Samstag, 13. Juli 2024

Die drei größten Bürgergeld-Lügen der Bild enttarnt

 hier Freitag Ausgabe 28/2024  Helena Steinhaus  10.7.24

Von wegen Kostenexplosion

Verbreitete Hetze: Sechs Milliarden Euro bekommen Bürgergeld-Beziehende mehr, die Kosten für die Verwaltung explodieren und von allem profitieren die Ausländer? 

Helena Steinhaus klärt die drei größten Missverständnisse der „Bild“-Kampagne auf

Dass Bild es mit der Wahrheit nicht immer genau nimmt, das ist nicht neu. Aber dass Bild zusammen mit der AfD so erfolgreich den Takt angibt, das ist ein neuer Trend.
Die Kooperation ist effizient und wird auf Staatskosten betrieben. 

Das Spiel läuft so: Die AfD stellt eine kleine Anfrage und zwingt so die Bundesregierung, ausführlich Daten darzustellen, die alle öffentlich zugänglich sind. Dann pickt sich die Bild drei Zahlen raus, die sie stammtischtauglich als Skandale serviert. Ein paar Anmerkungen zu den drei Schlagzeilen auf dem letzten Bild-Titel „Kosten für Bürgergeld explodieren!“.

Bild-Schlagzeile 1: „6 Milliarden mehr für Empfänger“

Fakt ist, dass Bürgergeld-Beziehende in den letzten Jahren immer ärmer wurden.
Die „Erhöhungen“ des Regelsatzes waren nur Anpassungen an die Inflation, faktisch haben die Menschen jetzt sogar weniger in der Tasche als vor der Erhöhung. Wie die Ökonomin Irene Becker kürzlich für den Paritätischen Wohlfahrtsverband berechnet hat, liegt der Kaufkraftverlust beim Bürgergeld zwischen 1.012 Euro (Singlehaushalt) und 3.444 Euro (Paarhaushalt mit zwei Kindern). 

Ein Grund dafür ist die Explosion bei den Stromkosten, die dazu führt, dass jedes Jahr 300.000 zahlungsunfähigen Haushalten – auch mit Kindern – der Saft abgedreht wird. Nach wie vor stellen sich zwei Millionen Menschen täglich in die Schlangen der Tafel, um eine Mahlzeit oder günstiges Essen zu bekommen.

Die Mehrausgaben von Bund und Ländern – insgesamt waren es 2023 3,25 Milliarden Euro mehr, als im Haushalt vorgesehen war – landen also nicht in den Taschen von Bürgergeld-Beziehenden, sondern lassen sich mit der Inflation und steigenden Miet- und Nebenkosten begründen. Kein Grund zur Aufregung also? Oh doch! Es ist ein Ärgernis, dass Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen oder Vonovia immer höhere Mieten aus dem Latz leiern. Gäbe es mehr städtischen Wohnungsbau, bliebe dieses Geld in den Kommunen.


Die eigentliche Schlagzeile lautet:
Arme Menschen werden immer ärmer, reicher werden die großen Wohnungskonzerne.


Bild-Schlagzeile 2: „300 Millionen mehr für Verwaltung“

Okay, Moment mal. Ist das jetzt viel oder wenig? Ist ja manchmal gar nicht so klar bei diesen großen Zahlen. Deswegen hier eine Übersicht, was das Bürgergeld im Jahr 2023 gekostet hat: Das waren etwa 45 Milliarden Euro. Davon gingen gerade mal 23,7 Milliarden als Bürgergeld an die Menschen selbst. Rund 10,4 Milliarden waren vorgesehen als Zahlungen für Unterkunft und Heizung, also an Immobilien- und Energiekonzerne. Weiter flossen 4,4 Milliarden in Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, was weniger war als im Vorjahr. Will man weniger dabei helfen, dass die Menschen eine Arbeit finden?

Kommen wir zu den Verwaltungskosten, die den unsäglichen Bürokratieapparat finanzieren. Man bedenke, dass von 2022 auf 2023 die Gesetzesänderung von Hartz IV zum Bürgergeld stattgefunden hat, „die größte Sozialstaatsreform“. Dass die Verwaltungskosten dabei minimal gestiegen sind, ist wohl nicht der Rede wert.

Um das Bild noch ein bisschen zu weiten: Der Gesamtetat des Arbeits- und Sozialministeriums belief sich 2023 auf über 166 Milliarden Euro. Der Löwenanteil davon ging in die Rentenversicherung. Sie ist mit 121 Milliarden Euro der größte und zugleich am stärksten gestiegene Ausgabenposten. Lediglich neun Milliarden Euro davon dienten der Grundsicherung im Alter, also zur Minderung der Altersarmut. 

Der allergrößte Batzen ging an Menschen, die ihren gewohnten Lebensstandard auch im Alter fortsetzen dürfen. Aber klar: Da geht es natürlich um Menschen, überwiegend hauptverdienende Männer, die ihr Leben lang viel Geld verdient haben und jetzt im Alter nicht verzichten wollen. Stattdessen liegt die skandalöse Wohlfühloase angeblich in Deutschlands Armutszonenrandgebiet.


Die eigentliche Schlagzeile lautet:
Wow, die Reform hat überraschend wenig gekostet!


Bild-Schlagzeile 3: „... und zu 47 Prozent kassieren Ausländer das Geld“

Diese Zahl zeigt tatsächlich ein Problem: Menschen mit Migrationshintergrund haben es auf dem deutschen Arbeitsmarkt wesentlich schwerer als deutsch gelesene Personen. Das fängt bereits im Bewerbungsprozess an. Andere Hürden sind nicht anerkannte Qualifikationen, Sprachbarrieren und geringe Qualifizierung. Gerade diese Menschen arbeiten, wenn sie denn einen Job finden, häufig im Niedriglohnsektor zu miesen Bedingungen. 1,1 Millionen Menschen aus dem Ausland arbeiten in Deutschland zu niedrigen Löhnen. Es ist im Interesse dieser Branche, dass der Druck besonders hoch bleibt, damit bloß niemand auf die Idee kommt, den miesen Job in der Schlachterei, auf dem Bau oder als Click-Worker an den Nagel zu hängen, und versucht, etwas Besseres zu finden.

Die 47 Prozent Migrant*innen, die Bürgergeld beziehen, stammen mehrheitlich aus Kriegsgebieten wie Syrien oder Afghanistan und seit 2022 auch aus der Ukraine. Durch eine Sonderregelung (die leider im März 2025 endet) haben Ukrainer*innen direkt Anspruch auf Bürgergeld und entgehen damit einem langwierigen und demütigenden Asylverfahren.

So einfach kommt man nämlich gar nicht ans Bürgergeld, dafür sorgt das unsägliche Asylbewerberleistungsgesetz. Asylbewerbende bekommen absurderweise erst mal keine Arbeitserlaubnis. Es ist zynisch, dass ausgerechnet diesen Menschen vorgeworfen wird, deutsche Sozialsysteme ausnutzen zu wollen, während sie über lange Zeit keine Möglichkeit haben, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Der Regelsatz bei Asylbewerbenden liegt ganze 100 Euro unter dem Bürgergeld-Niveau – obwohl das Bürgergeld bereits die errechnete Untergrenze für ein menschenwürdiges Leben darstellt. Haben Menschen, die Asyl bei uns suchen, eine andere Menschenwürde?

Die eigentliche Schlagzeile lautet:
Dass für Menschen ohne deutschen Pass eine andere Menschenwürde gelten soll, ist ein Skandal.


Skandal: Springer beklaut den Staat um eine halbe Milliarde Euro

Die wahren Skandale werden niemals von der Bild-Zeitung aufgegriffen. Stattdessen erreichen uns wie schleichendes Gift die verunglimpfenden Schlagzeilen, weil es kaum möglich ist, durch die Stadt zu laufen, ohne dass sie uns aufgedrängt werden. Damit macht der Springer-Konzern einen Milliardenumsatz, seine Aktionäre sind ständige Nutznießer des kollektiven Nach-unten-Tretens.

Die Witwe Friede Springer schenkte Mathias Döpfner vor einigen Jahren 15 Prozent ihrer Firmenanteile im Wert von gut einer Milliarde Euro. Normalerweise würden für so eine Schenkung rund 50 Prozent Schenkungssteuer anfallen – aber der gute Döpfner entkam Millionen Euro Steuerlast, indem er mit dem Springer-Konzern Pool-Verträge schloss, die es möglich machten, die Steuern zu umgehen. Fun Fact: Der Milliardär Döpfner ließ sich überdies für sein Privatmuseum, eine Sammlung von pornografischen Bildern, Corona-Hilfen über 7.291,75 Euro auszahlen.

Dagegen haben Millionen Menschen, die eigentlich Anspruch auf Sozialleistungen hätten, sie gar nicht erst abrufen: aus Scham, aus Unwissen, aus Stolz. Dadurch spart der Staat Milliarden. (Ein Schelm, wer denkt, dahinter könne System stecken.) Sehr viele Menschen, die Bürgergeld beziehen, arbeiten, verdienen aber nicht genug und müssen aufstocken.


Das ist kein Bürgergeld mehr – das ist die Einführung von Merz I

Viele Bürgergeld-Beziehende sind Kinder, gehen zur Schule, machen eine Ausbildung, sind krank, pflegen Angehörige, sind vor Krieg und anderen Bedrohungslagen geflohen oder haben andere Lebensumstände, die zum Leben ausreichende Erwerbsarbeit sehr schwierig machen. Wie sollen diese Menschen pendeln, noch dazu drei Stunden pro Tag? Sie alle verdienen ein Leben in Würde. Dazu gehört eine Verhandlungsgrundlage, um Ausbeutung ablehnen zu können.

Es wäre die Pflicht der Ampel-Koalition, diese Allianz von Bild und AfD zu durchbrechen. Stattdessen knicken sie vor der CDU ein, die nur anzudrohen braucht, dass sie das Bürgergeld zum Wahlkampfthema macht. In vorauseilendem Gehorsam legte die Ampel nach dem Haushalts-Kompromiss ein Papier mit drastischen Verschärfungen vor, das sich liest, als gäbe es nicht bereits intensive Kontroll- und Strafmechanismen im Bürgergeld. Strafe bei Schwarzarbeit gibt es bereits, wer einen Job ablehnt, kann zwei Monate vollsanktioniert werden, pendeln würden die meisten ohnehin für einen guten Job – wenn es einen guten Job gibt.

Das Bürgergeld ist ad absurdum geführt, denn seine Regelungen sind jetzt sogar schlimmer als früher bei Hartz IV. Fehlt nur noch, dass sie es Merz I nennen.

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