Mittwoch, 26. Juni 2024

Es muss mehr getan werden, um die Energiewende zu einem Erfolg zu machen - „politischen Handlungsbedarf in nahezu allen Bereichen der Energiewende“


Handelsblatt hier  Klaus Stratmann  26.06.2024

 Klimaziele: „Politischer Handlungsbedarf in nahezu allen Bereichen der Energiewende“

Die eigene Expertenkommission attestiert der Ampelkoalition bei ihren Klimazielen bis 2030 zwar einige positive Entwicklungen. Doch die Liste der Mängel ist lang.

Defizite beim Ausbau der Netze, beim Bau neuer Gaskraftwerke und bei der Diversifizierung der Erdgasbezugsquellen: Die Mängelliste der Expertenkommission zum Energiewende-Monitoring ist lang.

Es müsse mehr getan werden, um die Energiewende zu einem Erfolg zu machen, sagte Andreas Löschel, Vorsitzender der Expertenkommission, am Mittwoch bei der Präsentation des neuesten Berichts. Die Kommission sieht „politischen Handlungsbedarf in nahezu allen Bereichen der Energiewende“.

Das Energiewende-Monitoring ist eine Art Zeugnis für die Arbeit der Bundesregierung. Minutiös listen die vier Expertinnen und Experten – neben Löschel sind das Veronika Grimm, Felix Matthes und Anke Weidlich – Stärken und Schwächen auf. Die damalige Bundesregierung hatte die Kommission 2011 eingesetzt.

Bei diesen Klimazielen steht die Ampel gut da

Zufrieden sind die Fachleute mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien.
2023 stammten 51,6 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Quellen. Im Jahr zuvor hatte der Anteil bei 46,2 Prozent gelegen. Die Kommission wertet das als eine „positive Entwicklung“.

Die Ampelkoalition hatte 2021 ehrgeizige Ziele für den Erneuerbaren-Ausbau definiert und eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die dazu beitragen, den Ausbau zu beschleunigen.

Diese Maßnahmen wirken nun. Insbesondere der Ausbau der Photovoltaik kommt zügig voran. Das hat allerdings auch negative Folgen: Die Stromverteilnetze stoßen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen. Außerdem kommt es immer häufiger zu Phasen, in denen die Strompreise an der Börse tief absacken, weil mehr Strom angeboten wird, als sinnvoll genutzt werden kann.

In diesen Bereichen läuft es weniger gut

Weniger entspannt schauen die Kommissionsmitglieder auf das Thema Versorgungssicherheit in der Stromerzeugung. Felix Matthes verwies darauf, dass der Bestand sogenannter steuerbarer Kraftwerkskapazitäten schrumpft. Das sind beispielsweise Steinkohle- oder Braunkohlekraftwerke. Aufgrund des Kohleausstiegsgesetzes werden sie schrittweise abgeschaltet.

Dadurch entsteht eine Lücke, die die Bundesregierung mit ihrer Kraftwerksstrategie schließen möchte. Es soll Anreize geben für den Bau von Kraftwerken, die zunächst mit Erdgas und später mit klimaneutralem Wasserstoff betrieben werden können.

Diese Kraftwerke sollen möglichst 2030 in Betrieb gehen, was allerdings kaum noch zu schaffen ist. Der zeitliche Vorlauf für den Bau eines Gaskraftwerks beträgt mindestens sechs Jahre.

Die Bundesregierung ist somit in Verzug. Zu Jahresbeginn hatte das Bundeswirtschaftsministerium zwar Eckpunkte der Strategie vorgestellt; Details stehen aber immer noch aus. Insbesondere die beihilferechtliche Genehmigung durch die EU-Kommission erweist sich als problematisch.

Matthes sieht ein weiteres Problem: Die Kraftwerksstrategie sei „viel zu knapp bemessen“. Nach den Plänen des Bundeswirtschaftsministeriums soll es Ausschreibungen für Kraftwerkskapazitäten im Umfang von zehn Gigawatt (GW) geben. Das entspricht etwa 20 großen Kraftwerksblöcken – aber das wird nach Einschätzung der Kommission bei Weitem nicht ausreichen.

„Wir sind in einer sich verschärfenden Situation“, sagte Matthes. Der Ökonom empfiehlt dringend, so schnell wie möglich eine Anschlusslösung für die Kraftwerksstrategie zu finden und damit für den Bau weiterer Kraftwerke nach 2030 zu sorgen.

Das Bundeswirtschaftsministerium hat angekündigt, für die Zeit ab 2030 sogenannte Kapazitätsmechanismen zu entwickeln, um den Bau weiterer Gaskraftwerke reizvoll zu machen. Betreiber sollen dann dafür bezahlt werden, dass sie ein Kraftwerk in Betriebsbereitschaft halten, und nicht für jede produzierte Kilowattstunde Strom. Von klaren Antworten auf die Frage, wie genau solche Mechanismen ausgestaltet werden, ist das Bundeswirtschaftsministerium jedoch noch weit entfernt.

Mit Blick auf die Sicherheit der Gasversorgung sieht die Expertenkommission deutliche Fortschritte seit 2022. Da wurde mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas zu einem massiven Problem.

Matthes sagte, Deutschland habe in dieser herausfordernden Situation recht schnell „signifikante Fortschritte“ erzielt. Insbesondere sei es mit Blick auf die Versorgungssicherheit richtig gewesen, rasch eine Importinfrastruktur für verflüssigtes Erdgas („liquefied natural gas“, LNG) aufzubauen.

Diesen Aspekt dürfe man aber nicht nur aus deutscher Perspektive betrachten, sagte Matthes. Er verwies auf die hohe Abhängigkeit mittel- und osteuropäischer Länder, die heute noch russisches Pipelinegas beziehen, zum Beispiel Österreich. Die deutsche LNG-Infrastruktur könne diesen Ländern dabei helfen, unabhängig von russischem Erdgas zu werden.

Nach wie vor sieht Matthes eine hohe Importkonzentration beim Erdgas. „Das bleibt ein Problem“, sagte er. Stattdessen steht nun Norwegen – jahrelang auf Platz zwei der Lieferanten – mit deutlichem Vorsprung auf dem ersten Platz.

Rückkehr zu Freileitungen empfohlen

Deutliche Schwächen sieht Kommissionsmitglied Veronika Grimm beim Netzausbau. Er müsse besser koordiniert werden. Grimm fordert, nicht nur den Ausbau der Strom-, Erdgas- und Wasserstoffnetze künftig systematisch aufeinander abzustimmen, sondern auch Pläne für ein Kohlendioxid-Transportnetz einzubeziehen.

Mit Blick auf das Stromübertragungsnetz empfiehlt sie, künftig den Vorrang für eine Erdverkabelung aufzugeben und stattdessen auf Freileitungen zu setzen. „Die Erdverkabelung ist teurer und macht den Ausbau streckenweise langsamer“, sagte sie.

Seit 2015 ist der Vorrang für die Erdverkabelung gesetzlich vorgeschrieben. Die Politik wollte damals die Akzeptanz für neue „Stromautobahnen“ erhöhen. Zuvor hatte es massive Proteste gegeben.

Grimm greift damit einen viel diskutierten Punkt auf. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat sich aus der Debatte über eine Rückkehr zur Freileitung bislang zurückgehalten und auf die Länder verwiesen. Unter den Ländern deutet sich allerdings eine Ablehnung einer Rückkehr zu Freileitungen an.

Experten pochen auf Energiepreisreform

Für überfällig halten die Experten eine Reform der Energiepreise. Sie begrüßen, dass die Bundesregierung seit 2023 die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) komplett aus dem Bundeshaushalt bestreitet.

Zuvor wurde die EEG-Umlage bei allen Stromverbrauchern auf die Stromrechnung umgelegt. „Die Umfinanzierung der EEG-Umlage hat etwas Druck von der Endverbraucherseite genommen“, sagte Löschel.

Was die Strommarktreform der EU für Verbraucherinnen und Verbraucher bedeutet

Aus Sicht der Experten müssen weitere Schritte folgen. Sie fordern, die Stromsteuer für alle Stromverbraucher zu senken. Ende vergangenen Jahres hatte die Koalition die Stromsteuer für das gesamte produzierende Gewerbe gesenkt. Doch das reicht nach Ansicht der Kommission nicht aus.

Der Zuschuss des Bundes zu den Übertragungsnetzentgelten war aus Sicht der Kommission der richtige Schritt, um die Netzentgelte zu dämpfen. Allerdings musste der Bund den Zuschuss in Höhe von 5,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr wegen der angespannten Haushaltslage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts streichen.

Die Netzentgelte sind zu einem der größten Kostentreiber der Energiewende geworden. Sie variieren regional. In einigen Fällen machen sie deutlich mehr als ein Drittel der Stromkosten aus – und sie dürften auch weiter steigen.

Die Netzbetreiber müssten enorm investieren, sagte Kommissionsmitglied Anke Weidlich. Sie bezog sich damit auf die Betreiber der Verteilnetze. Die Verteilnetze sind die regionalen Stromnetze, die den Strom bis zum Hausanschluss bringen. Diese Netze müssen ausgebaut werden, weil sie im Zuge der Energiewende zusätzliche Funktionen übernehmen.

Immer mehr Photovoltaikanlagen müssen in die Netze integriert werden, denn elektrische Wärmepumpen und Elektromobilität erhöhen den Strombedarf. Weidlich sagte, es sei „extrem wichtig“, die Verteilnetzbetreiber – in vielen Fällen sind das die Stadtwerke – in die Lage zu versetzen, die erforderlichen Investitionen zu stemmen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen