Die Bürger der EU fühlen sich, so sagen sie, mehr denn je als das, was sie eigentlich auch sind: Bürger der EU.
Liegt es daran, dass es ringsum immer düsterer wird in dieser Welt? Den Europäerinnen und Europäern erscheint die EU in zunehmend positivem Licht. Das Gerede über „die blöden Brüsseler Bürokraten“ lässt nach. Dagegen setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Alte Kontinent schon aus Sicherheitsgründen auf neue Art zusammenrücken muss.
Die Bürger der EU fühlen sich, so sagen sie, mehr denn je als das, was sie eigentlich auch sind: Bürger der EU.
Das mag ein bisschen putzig klingen. Aber dieser Punkt gehört zu den interessantesten Erkenntnissen des jüngsten Eurobarometers, einer Umfrage unter 26.000 Wahlberechtigten in allen 27 EU-Staaten. Er macht langgediente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU sogar ein bisschen stolz.
Schon seit Jahrzehnten hilft das Eurobarometer den Institutionen in Brüssel, Stimmungen und Strömungen quer durch den Kontinent im Blick zu behalten. Das Zutrauen zu Parlament und Kommission blieb immer ziemlich mau. Lange definierten viele Bürgerinnen und Bürger sich am liebsten nur übers Nationale.
Inzwischen aber dreht sich was. Die Identifikation mit Europa nimmt zu. Das sogenannte Institutionenvertrauen, wie die Demoskopen es nennen, wächst. Und manche Zahlen sind, zur hellen Freude der Brüsseler, sogar besser denn je.
Den Satz „Ich fühle mich als Bürger oder Bürgerin der EU“ bejahen neuerdings 74 Prozent. Das ist der höchste bislang gemessene Wert. Im Jahr 2014 lag dieser Anteil noch bei 63 Prozent.
„Zufrieden damit, wie in den europäischen Institutionen die Demokratie funktioniert“, sind heute nie dagewesene 57 Prozent - vor zehn Jahren waren es nur 43 Prozent.
Beide Tendenzen sind offenbar verbunden mit einer aktuellen Lageeinschätzung, die Europäerinnen und Europäer aus diversen Mitgliedstaaten und politischen Lagern zu vereinen scheint: 67 Prozent loben die EU als einen „Ort der Stabilität in einer unruhigen Welt“.
Niemand sollte jetzt so etwas wie überschäumende neue Europabegeisterung in diese Zahlen hineindeuten. Sie markieren aber einen Trend, der die EU in nächster Zeit durchaus stärken könnte. Die rundum wachsenden Krisen scheinen zu einem Moment der Besinnung geführt zu haben. Europäerinnen und Europäer entdecken ihren eigenen Kontinent und stellen wie bei einem Blick in den Spiegel alte Fragen neu: Was soll Europa tun? Was darf es hoffen?
Menschen wollen aktive EU
Eins zumindest steht fest: Die Selbstwahrnehmung hat sich stark verändert.
Früher dominierte noch die alte Leier von einer bürgerfernen Bürokratie in Brüssel, die man mühsam in Schach halten müsse. Unausrottbar erschien jahrzehntelang die Erzählung, die EU erschaffe mit Vorliebe nutzlose Dinge wie etwa Regelungen für den maximalen Krümmungsgrad von Gurken.
Mythen dieser Art sind nicht mehr aktuell. Heute wollen die Leute eine EU, die aktiv wird, und zwar nicht nur hier oder da, sondern bei den ganz großen Themen dieser Zeit. Die 26.000 quer durch Europa Befragten reichten den Institutionen in Brüssel soeben wie auf einem Wunschzettel Dinge rein, um die sich die 27 Staaten bitte verstärkt kümmern sollen, und zwar gemeinsam. Auf Platz 1 stehen Sicherheit und Verteidigung, auf Platz 2 Klima und Umwelt, auf Platz 3 Migration und der Schutz der EU-Außengrenzen.
Kenner der Materie haben es immer gepredigt: Auf keinem einzigen relevanten Problemfeld des 21. Jahrhunderts kommt Europa auch nur einen Schritt weiter durch nationale Alleingänge.
Die Erkenntnis ist in der Tat nicht neu. Neu ist aber, dass sie sich nun auch sogar bei politikfernen Normalos herumspricht.
Schlägt jetzt also doch, nach Jahrzehnten europäischer Selbstzweifel, die Stunde eines engeren Zusammenrückens? Vieles, nicht zuletzt der Performance der EU in den vergangenen paar Jahren, spricht dafür.
Aus Erfahrung wird man klug. Und aus positiven Erfahrungen wächst, vor allem wenn man sie in schwierigen Zeiten macht, Vertrauen. In der Coronakrise haben die Europäerinnen und Europäer erstmals - und im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib - ein Europa erlebt, das sie beschützt. Wäre die Beschaffung von Impfstoff abhängig gewesen von Erfolg oder Misserfolg einzelner Staaten, wären Millionen Menschen in eine Katastrophe geschlittert. Die EU aber trug, nach anfänglichen Stolpereien, dazu bei, dass Europa mit der Pandemie unterm Strich besser fertig wurde als jede andere Weltregion: besser als die USA und besser als China.
Verblüffend schnell und mit hoher Effizienz
Der Riesentanker EU wurde in den Jahren unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gleich zweimal in unbekanntes Gewässer gesteuert, es ging nicht anders. Für Gesundheitspolitik war die EU, als sie sich plötzlich in der Pandemie wiederfand, vertraglich gar nicht zuständig. Eine zweite historische Premiere folgte schon kurze Zeit später, mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022. Auch in diesem Fall wurden Verfahrensweisen, mit denen Europa sich und anderen hilft, erst im Moment der Krise entwickelt.
Das alles geschah verblüffend schnell und mit hoher Effizienz. In einem neuartigen Sondertopf der EU namens „European Peace Facility“ zum Beispiel unterstützt Europa derzeit die Menschen in der Ukraine. In dem Fonds laufen Milliardenbeträge für zivile wie auch für militärische Vorhaben zusammen. Parallel dazu verabredeten die EU-Staaten inzwischen, ihre eigenen Rüstungsanstrengungen zu erhöhen und vor allem besser denn je aufeinander abzustimmen.
Gigantisches ökonomisches und technologisches Potenzials
Der Dreh kommt spät, aber seine Folgen werden spürbar sein. In Talkshows hörte man jüngst die Sorge, Russland werde wegen der von Wladimir Putin befohlenen Umstellung seiner kompletten Ökonomie auf Kriegswirtschaft Europa bald totrüsten. Doch man darf die wirtschaftliche Kraft der EU nicht unterschätzen. Das gesamte Bruttoinlandsprodukt des Riesenreichs Russland, einschließlich aller Gas- und Rohstoffgeschäfte mit China, entspricht dem BIP von Italien. Das BIP der gesamten EU ist mit 16,6 Billionen US-Dollar ungefähr siebenmal so groß wie das von Russland.
Wenn jetzt auch nur Teile des gigantischen ökonomischen und technologischen Potenzials der EU in Richtung einer innovativen Rüstungspolitik geleitet werden, verschieben sich die strategischen Gewichte zu Lasten Russlands - und zwar dauerhaft. Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin eigenhändig gravierende und bleibende Nachteile für Russland herbeiführt. Der Kremlherr hat sein Land zu einer Rohstoffkolonie Chinas werden lassen. Schon deshalb wird die Geschichtsschreibung, auch die russische, ihn nicht gnädig beurteilen. Zudem hat Putin, eine Eselei besonderer Art, mit seiner aggressiven Politik den Beitritt der jahrhundertlang militärisch neutralen Staaten Finnland und Schweden zur Nato beflügelt.
Inzwischen gehören 23 der 27 EU-Staaten zugleich der Nato an - so hoch war der Anteil noch nie. Neutral sind nur noch Österreich, Irland, Zypern und Malta.
Wie sehr die Stimmung quer durch die EU gegen Russland gekippt ist, zeigt sich am eindrucksvollsten in Skandinavien. In Finnland orderte im Jahr 2022 die damalige sozialdemokratische Regierungschefin Sanna Marin mal eben sage und schreibe 64 amerikanische Kampfjets vom Typ F-35. Eine Bestellung in solchen Größenordnungen bekam der US-Konzern Lockheed Martin aus keinem anderen Land der Welt. Schweden ließ auf Gotland schon im Januar 2022 Panzer auffahren, um der russischen Militärführung deutlich zu machen, dass sie ihre - offenbar von westlichen Geheimdiensten mitgeschnittenen - Debatten über eine mögliche Eroberung der Insel vergessen kann. In Dänemark werden derzeit ukrainische Piloten an F-16-Kampfflugzeugen ausgebildet.
Extrem rechte wie extrem linke Kritiker sprechen jetzt von einer „Militarisierung“ der Europapolitik. Falsch ist diese Analyse nicht. Man muss aber Ursache und Wirkung im Auge behalten. Der Urheber der Militarisierung ist Putin. Die 27 Staaten holen nur gezwungenermaßen nach, was sie jahrzehntelang vernachlässigt haben.
Die EU muss zusammenrücken
Falsch wird es indessen, wenn rechte und linke Radikale behaupten, in Brüssel laufe eine abgehobene Politik, die sich vom Willen der Bürgerinnen und Bürger entfernt habe.
Der auf Resilienz gegenüber Russland getrimmte Kurs der EU-Kommission stützt sich auf satte Mehrheiten: im Europaparlament, bei den Regierungen der Mitgliedstaaten und auch bei den Wählerinnen und Wählern. 70 Prozent der europaweit Befragten tragen laut Eurobarometer Finanzhilfen für Kiew mit, 72 Prozent sind zugleich für Wirtschaftssanktionen gegen Moskau.
Ein Zusammenrücken der EU ist leider nicht nur mit Blick auf Wladimir Putin nötig. Europa muss auch gegenüber Xi Jinping stark sein. Der chinesische Staatschef bereitet derzeit einen eigenen gewalttätigen Schlag gegen die Demokratie vor: in Taiwan. Offenbar setzt Xi darauf, dies im Schatten der Konflikte in der Ukraine und in Gaza leichter umsetzen zu können. Xi folgt jahrtausendealten chinesischen Militärtaktiken und will den Westen ablenken und seine Aufmerksamkeit zerstreuen - während er selbst seine Kräfte bündelt. In immer neuen Großmanövern Pekings zur Einschüchterung Taiwans nahmen in jüngster Zeit mitunter 60 chinesische Bomber gleichzeitig Kurs auf die demokratisch regierte Insel.
Die Parallele zum Ukraine-Konflikt ist bedrückend. Taiwan bedroht Peking nicht, die Ukraine bedroht Moskau nicht. Doch Xi empfindet wie Putin schon die bloße Existenz einer freien Gesellschaft vor der eigenen Haustür als Infragestellung seiner Macht.
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