hier Frankfurter Rundschau Von: Sereina Donatsch Stand:05.06.2024
Schweiz soll Klima-Klage ignorierenDas Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte war ein großer Sieg für die Klimaseniorinnen. Der Ständerat hält sie jedoch für „Aktivismus“.
Es ist ein großer Triumph für die Schweizer Klimaseniorinnen: Anfang April erringen sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Sieg. Ihr Vorwurf? Der Staat tue zu wenig gegen den Klimawandel und schütze somit die älteren Frauen nicht ausreichend. Straßburg gibt ihnen Recht. Es ist ein Urteil mit Signalwirkung.
Die Freude könnte jedoch von kurzer Dauer gewesen sein.
Seitdem wird in der Schweiz hitzig debattiert und kritische Töne stoßen zunehmend auf Zustimmung. Das Klima-Urteil soll ignoriert werden. Der Ständerat hat am Mittwoch eine entsprechende Erklärung der Rechtskommission mit 31 zu 11 Stimmen angenommen. Was Straßburg verlange, sei bereits erfüllt und die Schweiz brauche keine zusätzlichen Klimaschutzmaßnahmen. Der Bundesrat soll dies nun nach dem Willen der kleinen Kammer dem Europarat mitteilen. Der Nationalrat könnte dem Ständerat nächste Woche folgen.Das bürgerlich-konservative Lager schäumt und bedient sich seiner üblichen populistischen Rhetorik. Die nationalkonservative SVP fordert sogar den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Dieser überwacht die Umsetzung solcher Urteile. Straßburgs Entscheidung schade der direkten Demokratie. Fremde Richter:innen bestimmen über das Wohl der Gesellschaft, so das Narrativ. Vor allem die SVP nutzt diese Erzählung, aber sie verbreitet sich in fast allen Parteien. Der sozialdemokratische Abgeordnete und Präsident der Rechtskommission Daniel Jositsch etwa bezeichnet das Vorgehen Straßburgs als „gerichtlichen Aktivismus“.
Seniorinnen drohen Bern
Dieser Trend findet sein Parteikollege Carlo Sommaruga sehr beunruhigend. Er sei schockiert, dass die Schweiz dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Lektionen erteile, erklärt der Genfer der FR. Es sei nicht Aufgabe der Politik, der Justiz vorzuschreiben, was sie zu tun habe.
Nicht genehme Urteile als Kompetenzüberschreitung zu betrachten, sei, was autoritäre Staaten täten, geißelt der Politiker während der Debatten. Außerdem habe sich die Schweiz dafür entschieden, sich der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Straßburger Gerichtshof zu unterwerfen.
Die Mehrheit des Ständerats sieht es anders. Es sei nicht die Aufgabe eines Gerichts, sich über den Gesetzgeber hinwegzusetzen. Zudem berücksichtige das Urteil das jüngste Klimagesetz nicht.
Sollte die Schweizer Regierung der Klimaklage nicht Folge leisten, wollen sich die Klimaseniorinnen an den Europarat wenden.
Greenpeace hier 28. April 2023
KlimaSeniorinnen v. Schweiz: Wie stellt sich die Schweiz zu Fragen der Gerechtigkeit und Fairness?
Georg Klingler, Projektkoordinator und Klimaexperte von Greenpeace Schweiz
Die Anhörung der Klage der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat international grosse Beachtung gefunden.
Jetzt wird im Detail bekannt, mit welchen fragwürdigen Argumenten die Schweiz in Strassburg ihre bisherige Klimapolitik verteidigt hat.
Die öffentliche Anhörung der beiden Parteien am 29. März 2023 vor dem EGMR in Strassburg hätte die Endrunde im Verfahren der KlimaSeniorinnen bedeuten sollen. Die Schweiz hätte vor Ort den 17 Richter:innen und der Öffentlichkeit ihre Klimaziele erklären und darlegen sollen, wie genau sie an der Lösung der grössten Bedrohung für die Menschenrechte arbeitet. Doch kurz vor der Verhandlung hat die Schweiz stattdessen nochmals eine schriftliche Eingabe präsentiert, in der sie die Überlegungen hinter den geplanten Klimazielen erstmals eingehend erläutert.
