Mittwoch, 12. Juni 2024

Schweiz will Urteil zum Klimaschutz nicht umsetzen: „Es ist ein Verrat“

Frankfurter Rundschau hier  13.06.2024, Von: Sereina Donatsch

Über das Urteil in Straßburg konnten die Schweizer Klimaseniorinnen noch jubeln, ihr Land sperrt sich aber dagegen. Ein Klimaschutz-Urteil gegen die Schweiz galt als wegweisend, wird aber infrage gestellt. Die Klägerinnen sind schockiert.

Nach dem Erfolg folgt Ernüchterung: Das Schweizer Parlament will das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu mehr Klimaschutz nicht umsetzen. Ein Schock für die Seniorinnen, die die Klage eingereicht hatten. Sie sei „entsetzt“, dass der Stände- und der Nationalrat das Klima-Urteil ignorieren wollen, kritisiert die Co-Präsidentin des Vereins Klimaseniorinnen, Rosmarie Wydler-Wälti, am Mittwoch im Gespräch mit der FR.

Klimaaktivistin: EGMR-Urteil sei ein „Verrat an uns älteren Frauen“
(diese Aussage ist falsch, vielleicht fehlt das Wort "die Nicht-Umsetzung des ..Urteils....")

Der Verein ist der Ansicht, der Staat tue zu wenig, um ältere Frauen vor der globalen Erwärmung zu schützen. Ende April gab das Gericht in Straßburg ihnen Recht, Bern sieht es anders. „Es ist ein Verrat an uns älteren Frauen und an all jenen, die heute und in Zukunft unter den realen Folgen der Klimaerwärmung leiden,“ bemängelt Rosmarie Wydler-Wälti. Die Entscheidung sei eines Rechtsstaates unwürdig.

Die beiden Kammern haben ihre Entscheidung gegen den Willen einer links-grünen Minderheit getroffen. Was Straßburg fordere, sei bereits erfüllt, und die Schweiz brauche keine zusätzlichen Klimaschutzmaßnahmen, wies das Parlament das Urteil zurück, das es zudem als „Gerichtsaktivismus“ kritisierte. Der Europäische Gerichtshof verletze die Gewaltenteilung und missachte seinerseits demokratische Entscheidungsprozesse.

Schweizer Regierung wehrt sich gegen das Urteil

Im bürgerlich-konservativen Lager ist dabei auch populistische Rhetorik zu hören: Fremde Richter:innen bestimmen über das Wohl der Gesellschaft, so das Narrativ. Vor allem die nationalkonservative SVP argumentiert so, aber ähnliche Töne sind aus fast allen Parteien zu hören. Eine entsprechende Position soll die Schweizer Regierung, der Bundesrat, dem Europarat mitteilen. Im Nationalrat wurde die Erklärung mit 111 zu 72 Stimmen verabschiedet. Schon letzte Woche hatte der Ständerat mit einer knappen Zweidrittelmehrheit dafür gestimmt.

Der sozialdemokratische Abgeordnete Carlo Sommaruga hält das Vorgehen für sehr beunruhigend. Er sei schockiert, dass die Schweiz dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Lektionen erteile, erklärt der Genfer der FR. Es sei nicht Aufgabe der Politik, der Justiz vorzuschreiben, was sie zu tun habe. Nicht genehme Urteile als Kompetenzüberschreitung zu betrachten, sei, was autoritäre Staaten täten. Die Schweiz habe sich dagegen bewusst der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Straßburger Gerichtshof unterworfen.

Die SVP fordert jedoch sogar den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Dass es zu diesem Schritt kommt, ist aber unwahrscheinlich. Der Vorschlag der Partei, der Bundesverfassung generell Vorrang vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzuräumen, ist 2018 klar gescheitert, erinnert Johannes Reich, Professor für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Energierecht an der Universität Zürich.

Anfang April dieses Jahres hatte der Gerichtshof nach einer Beschwerde der Klimaseniorinnen eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Eidgenossenschaft festgestellt. Diese sei ihren Verpflichtungen im Bereich des Klimaschutzes nicht nachgekommen. Der Staat müsse Einzelpersonen besser vor den Folgen des Klimawandels für Leben und Gesundheit schützen.

Die Entscheidung sei verbindlich, erläutert Johannes Reich. „Die inhaltlichen Vorgaben des Urteils sind jedoch zurückhaltend – diesbezüglich wird der Schweiz ein großer Ermessensspielraum zugestanden.“ Reich sieht vor allem den Beschluss, sich überhaupt mit der Klage zu befassen, als weitreichend an. Dabei wurde Verbänden ein besonderes Recht eingeräumt, Klagen den Klimaschutz betreffend vor das Gericht zu bringen. Reich sagt: „Das dürfte vor allem institutionell begründet sein: Beschwerden von Verbänden sind meistens besser ausgearbeitet als jene von Einzelpersonen, lindern also die Arbeitslast des Gerichts.“

Klimaseniorinnen: Präzedenzfall für Kollektivklagen?

FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann gab zu bedenken, dass das Gericht mit dem Urteil möglicherweise einen Präzedenzfall für Kollektiv- oder Popularklagen in der Schweiz geschaffen habe. Der Abgeordnete Philipp Matthias Bregy (Mitte) hatte von einem „ultrawirren Urteil“ gesprochen. In der Erklärung stehe explizit, dem Urteil sei keine „weitere“ Folge zu geben. Das impliziere, dass die Schweiz „bereits Folge gegeben“ habe.

Die Schweizer Bürger:innen haben im Juni letzten Jahres ein Klimagesetz akzeptiert. Im März hat das Parlament aber das CO2-Gesetz revidiert, mit dem sich das Alpenland verpflichtet hätte, bis 2050 die Treibhausgasemissionen auf netto null zu senken. Am letzten Sonntag wurde allerdings das Stromgesetz angenommen, mit dem erneuerbare Energien stärker gefördert werden sollen. Die Schweiz habe ihre Verpflichtungen aus dem Urteil „zwischenzeitlich längst erfüllt“, sagt deshalb Bregy. Dies habe das Gericht in seinem Urteil nicht berücksichtigt.

Jetzt ist die Regierung am Zug – aber erst nach dem Sommer

Die Schweiz sei tatsächlich auf dem Weg, „den im Urteil formulierten Anforderungen zu entsprechen“, bestätigt auch Johannes Reich. „Diese Argumente müsste die Schweiz jedoch vor dem Ministerkomitee vorbringen. Verweigert sie sich dieser Debatte, läuft sie Gefahr, sich unter ihrem Wert zu schlagen.“
Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Umsetzung solcher Urteile. Erst in diesem Verfahren werde sich erweisen, ob sich die Schweiz dem Urteil tatsächlich verweigert.

Die Regierung will sich nun nach der Sommerpause mit dem Klima-Urteil befassen. Reich macht deutlich, dass die Außenpolitik der Eidgenossenschaft „Sache des Bundesrates, nicht diejenige des Parlaments“ ist. Hierzu sei die Bundesverfassung völlig klar. Das Parlament könne nur politischen Druck ausüben.

Die Seniorinnen erwarten nun vom Bundesrat, dass er die Institutionen und den Rechtsstaat „konsequent schützt“ und das Urteil des Gerichtshofs umsetzt. Der Verein habe deswegen noch keine weiteren Schritte geplant. Die Aktivistinnen verfolgten die Debatten von der Galerie. Die Frauen nahmen das Ergebnis kopfschüttelnd zur Kenntnis. Alle Augen sind nun auf die Regierung gerichtet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen