Freitag, 21. Juni 2024

Mehr zum Renaturierungsgesetz der EU

 hier Ein Kommentar von Fritz Habekuß/  Aus der ZEIT Nr. 27/2024  19. Juni 2024

EU-Renaturierungsgesetz: Auferstehung per Gesetz

Renaturierung an der Havel - Foto: Klemens KarkowDas Gesetz sollte die Natur in Europa wieder auferstehen lassen. Doch über viele Monate schien es selbst dem Tod geweiht. Zu viele Widerstände von Bauern, Konservativen und Rechtspopulisten. Zu wenig Unterstützung von Politikern, auch auf höchster EU-Ebene, für das "Gesetz zur Wiederherstellung der Natur". 

Es wurde einst als zentrales Element des sogenannten Green Deals aus der Taufe gehoben – dieser Vision eines umwelt-, klima- und artenfreundlichen Europas.
Und jetzt: ist das Gesetz doch verabschiedet. Am Montag, durch die Runde der EU-Agrarministerinnen und -minister. Damit hat es die letzte Hürde passiert und wird für alle EU-Staaten bindend sein.

Grund für die erfolgreiche Abstimmung war ein Umschwenken von Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler, einer Grünen. Sie hätte ein Nein nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, sagte Gewessler. Ein solches Nein hatte sich der große konservative Koalitionspartner gewünscht. Der Kanzler kündigte sogar an, gegen Gewessler vor Gericht ziehen zu wollen. Und so gesellt sich zum derzeitigen österreichischen Wahlkampf noch eine österreichische Regierungskrise.

Gewissensfragen, Regierungskrise, Gerichtsprozesse – das klingt in der Dimension überzogen. Solange man nicht die Ziele des Regelwerks kennt.

Das Gesetz ist ein Meilenstein, weltweit gibt es keinen vergleichbar umfassenden Plan.
Es soll bei der Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad Celsius helfen und sicherstellen, dass die Natur auch künftig das Überleben des Menschen sichert. Das tut sie, indem ihre Wälder Wasser und Luft reinigen; Insekten bestäuben Pflanzen; gesunde Auen schützen vor Überflutungen.

Ein Gesetz mit bindenden Vorgaben für EU-Länder

Das Gesetz will also mehr als nur die Natur schützen. Es will Ökosysteme wiederherstellen. Nur so könne der Rückgang der Biodiversität aufgehalten oder gar umgekehrt werden.

Denn im Vergleich zu Europas Ökosystemen ist selbst die österreichische Koalition in einem guten Zustand. 81 Prozent der Habitate geht es schlecht, wie Zahlen der EU-Kommission zeigen.

Um das zu kontern, macht das verabschiedete Regelwerk bindende Vorgaben für die Mitgliedsländer. Sie sollen mindestens ein Fünftel aller geschädigten Land- und Meeresflächen in Europa renaturieren, und zwar bis zum Ende der Dekade. Bis 2050 sollen gar alle geschädigten Habitate wiederhergestellt sein.

Konkret bedeutet das: In Feuchtgebieten, Grasland, Flüssen und Seen oder Heiden sollen Arten wieder angesiedelt und Lebensräume im großen Stil renaturiert werden. Die Zahl an Bestäuber-Insekten wie Bienen oder Hummeln soll steigen. In Wäldern soll mehr totes Holz liegen bleiben, sie sollen mehr Kohlenstoff speichern, und Waldstücke sollten miteinander verbunden werden. Der Forderungskatalog ist damit nicht zu Ende: Mehr städtische Grünflächen nach 2030, Flüsse sollen wieder frei fließen, Haie, Delfine und Seevögel sollen in den Meeren ebenso bessere Lebensräume vorfinden wie die Pflanzen.

Wer so viele Ziele für Artenschutz formuliert, gerät zwangsläufig mit einer Art aneinander: dem Menschen. Insbesondere dort, wo die Ziele die Landwirtschaft betreffen. Gegen strengere Auflagen hatten in verschiedenen Ländern Europas Bauern protestiert – und Zugeständnisse bekommen. Viele Vorgaben, um die Landwirtschaft umweltfreundlicher zu machen, wurden gestrichen, etwa ein Gesetz zur Begrenzung von Pestiziden. Zahlreiche Ausnahmen schwächen das Paket: So können zum Beispiel in Krisenzeiten die Umweltregeln außer Kraft gesetzt werden.

Doch auch wenn das beschlossene Gesetz hinter dem ursprünglichen Entwurf der EU-Kommission zurückbleibt: Angesichts eines deutlich nach rechts gerückten Parlaments ist das Paket ambitioniert. So sehr, dass es fast wie ein Statement wirkt. Wie eine Gewissensentscheidung.


Standard  hier

Selten geht es in der innenpolitischen Arena so viel um Umweltpolitik wie in den vergangenen Tagen. Die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur – kurz: zur Renaturierung – hat die Koalition an den Rand des Bruchs geführt. 

Der Showdown lief zuletzt zwischen Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen und Kanzler Karl Nehammer (ÖVP). Mit dem bekannten Ergebnis, dass Gewessler der Verordnung, gegen den Willen der ÖVP, in Luxemburg zustimmte – und das ökologische Maßnahmenpaket damit EU-weit gültig wird. (Die ÖVP hofft freilich noch auf den Erfolg ihrer Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof.)

Worum geht es inhaltlich? Die Union verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, naturnähere Landschaften zu forcieren. In einem ersten Schritt sollen nationale Pläne erstellt werden, in weiteren Schritten sollen diese umgesetzt werden. 

Umfasst sind auch Städte und Vorstädte: Sie sollen keinen Nettoverlust städtischer Grünflächen im Vergleich zum Jahr 2021 verzeichnen. In der Verordnung geht’s zudem um die Wiederherstellung landwirtschaftlicher Ökosysteme – insbesondere daher dürfte der ÖVP-Widerstand rühren. 

Einige Einwände der ÖVP lassen sich bei näherem Hinsehen widerlegen, wie Kollege Joseph Gepp kürzlich dokumentierte. So warnte der EU-Abgeordnete und Bauernbündler Alexander Bernhuber, die Lebensmittelpreise würden durch die Renaturierungsverordnung hochgetrieben und die Ernährungssicherheit gefährdet werden. Es gebe Hinweise darauf, dass eher das Gegenteil der Fall sei, schreibt Gepp. Die Ernährungssicherheit verbessere sich, statt sich zu verschlechtern, wenn geschädigte oder übernutzte Ökosysteme wiederhergestellt werden, heißt es in einer Studie des Joint Research Center (JRC) der EU-Kommission von 2022. 

Auch der Kassandraruf des wahlkämpfenden ÖVP-Urgesteins Reinhold Lopatka, österreichische Bäuerinnen und Bauern müssten wegen der Verordnung „Schmetterlingszählungen“ durchführen, war unbegründet. Eine solche Verpflichtung für Landwirte steht nicht in der Verordnung. 

Die schweren Geschütze, die die ÖVP nun gegen Gewessler auffährt ("Amtsmissbrauch"), hat unterdessen der leitende STANDARD-Redakteur Eric Frey in einem Kommentar unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Die ÖVP misst beim Abstimmungsverhalten auf EU-Ebene mit zweierlei Maß. Wenn Umweltministerin Gewessler bei der Renaturierung das Einvernehmen mit Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) brauche, schreibt Frey, "dann hätte Innenminister Gerhard Karner auch das Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit den grün geführten Gesundheits- und Justizministerien abstimmen müssen, die damals dagegen waren". Ebenso wenig habe Landwirtschaftsminister Totschnig die Umweltministerin im April gefragt, ob sie mit der Aufweichung von Umweltstandards für Landwirte einverstanden sei.

Anfang 2020 verstand die türkis-grüne Koalition ihr Regierungsprogramm als das "Beste aus beiden Welten". Bis zur Wahl im September sehen wir wohl nur noch die Reste aus beiden Welten.

Wahrscheinlich wird die ÖVP die Renaturierungsverordnung auch nach deren Beschluss und mit Unterstützung ihr nahestehender Medien bekämpfen. Auch gegen die weniger bekannte EU-Entwaldungsverordnung läuft die ÖVP derzeit Sturm – dabei haben sechs von sieben ÖVP-Abgeordneten im EU-Parlament dieser noch im April 2023 zugestimmt.

Viel Freude beim Lesen wünscht

Lukas Kapeller

 

hier Standard  Joseph Gepp  17. Juni 2024

Von Schmetterlingszählung bis Enteignung: Was an Einwänden gegen das Renaturierungsgesetz dran ist

Viele Ängste begleiten das Vorhaben rund um das umstrittene EU-Renaturierungsgesetz. Was ist von ihnen zu halten?

Komplexe EU-Gesetze stehen üblicherweise nicht besonders prominent im Licht der breiten Öffentlichkeit. Ganz anders ist es jedoch beim geplanten EU-Renaturierungsgesetz, eigentlich "Verordnung über die Wiederherstellung der Natur". Mit diesem Teil des europäischen Green Deal will Brüssel in den kommenden Jahrzehnten für naturnähere Landschaften in Europa sorgen. Das Regelwerk besteht vornehmlich aus Zielvorgaben für Naturschutzgebiete und Agrarflächen, mit deren Hilfe die Biodiversität wieder zunehmen soll.

An diesem Montag haben die Umweltministerinnen und -minister in Luxemburg final über das Renaturierungsgesetz abgestimmt und ihm zugestimmt. Eine Ablehnung hätte bedeutet, dass der komplette bisherige Prozess hinfällig ist. Die EU-Renaturierungsverordnung galt eigentlich bereits als durchgebracht; das EU-Parlament hatte zugestimmt und die Staaten ihren grundsätzlichen Sanctus signalisiert. Doch dann zogen einige EU-Länder doch wieder zurück.

Auch Österreichs Position war, gelinge gesagt, kompliziert. Bis vor kurzem hat Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) eine einheitliche negative Stellungnahme der Bundesländer gesetzlich zur Ablehnung verpflichtet. Mitte Mai sind dann die rot regierten Bundesländer Wien und Kärnten aus der Länderblockade ausgeschert. Deshalb galt es selbst unter Verfassungsjuristen als unklar, ob die einheitliche Stellungnahme noch aufrecht ist und ob Gewessler daran gebunden wäre. Überdies war fraglich, ob die ÖVP innerhalb der Regierungskoalition ein Veto einlagen darf. Am Sonntag legte sich Gewessler dann aber bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz fest: Sollte es am Montag zu einer Abstimmung kommen, werde sie zustimmen.

Über das Renaturierungsgesetz wurde in den vergangenen Wochen jedenfalls aufgeregt debattiert. Vor allem Vertreter von ÖVP und Landwirtschaft stemmten sich geradezu rabiat dagegen. DER STANDARD hat sich drei Argumente gegen das Gesetz herausgepickt – und eruiert, was tatsächlich an ihnen dran ist.

Einwand eins: Lebensmittelsicherheit

"Der Vorschlag in seiner jetzigen Form führt zu einer geringeren Lebensmittelproduktion in Europa, treibt die Lebensmittelpreise noch weiter in die Höhe und gefährdet die Ernährungssicherheit." (ÖVP-EU-Abgeordneter Alexander Bernhuber, Presseaussendung, 15. Juni)

Eine schnelle Entgegnung auf Alexander Bernhubers Aussage findet sich im Verordnungsentwurf des Renaturierungsgesetzes. Bei einem "unvorhersehbaren, außergewöhnlichen und unprovozierten Ereignis ein, das (...) schwerwiegende unionsweite Folgen für die Verfügbarkeit von Flächen hat", heißt es im Artikel 27, könne "die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen vorübergehend ausgesetzt werden". Die Aussetzung der Renaturierungsverordnung gilt für zwölf Monate; währenddessen kann sich die EU-Kommission Alternativen zum Gesetz überlegen.

So weit, so gut – es gibt also einen Notausstieg. Aber: Könnte sich die Renaturierung etwa von Mooren, Wäldern oder Küstengebieten nicht auch langfristig und schleichend negativ auf landwirtschaftliche Erträge auswirken, unabhängig von einem etwaigen schwerwiegenden Ereignis?

Es gibt Hinweise darauf, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Die Ernährungssicherheit verbessert sich, statt sich zu verschlechtern. "Wir sind der Ansicht, dass die Wiederherstellung geschädigter und übernutzter Ökosysteme eine Versicherung ist, um die langfristige Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit unserer Lebensmittelsysteme sicherzustellen", heißt es in einer Studie des Joint Research Center (JRC) der EU-Kommission aus dem Jahr 2022. Warum? Mehr bestäubende Insekten, eine bessere Bodenqualität, mehr Bodenorganismen und weniger Versiegelung: All das sind Faktoren, die langfristig die Lebensmittelsicherheit positiv beeinflussen, und damit auch die Preise.

Quantifizieren lasse sich eine etwaige Zunahme der Ernährungssicherheit aber nicht, so die JRC-Studienautoren. Zu vielfältig sind die unterschiedlichen Ökosysteme innerhalb Europas, genauso wie die Möglichkeiten, sie weiter in Richtung Naturzustand zurückzuführen.

Eine klare Meinung zur Frage, ob das Renaturierungsgesetz die Lebensmittelsicherheit gefährdet, hat das österreichische Umweltbundesamt. "Nein", steht knapp und klar auf der Website der Behörde: Ernährungssicherheit sei im Gegenteil gar als "zentrales Ziel der Verordnung definiert".


Einwand zwei: Bürokratie für Bauern

"Ich will nicht, dass unsere Bauern jetzt Schmetterlingszählungen vornehmen müssen." (Reinhold Lopatka, ÖVP-EU-Spitzenkandidat, ORF-Elefantenrunde zur EU-Wahl, 5. Juni)

Zur Aussage von Reinhold Lopatka muss man wissen, dass die EU-Renaturierungsverordnung keine Maßnahmen vorgibt, sondern lediglich Ziele längstens bis zum Jahr 2050. Wie sie konkret erreicht werden, obliegt später – sollte das Gesetz überhaupt zustande kommen – den Mitgliedsstaaten.

Wie aber soll gemessen werden, ob der Grad der Naturnähe in Europa wirklich zunimmt, wie es der Entwurf vorgibt? Diesbezüglich sieht die EU-Verordnung durchaus mehrere Indikatoren vor. Ob eine gesunde Biodiversität vorherrscht, kann etwa mittels Bodenproben herausgefunden werden. Oder aber mit dem sogenannten "Index der Grünlandschmetterlinge", also grob gesagt der Anzahl der umherflatternden Schmetterlinge, die als Bestäuber ökologisch höchst bedeutend sind.

Um festzustellen, ob die Biodiversitätszunahme gelingt, wird es also tatsächlich notwendig sein, die Schmetterlinge zu zählen – bis hierher hat Lopatka recht. Aber: Wer muss das machen? Tatsächlich die Bauern? "Davon ist in der Verordnung keine Rede", erklärt Wolfgang Suske, Ökologe aus Wien und Initiator einer Petition zum Renaturierungsgesetz. Den Schmetterlingsindex gibt es bereits heute; derzeit sind Insektenkundler für ihn verantwortlich. "Und sehr wahrscheinlich wird das auch in Zukunft von Expertinnen und Experten erledigt werden", sagt Suske. Dass es die Bauern machen müssen, steht jedenfalls weder im Verordnungsentwurf, noch war es jemals im vorangegangenen Diskussionsprozess erwogen worden.


Einwand drei: Stilllegungen und Enteignungen

"Es muss ausgeschlossen werden, dass Naturschutzmaßnahmen mehr oder weniger zu verordneten Enteignungen führen." (Peter Kaiser, SPÖ-Landeshauptmann von Kärnten, in der APA, 3. Mai)

Es kursieren allerlei Gerüchte im Zusammenhang mit dem Renaturierungsgesetz. Ein besonders hartnäckiges ist, dass Landwirte zwangsverpflichtet werden sollen, Teile ihrer Flächen stillzulegen, die dann etwa in Hecken oder Brache zurückverwandelt werden. Häufig ist von zehn oder zwanzig Prozent der Anbaugebiete die Rede. Die Landwirte würden also, wenn man so will, enteignet. Eben darauf bezieht sich Peter Kaiser mit seiner Aussage.

In Wahrheit sieht das Renaturierungsgesetz zwar durchaus vor, dass landwirtschaftliche Flächen naturnäher bewirtschaftet werden sollen – um festzustellen, ob das auch gelingt, dienen Instrumente wie der besagte Schmetterlingsindex. Allerdings: Dass zu diesem Zweck Flächen unter Zwang stillgelegt werden müssen, davon ist in der Verordnung nicht nur nicht die Rede – es ist sogar dezidiert ausgeschlossen.

Die Verordnung ziele "nicht darauf ab, die landwirtschaftliche Bodennutzung einzustellen", heißt es im Punkt 54 des Regelwerks. Sondern: Eigentümer, Landwirte und andere Landnutzer sollen "sich freiwillig an solchen Verfahren beteiligen", unter anderem motiviert von "finanziell attraktiven Finanzierungsprogrammen". Die Betonung der Freiwilligkeit stand ursprünglich nicht im Verordnungsentwurf, sondern wurde erst auf Druck der Europäischen Volkspartei (EVP) hineingenommen – aber auch zuvor schon war keine Rede von Zwang. Heißt, Förderungen und Anreize sollen Landwirte dazu bewegen, manche ihrer Flächen stillzulegen. Das sehen bereits heute viele Förder- und Naturschutzprogramme vor, die längst in Kraft sind.

Zum Erreichen der Ziele des Renaturierungsgesetzes müsse "nicht auf Ackerflächen zurückgegriffen werden", heißt es von der Umweltorganisation WWF Österreich. "Fakt ist, dass Österreich seine Ziele gut erreichen kann, wenn man zum Beispiel zubetonierte Flächen entsiegelt und dafür Wälder naturnah gestaltet oder Moore wiedervernässt." Überdies sollen bis 2030 gemäß der Verordnung ohnehin Natura-2000-Schutzgebiete gegenüber Landwirtschaftsflächen priorisiert werden, also bestehende Naturschutzgebiete. Sie sollen also noch naturnäher gestaltet werden, als sie es bereits heute sind. (Joseph Gepp, 17.6.2024)


hier Frankfurter Rundschau  18.06.2024,Von: Jörg Staude

Drohen nun Enteignungen?

Das von der EU verabschiedete Naturwiederherstellungsgesetz fordert mehr Biodiversität. Die Landwirtschaft befürchtet, dass Agrarflächen für den Naturschutz geopfert werden.

Es sei „ein historischer Tag. Ein Meilenstein für Natur und Mensch“: Umweltschutzorganisationen sparen nicht mit Superlativen. Nachdem das Renaturierungsgesetz auf der Kippe stand, haben es die EU-Umweltminister:innen am Montag verabschiedet. Das unerwartet positive Votum Österreichs gab den Ausschlag.

Mit diesem Teil des europäischen Green Deals sind die EU-Länder nun verpflichtet, schon bis 2030 ein Fünftel der Land- und Meeresflächen ökologisch wiederherzustellen und den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Es geht um die Wiedervernässung von Mooren, die Renaturierung von Flussauen, den Umbau zu Mischwäldern, die Einrichtung von Biotopzonen, weniger Agrarchemie und die sogenannte gute fachliche Praxis in der Landwirtschaft.

Schon im April wies der Umweltrechtler Wolfgang Köck bei einer Pressekonferenz in Berlin auf den Zusammenhang von Renaturierung und Klima hin. 


Klimaschutz könne nicht gelingen ohne die Wiederherstellung der Natur,
und Klimaanpassung könne nicht gelingen,
ohne dass Renaturierung ernst genommen werde

 betonte der Experte vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ).


Entsprechende Regelungen sollten jedoch zusammen mit Landnutzer:innen, Organisationen und Öffentlichkeit entwickelt und umgesetzt werden, warnte Köck. Nur so ließen sich Lösungen finden, die vor Ort akzeptiert werden und sowohl dem Naturschutz als auch der Land- und Waldwirtschaft langfristig Vorteile bringen. Auch dürften die Renaturierungskosten Landnutzende nicht überfordern. Diese Kosten seien durch öffentliche Gelder abzufedern, forderte der Umweltsachverständige. Dafür gebe es eine Reihe europäischer wie nationaler Finanzierungsinstrumente, etwa das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz oder auch die Städtebauförderung.
Köck: „Die Förderung des Umbaus ist essenziell für den Erfolg der Renaturierung.“

Was nämlich Naturschutzorganisationen begrüßen, erfreut Vertreter:innen von Landwirtschaft weniger: Viele befürchten Teile ihrer Flächen stilllegen zu müssen, die dann etwa in Hecken oder Brache zurückverwandelt werden.
Neben der Förderung gilt deswegen die Freiwilligkeit als zweite Säule deutscher Naturschutzpolitik.

Im April bezweifelten Köck und Josef Settele – ebenfalls Forscher am UFZ und wie Köck Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen -, dass man mit diesen beiden Prinzipien wirklich Fortschritte bei der Renaturierung erzielen könne.

Allein auf Freiwilligkeit zu setzen reicht nicht

Aus Sicht des Umweltrechtlers Köck erfordert die „Transformationsaufgabe“ Renaturierung einen rechtlichen Rahmen, der ihre Erfüllung ermöglicht und nicht „ausschließlich vom Konsens aller abhängig macht“. Bleibe man beim Ansatz der Freiwilligkeit, gebe es keinen Rechtsrahmen, der es ermögliche, Landschaft auch neu zu gestalten, erklärte Köck eindringlich. „Dann werden wir einen Flickenteppich bekommen.“ Mit dem Flickenteppich kämpfen seit Jahren Initiativen, die zum Beispiel Moore wiedervernässen wollen. Einzelne Eigentümer:innen von Wald-, Grünland- oder Ackerflächen blockieren eine Renaturierung teilweise auf Jahre hin.

Anders verhält es sich in Deutschland beim Bergbau oder bei Infrastrukturprojekten wie neuen Straßen oder Stromtrassen. Widerspenstige werden hier meist schnell mit der Drohung einer Enteignung zur Räson gebracht. Wenn sich dagegen bei Moorprojekten die unterschiedlichen Eigentümer:innen nicht einigen, kann die Wiedervernässung der gesamten Fläche scheitern, darauf weisen auch die Sachverständigenräte in ihrer Stellungnahme hin. Daher sei fraglich, ob die bislang rein freiwilligen Ansätze der Moorschutzstrategie mittelfristig ausreichten, heißt es in dem Gutachten. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat auf 90 Seiten zusammen mit zwei weiteren Sachverständigengremien für Biodiversität und für Waldpolitik aufgeschrieben, wie die verbliebene Natur nicht nur erhalten, sondern der Zustand geschädigter Ökosysteme stärker als bisher verbessert werden kann.

Einheitliche Regelung gefordert

Darauf deute auch die auf Freiwilligkeit basierende Umsetzung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie hin, deren Ziele nicht zuletzt aufgrund dieses Ansatzes deutlich verfehlt werden, wird der Vergleich mit einem früheren Gesetzeswerk gezogen. Auch nach Ansicht der Umwelt-Sachverständigen gibt das Recht dem Staat die Möglichkeit, private Grundeigentümer:innen aus Gründen des Allgemeinwohls dazu zu verpflichten, zum Beispiel Wiedervernässungsmaßnahmen zu dulden. Als ultima ratio seien auch Enteignungen rechtlich möglich, räumt die Stellungnahme der Fachleute ausdrücklich ein. Dann müssten die Eigentümer:innen Ausgleichs- beziehungsweise Entschädigungszahlungen erhalten.

Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sollten nach Auffassung der Sachverständigenräte bundesweit einheitlich geregelt und rechtssicher ausgestaltet werden. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass unter großem Aufwand vorbereitete Projekte vor Gerichten an verfassungsrechtlichen Voraussetzungen scheitern.

„Immer mehr Auflagen und Verbote“

Dass sich hinter dem Renaturierungsgesetz grundsätzliche Fragen verbergen, wissen auch dessen Kritiker:innen genau. Das Gesetz stehe für Überregulierung und Bürokratie und sei eine weitere „Bürde für eine nachhaltige multifunktionale Forstwirtschaft“, beschwerte sich noch am Montag die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände.

„Leider geht Brüssel mit diesem Gesetz erneut den Weg von immer mehr Auflagen und Verboten, statt auf Kooperation mit der Forstwirtschaft, Freiwilligkeit und Anreize zu setzen“, kritisierte Carl Anton Prinz zu Waldeck und Pyrmont vom AGDW-Präsidium.

Bleibt nur das Problem: Kooperation, Freiwilligkeit und Anreize, also Förderung, haben bisher nicht verhindert, dass rund 80 Prozent der geschützten natürlichen Lebensräume in Europa geschädigt sind. Das Thema scheint bisher wirklich sehr vernachlässigt worden zu sein.


Hier NABU

kennen Sie das Gefühl, wenn Ihre Emotionen Achterbahn fahren? Wenn sich Trauer und Freude binnen weniger Stunden abwechseln? So geht es gerade uns und vielen anderen Naturschützer*innen.

Zuerst der Schock: das Ergebnis der Europawahl. Und dann wenige Tage später Jubel und Freude: Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law) nimmt die letzte Hürde und wird im Europäischen Rat endgültig beschlossen. Ein riesiger Erfolg, an den einige schon nicht mehr geglaubt hatten. Warum das Gesetz ein Meilenstein ist: 

EU verabschiedet Gesetz zur Renaturierung: Wichtiger Meilenstein für Natur in Europa

Die EU-Mitgliedsstaaten haben dem EU-Renaturierungsgesetz zugestimmt. Damit ist der Weg endlich frei für ein weltweit einmaliges Gesetz zur Wiederherstellung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

17. Juni 2024 – Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten hat am heutigen Montag – entgegen vieler Widerstände – ein wichtiges Zeichen gesetzt und das Renaturierungsgesetz (Nature Restoration Law) verabschiedet. Dieses Gesetz verpflichtet alle EU-Mitgliedstaaten, zerstörte Natur wieder in einen guten ökologischen Zustand zu bringen und so den Bestand von Bestäubern, natürlichen Ressourcen, sauberer Luft und sauberem Wasser zu sichern.

Die Einigung im Rat war möglich geworden, da die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler in einer Pressekonferenz am Sonntagnachmittag, 16. Juni, ihre Zustimmung angekündigt hatte und die Slowakei als Wackelkandidat das Gesetz doch unterstützte. Somit gab es trotz Ungarns Meinungswechsel hin zu den Gegnern des Gesetzes eine neue Mehrheit.

Das ist ein großer Erfolg, denn nur intakte Ökosysteme versorgen uns nachhaltig mit natürlichen Ressourcen. Nur gesunde Böden und die Vielfalt unserer Bestäuber sichern die Nahrungsmittelproduktion und niedrige Lebensmittelpreise. Nur mit Hilfe unserer Natur können wir die Klimakrise und ihre Folgen mildern.

Heute ist nicht nur ein guter Tag für die Natur, sondern auch für die Demokratie!

Jörg-Andreas Krüger,

NABU-Präsident

Renaturierung an der Havel - Foto: Klemens Karkow

Damit das EU-Renaturierungsgesetz in Deutschland zum Erfolg werden kann, braucht es eine ambitionierte Umsetzung auf nationaler Ebene. „Ein solches nationales Gesetz zur Rettung der Natur muss den Naturschutz wieder auf eine Ebene mit den anderen Nachhaltigkeitspolitiken des Landes bringen. 

Die polarisierenden und von Fake News geprägten Debatten um das EU-Gesetz dürfen sich dabei nicht wiederholen”, warnt Stephan Piskol, Referent für Renaturierung und natürlichen Klimaschutz.

Das Ja zur Wiederherstellung unserer Natur muss auch den frisch gewählten Abgeordneten im Europaparlament neuen Aufwind geben. Jetzt gilt es, den Green Deal konsequent zum Erfolg zu führen.

Mir zeigen die vergangenen Tage einmal mehr: Mit einem langen Atem und Hartnäckigkeit ist trotz einiger Rückschläge alles möglich. Hoffentlich können auch Sie daraus Kraft für Ihren Einsatz für die Natur schöpfen. Für noch mehr gute Gefühle lege ich Ihnen heute besonders unsere neue Vogelpodcast-Folge „Nestgeflüster“ ans Herz. Nur so viel: Es wird flauschig und kuschelig.

Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende.

Benedikt Dittrich, Online-Redakteur

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