Ein ungewöhnliches Vorgehen
Am 16. März 2023, zwei Wochen vor der Verhandlung, stellte das Gericht den Parteien per Brief drei Fragen. Da der Schriftenwechsel zum Fall schon am 5. Dezember 2022 abgeschlossen wurde, wies das Gericht explizit darauf hin, dass diese Fragen am Tag der Anhörung mündlich vor den 17 internationalen Richter:innen beantwortet werden sollten. Doch die Schweiz entschied sich dazu, schriftlich statt mündlich zu antworten.
Doch worum geht es in diesen Fragen genau?
Zwei Fragen des Gerichts treffen den Kern der Forderung nach ausreichendem Klimaschutz, denn schlimmere menschenrechtliche Folgen können nur abgewendet werden, wenn alle Staaten ihren Beitrag leisten. Da insgesamt gut bekannt ist, wie viel Treibhausgase noch maximal ausgestossen werden dürfen (das sogenannte CO2-Budget), um den globalen Temperaturanstieg auf 1.5°C zu begrenzen, wollte das Gericht wissen, ob und wie die Schweiz ein ihr noch verbleibendes CO2-Budget für die Festlegung der eigenen Klimaziele berechnet und berücksichtigt hat. Des Weiteren stellte das Gericht die Frage, wie nach der Meinung der Schweiz der gerechte Beitrag (der sog. «fair share») zur Einhaltung des globalen CO2-Budgets berechnet werden soll.
Wie erwähnt, hat die Schweiz entgegen der Aufforderung des Gerichts die gestellten Fragen schriftlich statt mündlich beantwortet. Das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen erhielt am Tag der Verhandlungen eine gedruckte Fassung dieser Eingabe. Insgesamt hat die Schweiz sechs Seiten geschrieben und zwei Anhänge (Anhang 1, Anhang 2) mit zusammen rund 80 Seiten eingereicht. Das Gericht hat diese schriftliche Eingabe zu den Akten genommen und den KlimaSeniorinnen das Recht eingeräumt, schriftlich bis zum 28.04.2023 auf die unvorgesehene Schweizer Stellungnahme zu reagieren.
Was antwortet die Schweiz auf die präzisen Fragen des Gerichts?
Kurz: Sie gibt keine konkreten Antworten.
So schreibt die Schweiz: Ihre aktuellen Emissionsziele für 2030 und 2050 seien ein fairer Beitrag zur Begrenzung der globalen Temperatur auf unter 1,5°C. Für die Beurteilung der Fairness seien Prinzipien berücksichtigt worden, wie z.B. die Verantwortung der Schweiz aufgrund ihrer Emissionen oder auch die Handlungsmöglichkeiten der Schweiz als reiches Land. Die Schweiz betont aber auch, dass sie als bevölkerungsmässig kleines Land nur einen geringen Anteil an den globalen Emissionen verursache, dass die Pro-Kopf-Emissionen der Schweizer:innen unter dem globalen Durchschnitt lägen und dass die Kosten für weitere Reduktionen hoch seien.
Eine konkrete Berechnung oder auch eine blosse Einschätzung, ob sich mit dieser Schweizer Lesart von Klimaverantwortung das globale Problem lösen liesse, liefert die Schweiz nicht.
Kein Wort dazu, dass der gewählte Ansatz die Schweiz gegenüber Ländern mit weniger Emissionen massiv bevorteilt. Die Figur unten im Beitrag veranschaulicht diesen Punkt. Auch den Beweis dafür, dass weitere Emissionsreduktionen in der Schweiz, als sehr reichem Land, unverhältnismässig hohe Kosten verursachen würden, bleibt sie schuldig. Zudem lagen die Schweizer Emissionen in den vergangenen 60 Jahren nur gerade sieben Jahre unter dem globalen Durchschnitt (vgl. Figur weiter unten im Beitrag).
Erstmals überhaupt überprüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg in einer öffentlichen Verhandlung, inwiefern ein Staat wie die Schweiz die Treibhausgasemissionen stärker reduzieren muss, um die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung zu schützen.
Zur Untermauerung ihrer Position reichte die Schweiz ein 60-seitiges internes Arbeitspapier zu ethisch-moralischen Prinzipien beim Klimaschutz ein, betonte jedoch gleichzeitig, dieses Papier spiegle nicht die Auffassung der Regierung. Wir wissen nicht, warum es dennoch eingereicht wurde.
Weiter behauptet die Schweiz, alle Versuche, einen nationalen fairen Anteil zu quantifizieren, seien von Natur aus subjektiv. Sie sprechen den von den KlimaSeniorinnen eingereichten Studien kurzerhand ihre wissenschaftliche Basis ab, ohne Gegenbeweise vorzulegen. Dabei legen diese Studien transparent und schlüssig dar, wie eine gerechte Aufteilung des verbleibenden CO2-Budgets unter Wahrung international anerkannter Rechtsprinzipien vorgenommen werden sollte.
Trotz der behaupteten grundsätzlichen Subjektivität, hat die Schweiz eine Studie aus dem Jahr 2012 eingereicht. 2012 liegt drei (!) Jahre vor dem Abschluss des Übereinkommens von Paris. In dieser Studie werden tatsächlich CO2-Budgets für Länder auf Basis von Gerechtigkeitsprinzipien berechnet. Eine Zahl für die Schweiz sucht man darin aber vergebens.
Zwischenfazit: Die Schweiz argumentiert, dass
a) auch Gerechtigkeitsprinzipien anzuwenden seien, die reiche Länder mit hohen Emissionen bevorteilen und dass
b) eine Art quantitative Auseinandersetzung mit dem globalen CO2-Budget in die Auseinandersetzung zur Festlegung der eigenen Ziele eingeflossen sei.
Beides tut die Schweiz ohne konkret zu werden, aktuelle Zahlen oder einschlägige wissenschaftliche Studien zu nennen und gänzlich ohne die globalen Implikationen ihrer eigenen Herangehensweise zu erörtern.
Orientierung am globalen Reduktionspfad: unfair
Nun liefert die Schweiz in ihren weiteren Ausführungen doch noch eine Art Herleitung der eigenen Klimaziele. Dabei verweist sie darauf, dass sich die Schweizer Ziele auf die globalen Reduktionspfade aus den IPCC-Berichten beziehen. Die einfache Herleitung der Schweiz: Wenn die Welt bis 2030 die Emissionen um 50% und bis 2050 auf netto Null reduzieren muss, um 1.5°C nicht zu überschreiten, dann müsse das auch die Schweiz tun.
Dieses Vorgehen besticht durch seine Einfachheit, ist aber nicht fair. Denn ein solcher Ansatz bevorteilt die Schweiz massiv gegenüber allen Ländern, die bisher weniger Emissionen verursacht haben und kann mit Gerechtigkeits- und Fairnessprinzipien nicht vernünftig erklärt werden. Der Schweizer Ansatz führt dazu, dass vom verbleibenden globalen CO2-Budget übermässig viel an reiche Länder mit hohen Emissionen geht. Ärmere Länder sollen also mit weniger auskommen als wir, die wir durch das übermässige Verbrennen billiger fossiler Energieträger reich geworden sind.
Die folgende Grafik veranschaulicht diese Übervorteilung. Sie zeigt die vergangenen und zukünftigen Pro-Kopf-Emissionen gemäss dem von der Schweiz verfolgten Ansatz. Dieser führt dazu, dass in Zukunft hierzulande weiterhin mehr Emissionen verursacht werden als z.B. in Indien. Und noch etwas fällt auf: der Ansatz blendet jegliche Verantwortung aufgrund der schon erfolgten Emissionen aus. Ganz entsprechend der Logik: wer schon viel verbraucht und hohe Emissionen hat, dem soll auch künftig mehr gegeben werden. Was soll daran gerecht und fair sein, dass eine Person hierzulande mehr als das Doppelte des globalen Budgets beansprucht als eine Person in Indien oder in hunderten anderen Ländern?
Fassen wir zusammen:
Im Ergebnis argumentiert die Schweiz vor dem höchsten Menschenrechtsgericht in Europa, dass die Lösung der grössten Bedrohung der Menschenrechte nicht vernünftig angegangen werden kann. So argumentiert sie
erstens, dass die Bestimmung des gerechten Beitrages zur Lösung des kollektiven Problems auch Prinzipien berücksichtigen sollte, die reiche Länder mit hohen Emissionen bevorteilen,
zweitens, dass die breit abgestützten wissenschaftlichen Studien, welche die KlimaSeniorinnen zur Untermauerung ihrer quantitativen Anforderungen an die Schweiz angeführt haben, subjektiv seinen,
drittens, dass eine veraltete Einzelstudie einer Person als Grundlage verwendet werden kann und
viertens, dass mit der Orientierung an den durchschnittlichen globalen Reduktionspfaden ein “fairer” Beitrag geleistet werde.
Dies alles macht die Schweiz vor dem Hintergrund des jüngsten IPCC-Berichts, in dem unmissverständlich festgestellt wird, dass bisher 80% des globalen Budgets für die Einhaltung der 1.5°C-Grenze (mit einer 50%-Wahrscheinlichkeit) bereits aufgebraucht sind und dass bei den derzeitigen Emissionsniveaus das noch verbleibende Budget vor 2030 erschöpft sein wird.
Dabei wäre es im höchsten Interesse der Schweiz und ihrer Bewohner:innen, dass schlimmere Klimakatastrophen verhindert werden. Wir sehen bereits jetzt überall ernsthafte Folgen der Klimaveränderung und wissen, dass ein Temperaturanstieg von mehr als 1.5°C für alle Lebewesen äusserst gefährlich wird. Dennoch behauptet die Schweiz, sich für das 1.5°C-Ziel einzusetzen und präsentiert einen Ansatz, der, wenn alle Länder vergleichbar handeln, zu einer bis zu 3°C wärmeren Welt führen würde. Dies wäre eine Welt, in der Menschenrechte nicht mehr ausreichend geschützt werden könnten.
Replik der KlimaSeniorinnen
Das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen hat auf die schriftliche Eingabe der Schweiz reagiert und weist darin Punkt für Punkt nach, dass der Ansatz der Schweizer Regierung ungerecht, unfair und für die Eindämmung der Klimaerwärmung auf maximal 1.5°C ungeeignet ist.
Konkret haben die Anwält:innen
die fehlenden Berechnungen des Schweizer CO2-Budgets aufgrund von Berechnungen anerkannter Wissenschafter:innen nachgereicht
im Detail erläutert, warum eine Orientierung am Durchschnitt der global notwendigen Reduktionsleistungen nicht 1.5°-kompatibel ist und keinen fairen Anteil an den globalen Klimaschutzbemühungen darstellt
darauf hingewiesen, was der IPCC zur fairen Aufteilung der Reduktionslasten und zur Kosteneffizienz aussagt
aufgezeigt, wie die höchsten Gerichte anderer Länder Rechtfertigungsversuche wie sie nun die Schweiz vorlegt, vollumfänglich zurückgewiesen haben.
Hier finden sie alle erwähnten Dokumente: https://www.klimaseniorinnen.ch/dokumente/
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