verschwunden. Dies sei vergleichbar mit anderen Aggressionen, die bereits zu Verurteilungen nach Völkerrecht geführt haben. Ich habe selbst eine Organisation dabei unterstützt, Bolsonaro vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Allerdings ist der derzeit mit seiner Arbeit zur Ukraine und zu Palästina sehr gut ausgelastet und noch nicht dazu gekommen, sich mit den Beschwerden zu befassen.
Es heißt, der Klimawandel sei das größte Systemversagen des Kapitalismus. Mit den Klimaklagen bewegen sich die Akteure aber innerhalb des Systems. Können Klimaklagen also das System ändern?
Das ist die Gretchenfrage! Ich glaube, wir müssen insgesamt radikaler werden, also anerkennen, dass innerhalb dieses ökonomischen Systems ohne größere Veränderungen kein wirklicher Klimaschutz erfolgen kann. Es ist ja nicht damit getan, dass wir alles mit erneuerbaren Energien machen, denn dadurch wäre vielleicht das Klimaproblem gelöst – aber dadurch würde der Ressourcenverbrauch noch schneller ansteigen. Wir müssen anerkennen, dass in einem endlichen System kein unendliches Wachstum möglich ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen