Samstag, 1. Juni 2024

Die Welle der Demografie-Krise rollt heran

Ich beschäftige mich schon länger mit dem Thema "Demografie". Ebenso wie die Klimakrise und die Krise der Biodiversität wird auch diese Welle uns überrollen und wir sind nicht vorbereitet.

Man sollte eines nicht vergessen: 

Noch nie gab es so viele Menschen auf der Erde wie heute. Noch nie wurden die planetaren Grenzen so massiv überschritten wie heute. Daher kann eine Konservierung der heutigen Situation niemals Ziel sein.

 Und das würde auch niemals gelingen, das wurde mir durch diesen Artikel bewusst. Das Niveau wird sich nach dem "Boomer-Hoch"  nicht einfach auf einem niedrigeren Niveau einpendeln und fertig.


Focus hier   FOCUS-online-Gastautor Heiko Rehmann, 31.05.2024

Demografie-Spezialist schlägt Alarm: Wie Geburtenrate und Migration unsere Zukunft bestimmen

In Deutschland leben so viele Menschen wie nie und dennoch bedroht der demografische Wandel unsere Zukunft ebenso massiv wie der Klimawandel. Das liegt an einigen oftmals übersehenen Zusammenhängen, weshalb wir die Dynamik und die Folgen der bevorstehenden Veränderungen häufig falsch einschätzen.

Wir fürchten uns vor dem Falschen!

Immer lauter ruft die Wirtschaft nach Fachkräften und findet sie immer seltener. Doch was wir gerade erleben, ist erst ein laues Lüftchen im beginnenden Sturm des demografischen Wandels, der langsam aber mächtig heraufzieht. Nach einem kurzen Zwischenhoch ist die deutsche Geburtenrate in den beiden zurückliegenden Jahren abgestürzt und kündigt damit an, was der ganzen Welt bevorsteht. Ein Forscherteam der University of Washington berichtet im Fachblatt „The Lancet“, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts die Bevölkerung in 198 von 204 Ländern der Erde schrumpfen wird.

Zwar leben aktuell so viele Menschen in Deutschland wie nie zuvor in unserer Geschichte. Allerdings ist das Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre ausschließlich der Zuwanderung zu verdanken und ändert auf lange Sicht nichts an unseren demografischen Problemen, da es die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung nur vorübergehend aufhalten, aber nicht auf Dauer stoppen kann. Zudem wird es in Zukunft immer schwieriger werden, unseren Geburtenmangel durch Zuwanderung zu kompensieren, da immer mehr Länder um immer weniger qualifizierte Zuwanderer konkurrieren werden.

Doch warum fällt uns diese drohende Gefahr meistens überhaupt nicht auf?

Dynamik der Bevölkerungsentwicklung

Demografische Veränderungen können wir im Horizont unseres eigenen Lebens nicht überblicken. Mit einer Beispielrechnung lässt sich aber leicht verdeutlichen, wie dramatisch sich die Bevölkerungszahl eines Landes innerhalb weniger Generationen verändern kann:

1000 Frauen und 1000 Männer (also 2000 Personen) bekommen bei der aktuellen deutschen Gesamtfruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern pro Frau 1400 Kinder. Das sind 700 Männer und 700 Frauen. Wenn diese im Schnitt wiederum 1,4 Kinder bekommen, sind das 980 Nachkommen. Die dritte Generation ist also nur noch halb so groß wie die erste! Die fünfte schrumpft auf ein Viertel, die siebte auf ein Achtel der Ausgangsgröße.

Heiko Rehmann

Heiko Rehmann studierte Philosophie, Germanistik, Vergleichende Religionswissenschaft und Demografie in Tübingen, Berlin und Edinburgh. Heute arbeitet er als freier Journalist und Gymnasiallehrer in Stuttgart, hält Vorträge und spricht Podcasts ein. Er untersucht den Einfluss von ideengeschichtlichen und demografischen Entwicklungen auf unsere heutige Gesellschaft, insbesondere die Themen Freiheit und Verantwortung, Individuum und Gesellschaft, Demografie und Migration.

Da die Zahl potentieller Mütter in jeder neuen Generation geringer ist als in der vorangegangenen und diese wiederum weniger Kinder bekommen, als zur Bestandserhaltung nötig wären (2,1 Kinder pro Frau), schrumpft die Bevölkerung von Generation zu Generation immer schneller, denn Frauen die nie geboren wurden, können keine Kinder bekommen. Ab einem bestimmten Punkt wird diese exponentielle Bevölkerungsschrumpfung nicht mehr zu stoppen sein, weil es nicht mehr genügend potentielle Mütter geben wird, um eine Wende einzuleiten. Wir werden dann in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale gefangen sein.

„In zwei Generationen ist die Sache gegessen“, sagt Harald Michel, Leiter des Instituts für angewandte Demographie in Berlin. „Eine Änderung ist dann nicht mehr möglich.“

Solange der Berg der Babyboomer das klein gewordene Häuflein zukünftiger Eltern verdeckt, fällt uns die demografische Katastrophe noch nicht auf. Diese braucht Jahrzehnte, um sichtbar zu werden, ist dann aber kaum noch zu korrigieren. Bekämen wir von morgen an wieder 2,1 Kinder pro Frau, so würde die Bevölkerung noch ein halbes Jahrhundert lang schrumpfen und sich erst dann bei rund 40 Millionen Einwohnern stabilisieren, denn die Geburtenrate hängt von der Gesamtfruchtbarkeitsrate (total fertility rate kurz TFR) und der Anzahl gebärfähiger Frauen ab.

Solange diese schrumpft, schrumpft auch die absolute Zahl an Geburten, selbst wenn die Gesamtfruchtbarkeitsrate wieder steigt. Die Geburtenrate gibt die Zahl der Geburten pro 1000 Einwohner pro Jahr an, während die Gesamtfruchtbarkeitsrate aussagt, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn sie sich so verhalten würde, wie die Frauen eines bestimmten Jahres. Im Jahr 2023 lag diese in Deutschland bei 1,36 Kindern pro Frau.

Mathematik ist nicht bestechlich

Häufig hört man den Einwand: „Aber Prognosen sind doch immer unsicher!“ Demografen erstellen jedoch keine Prognosen, sondern Vorausberechnungen: Alle Frauen, die in den kommenden 15 Jahren potentiell Kinder bekommen können, sind schon geboren. Diese Zahl kennen wir also exakt. Wenn wir die seit den siebziger Jahren ziemlich stabile Gesamtfruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern pro Frau zugrunde legen, können wir auch die Zahl ihrer Kinder berechnen. Wenn diese genau so wenig Kinder bekommen, wovon bislang alle Fachleute ausgehen, lässt sich auch die Größe der nächsten Generationen exakt berechnen.

Solche Rechnungen führen zu den sichersten Voraussagen, die wir überhaupt machen können: Eine Vorausberechnung der UNO konnte im Jahr 1958 die Weltbevölkerung des Jahres 2000 mit einer Abweichung von 3,5 Prozent bestimmen!

Folgen des demografischen Wandels

Wenn ab 2025 die Babyboomer der 1960iger Jahre das Rentenalter erreichen, geraten die Sozialsysteme in Schieflage, weil immer weniger Steuerzahler immer mehr Rentner finanzieren müssen. Früher oder später werden sie kollabieren. Schon heute bezuschussen wir die gesetzliche Rentenversicherung jährlich mit mehr als 100 Milliarden Euro aus Steuermitteln. Geld, das heutige Rentner verzehren, soll in der Zukunft von Kindern zurückgezahlt werden, die nie geboren wurden! Dabei lebt die Rentenversicherung von der Hand in den Mund: Was wir heute einzahlen, landet morgen auf dem Konto eines Ruheständlers.

Wir täuschen uns, wenn wir glauben, mit unseren Beiträgen ein Polster für die eigene Zukunft anzulegen. Wenn wir nicht genügend zukünftige Beitragszahler aufziehen, kann der Generationenvertrag nicht funktionieren. Dazu kommt noch der Schuldenberg aus den gegenwärtigen fetten Jahren, der mit der Bevölkerung natürlich nicht mitschrumpfen wird.
Zu Recht warnte der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Heinsohn davor, dass Deutschland seine wenigen jungen Talente steuerlich überfordern und letzten Endes ins Ausland treiben könnte.

Aber auch wenn wir privat sparen, wird uns das weniger helfen als wir glauben, denn wir können nicht heute die Brötchen backen, die wir morgen essen wollen und ein dickes Bankkonto wird keine Senioren pflegen. Je weniger Arbeitskräfte es in Zukunft geben wird, desto teurer werden sich diese bezahlen lassen. Dieser Entwicklung hinterher zu sparen, ist ein Wettlauf, den wir nicht gewinnen können. Die wachsenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt werden wir  mit Geld nicht stopfen können. Wer an der einen Stelle abgeworben wird, fehlt dafür anderswo. Demografie lässt sich nicht überlisten. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft.

Darüber hinaus verursacht der demografische Wandel noch weitere Probleme:

Die Immobilienmärkte und die Infrastruktur unseres Landes sind für die gegenwärtige Anzahl an Bewohnern ausgelegt. Die bevorstehende Bevölkerungsimplosion wird Billionenwerte nutzlos machen, deren Rückbau weitaus schwieriger zu organisieren sein wird, als es der Aufbau war. Zudem wird unsere Innovationskraft geringer werden. Wer alt ist, geht meist keine neuen Risiken mehr ein. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen drohen zusammenzubrechen, was allein bis zum Jahr 2030 Wohlstandsverluste von 630 Milliarden Euro nach sich ziehen könnte, wie die Beratungsgesellschaft Korn-Ferry berechnet hat.

Warum Zuwanderung keine Lösung ist

Man hört es an diesem Punkt fast reflexhaft: „Ja, aber wir können doch Einwanderer holen!“ Dies ist auch genau das Ziel, das die Bundesregierung mit der 2012 beschlossenen Demografiestrategie und dem neuen Einwanderungsgesetz verfolgt. Tatsächlich wären wir ohne die Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte schon heute nur noch 63 Millionen, wie das Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung vom 1.8.2017 berichtet. Was bisher noch leidlich funktioniert hat, wird in Zukunft jedoch neue Probleme schaffen.

Um die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren konstant zu halten, müssten bis 2050 24 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern, wie die Vereinten Nationen im Jahr 2001 in ihrer Studie „replacement migration“ gezeigt haben. Aktuell fordert die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer 1,5 Millionen Einwanderer pro Jahr, um den Fachkräftemangel zu kompensieren.

Einwanderer aus Europa, die eine hohe Qualifikation und eine ähnliche Mentalität mitbringen und sich meist problemlos integrieren, wird es in Zukunft allerdings immer weniger geben, da alle unsere Nachbarländer dieselben Probleme haben.

Wir werden Zuwanderer vor allem aus dem arabischen und afrikanischen Raum gewinnen können, da nur hier die Bevölkerungen noch bis zur Mitte des Jahrhunderts wachsen. Diese sind allerdings in den wenigsten Fällen qualifiziert genug für den deutschen Arbeitsmarkt. Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme wäre die Folge, was unsere Probleme nicht lösen sondern sogar noch weiter verschärfen würde. Und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird es schwierig werden, überhaupt noch Zuwanderer zu gewinnen, da dann fast alle Staaten der Welt mit den selben Problemen kämpfen werden, denn mittlerweile lässt sich beobachten, dass die meisten Länder die gesellschaftliche und demografische Entwicklung Europas im Zeitraffer nachvollziehen.

Selbst in etlichen afrikanischen Ländern sind die Geburtenraten in den vergangenen Jahren regelrecht abgestürzt. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird nicht mehr die Bevölkerungsexplosion das bestimmende Thema sein sondern der weltweite Mangel an Arbeitskräften.

Doch selbst wenn es uns gelänge, genügend qualifizierte Zuwanderer anzuwerben, könnten wir damit das demografische Problem nicht lösen, denn wir müssten die Zuwanderung aufgrund der exponentiellen Bevölkerungsschrumpfung von Generation zu Generation immer weiter steigern, ohne dass wir damit am zugrunde liegenden Problem der viel zu niedrigen Gesamtfruchtbarkeitsrate etwas ändern würden. Diese liegt nämlich bei qualifizierten Zuwanderern kaum höher als bei Einheimischen. Daher kann eine qualifizierte Zuwanderung zwar vorübergehend die Löcher am Arbeitsmarkt stopfen, eine nachhaltige Lösung ist das jedoch nicht.

Zuwanderung als situative Lösung eines strukturellen Problems ist daher so sinnvoll wie der Versuch, ein Fass voller Löcher mit Wasser zu füllen.

Außerdem würde es immer schwieriger werden, unser Bildungsniveau zu halten, da auch die Kinder gebildeter Einwanderer möglichst gut Deutsch lernen müssen, wenn sie eine höhere Bildung erreichen wollen. Das wird jedoch um so schwieriger, je weniger Muttersprachler in ihrem Umfeld leben. Ein sinkendes Bildungsniveau wäre jedoch fatal.

Zudem ist es keineswegs sicher, dass einer erfolgreichen Integration in den Arbeitsmarkt auch eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft und Kultur folgt. Fachliche Qualifikation zieht nicht automatisch eine westliche Lebenshaltung nach sich.

Da die Einstellungen und Werte eines Menschen in erster Linie von den Eltern geprägt und von Generation zu Generation in den Familien weitergegeben werden, hat der Staat viel weniger Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Zuwanderer als er denkt. Wir können entscheiden, wer und wie viele kommen. Was aus ihnen und ihren Kindern wird, liegt nur noch begrenzt in unserer Hand.

Auch kann niemand vorhersagen, ob und wie das Zusammenleben in einer immer vielfältigeren und sich permanent wandelnden Gesellschaft funktionieren wird.

Daher geht jede Gesellschaft, die Zuwanderer in relevanten Größenordnungen aufnimmt, ein Risiko ein. Die Regeln des Zusammenlebens müssten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer wieder neu ausgehandelt werden. Das soziale Vertrauen, ohne das unser Zusammenleben nicht funktioniert, verringert sich mit zunehmender ethnischer Diversität, wie der Soziologe Robert Putnam in einer vielbeachteten Studie nachgewiesen hat. Gesellschaftliche Instabilität und Konflikte könnten die Folge sein.

Wenn die Gesamtfruchtbarkeitsrate auf dem gegenwärtigen Niveau bleibt und wenn wir das Problem nur durch Zuwanderung zu lösen versuchen, wird es ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Mehrheitsgesellschaft mehr geben, in die sich die Ankommenden integrieren könnten. 
Zwar werden die Einwanderer im Lauf der Zeit zu Deutschen und können den Neuankömmlingen der nächsten Generation bei der Integration helfen. Da Integration aber Zeit braucht und da sich die genannten Prozesse immer mehr beschleunigen, droht der Faden der kulturellen Überlieferung abzureißen. In zwei bis drei Generationen könnte Deutschland zu einem Vielvölkerstaat werden, in dem es kein Band mehr gibt, das die verschiedenen Gruppen zusammenhält, wie der Demograf Herwig Birg befürchtet. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, ob dieses irreversible Experiment gelingen wird.

„Kulturell und sozial wird das nicht machbar sein“, ist sich Harald Michel jedoch sicher.

Beispielrechnung für je 1000 Männer und 1000 Frauen :   Ab der dritten Generation müssten bei einer konstanten Fruchtbarkeitsrate von 1,4 Kindern mehr Zuwanderer und deren Nachfahren als „Biodeutsche“ in Deutschland leben, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten.

Was zu tun ist

Wir können den Bevölkerungsrückgang eine Zeit lang kompensieren, indem wir die Produktivität steigern, sowie die Frauenerwerbsquote und das Renteneintrittsalter erhöhen. Diese Maßnahmen werden in absehbarer Zeit allerdings weitgehend ausgereizt sein. Der Ökonom Thomas Straubhaar sieht in der künstlichen Intelligenz und der zunehmenden Roboterisierung eine weitere Lösungsmöglichkeit, übersieht dabei jedoch, dass Maschinen keine Steuern bezahlen und auch keine gesellschaftlichen Strukturen aufrechterhalten können. Oder möchten Sie Ihre Kinder von Computern unterrichten lassen und im Alter von Robotern betreut werden?

Somit bleibt nur noch die Möglichkeit, die Zuwanderung zu steigern, oder die Geburtenrate zu erhöhen. Dass letzteres möglich ist, haben schon etliche Länder bewiesen. Frankreich und die skandinavischen Länder erreichen bereits seit Jahrzehnten konstant hohe Geburtenraten durch eine gute Kinderbetreuung und durch gezielte steuerliche Anreize, die vor allem die Geburt zweiter und dritter Kinder fördern.

Unsere Probleme hängen offensichtlich mit der Struktur unserer Gesellschaft zusammen und sind durch Zuwanderung nicht dauerhaft zu lösen, da diese nur Lücken stopft, ohne die Ursachen des Defizits zu beheben. Daher müssen wir die Strukturen verändern, die für die niedrige Geburtenrate verantwortlich sind. Auch wenn das nicht einfach sein wird, müssen wir es zumindest versuchen, denn schließlich geht es um unsere Zukunft.

Familie und Beruf

Eine dieser dysfunktionalen Strukturen ist die Konstruktion unseres Generationenvertrages, die schon mehrfach vom Bundesverfassungsgericht gerügt wurde: Eltern investieren etwa 175.000 Euro mehr in jedes Kind, als sie über Steuererleichterungen und Familienleistungen wieder zurückbekommen, wie die Verbraucherzentrale Bayern errechnet hat. Da Kinder aber über ihre Abgaben das gesamte Sozialsystem mitfinanzieren, wenn sie erwachsen sind, profitiert momentan derjenige am meisten von Kindern, der keine hat. Nicht einmal die SPD thematisiert diese selbstzerstörerische Ungerechtigkeit.

Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass Frauen und Männer in modernen Gesellschaften in einen Zwiespalt geraten, den traditionelle Gesellschaften fast gar nicht kennen: Das Leben mit Kindern steht anderen Lebensentwürfen gegenüber und schließt diese teilweise aus. Beruf und Kind lassen sich oft nur schwer unter einen Hut bringen. Den Verzicht auf das Einkommen einer Ärztin oder Juristen, also die sogenannten Opportunitätskosten, kann auch das höchste Kindergeld nicht ausgleichen und es kann Frauen auch nicht den Sinn und die Erfüllung geben, die ein Beruf mit sich bringt. Natürlich bringen auch Kinder eine Erfüllung, die der Beruf wiederum nicht geben kann, aber oftmals reicht das eben nicht aus, um sich für Kinder zu entscheiden.

Martin Bujard, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB), hat in seiner Studie „Familienpolitik und Geburtenrate“ nachgewiesen, dass alle Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern, einen signifikanten Einfluss auf die Geburtenrate haben - wie etwa Teilzeitangebote und eine gute Betreuungsinfrastruktur für Kinder. Insbesondere Kita Plätze für unter Dreijährige wirken sich positiv aus. Das ist auch nicht überraschend. Verringert sich doch gerade dadurch der Zwiespalt zwischen „Kind und Karriere“, was auch dazu beiträgt, die Opportunitätskosten von Kindern zu senken.

Noch hilfreicher wären in vielen Fällen flexiblere Arbeitsstrukturen im Sinne „atmender Lebensläufe“.

Besonders geeignet dürfte dazu das Optionszeitenmodell sein, das die Sozial- und Rechtswissenschaftler Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger im März 2020 vorgelegt haben. Jedem Arbeitnehmer würde demnach ein Zeitbudget von 9 Jahren zur Verfügung gestellt. Davon wären 6 Jahre für die Kinderbetreuung und die Sorgearbeit für pflegebedürftige Angehörige vorgesehen, 2 Jahre für Weiterbildungen und 1 Jahr für eine persönliche Auszeit. Für jedes weitere Kind würde ein weiteres Jahr dazukommen, da bei nicht allzu großem zeitlichem Abstand mehrere Kinder gleichzeitig betreut werden können.

Diese „Optionszeiten“ könnten durch „Ziehungsrechte“ je nach Bedarf flexibel über den Lebenslauf hinweg in Anspruch genommen werden und zwar entweder in Form einer Unterbrechung der Erwerbsarbeit oder als Teilzeit, wodurch sich die genannten Zeiten entsprechend verlängern würden. Was heute in Form einzelner Rechtsansprüche bereits teilweise möglich ist, jedoch immer noch die Ausnahme von der Regel des „Normalarbeitsverhältnisses“ darstellt, würde durch dieses Modell zur Norm. Jeder Arbeitnehmer hätte einen Rechtsanspruch auf seine Optionszeiten, genauso wie er auch Rückkehr- und Entgeltrechte hätte. Bei den Care Tätigkeiten (Kinder- und Altenpflege sowie Gemeinwohlarbeiten) würden diese aus Steuermitteln finanziert, Weiterbildungszeiten müssten die Unternehmen über einen Pool finanzieren, während persönliche Auszeiten weitgehend aus eigenen Rücklagen finanziert werden sollten.

Die „rush hour des Lebens“, die so vielen Eltern zu schaffen macht, könnten wir durch das Optionszeitenmodell entzerren. „Vielleicht würden sich dann mehr Frauen und Männer trauen, ihre Kinderwünsche zu realisieren“, sagt Karin Jurczyk.

Das könnte noch erleichtert werden durch unterstützende Rahmenbedingungen wie Betriebskitas, home office, Steuerfreiheit ab dem dritten Kind, eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rentenhöhe, durch öffentliche Dienste, die Eltern so weit wie möglich zeitlich entlasten, und durch einen Umbau der Gesellschaft zu mehr Kinderfreundlichkeit. „Entweder werden wir irgendwann keine Kinder mehr haben, oder die Gesellschaft geht besser auf die Bedürfnisse von Eltern ein“, sagt Karin Jurczyk.

Bislang ist es jedoch so, dass längere Auszeiten im Beruf meist zu einem Karriereknick führen, was der Hauptgrund für das niedrigere Lebenseinkommen von Frauen ist. Hier wären die Arbeitgeber gefordert Programme zu entwickeln, mit denen Frauen und Männer auch während der Familienzeit den Kontakt zum Betrieb und gleichzeitig ihr Fachwissen auf dem aktuellen Stand halten können. „In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Das müssen sich auch die Arbeitgeber fragen“, mahnt Jurczyk.

Das mag nicht einfach sein und manchem Arbeitgeber nicht gefallen, aber wenn wir nichts tun, wird die Zukunft unseres Landes und Europas düster und das ganz besonders für diejenigen, die keine eigenen Kinder haben.


noch ein Artikel dazu hier  aus der WiWo (hinter der Bezahlschranke)

„Putin ist geradezu besessen von der russischen Demografie“

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