Freitag, 26. Juli 2024

Bewegung und zivilgesellschaftlicher Protest wirken!

Gute Nachrichten werden viel zu wenig gefeiert, oft versinkt man voller Frust in den überwiegend schlechten Nachrichten. Daher sind Berichte, wie dieser hier von Christoph Bautz, einfach wichtig für unsere Zuversicht. Denn die brauchen wir dringend.
Noch ist nichts gewonnen, wir müssen weiter kämpfen. Aber unser Kampf ist nicht so aussichtslos, wie es uns manche Politiker und manche Presseteile glauben machen wollen!

Campact

Wir gewinnen gleich doppelt – und niemand bekommt es mit? So nimmt Campact-Vorstand Christoph Bautz gerade die neuesten Entwicklungen in Brüssel wahr. Er schreibt Dir, welche großen Erfolge wir rund um die Wahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin für den Klimaschutz und gegen Rechtsextremismus errungen haben. Nimm Dir etwas Zeit für seine Analyse, was aus der Europawahl alles folgt. 

Er war kein schöner Sommerabend, der 9. Juni. Die Rechtsextremen haben europaweit zugelegt.[1] Die Wähler*innen haben dem Europaparlament einen regelrechten Rechtsruck beschert. Seitdem schaue ich immer wieder mit bangem Blick auf Nachrichten aus Brüssel. Schaffen es die Rechtsextremen, ihre vielen neuen Mandate auch in reale Macht zu überführen? Bekommen sie die Konservativen dazu, ein Bündnis mit ihnen zu schließen? Und bringen sie den Green Deal, das europäische Klimaschutzprogramm, zu Fall?

Nein, alles drei haben sie in diesen Tagen nicht geschafft – und das macht mir gerade richtig Hoffnung. Die Rechtsextremen sind isoliert und in Einzelfraktionen zersplittert.[2] Der geplante Pakt zwischen Konservativen und Rechtsextremen scheiterte und Ursula von der Leyen wurde nur mit demokratischen Stimmen zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt.[3] Dazu kommt: Der Klimaschutz in Europa ist gerettet! Jetzt soll es sogar einen noch konsequenteren geben.

Das alles ist ein großer Erfolg unserer Bewegung gegen Rechtsextremismus, die in den letzten Monaten mit Millionen Menschen die Straßen füllte. Mit dieser Analyse-Mail möchte ich Dir genauer erläutern, was wir erreicht haben. Diese Fragen möchte ich beantworten:

1. Wie konnten wir den Pakt von Konservativen und Rechtsextremen verhindern?

2. Was drohte beim Klimaschutz – und was haben wir stattdessen konkret erreicht?

3. Was lernen wir aus all dem?


1. Wie konnten wir den Pakt von Konservativen und Rechtsextremen verhindern?

Es ist ein Plan, der mir schon vor ein paar Monaten Schauer über den Rücken laufen ließ: der Weber-Meloni-Pakt. Manfred Weber (CSU), der Fraktionschef der Konservativen, schloss ihn informell mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, zugleich Chefin der postfaschistischen Fratelli-Partei.[4] Ihr Ziel: Die Brandmauer aller Demokrat*innen im Europaparlament nach Rechtsaußen zum Einsturz bringen und der Zusammenarbeit von konservativen Parteien mit den Radikalen den Weg ebnen.

Einen Vorgeschmack, wie solch eine Kooperation konkret aussieht, gaben die letzten zwölf Monate. Die Pestizid-Richtlinie, welche den Einsatz der Bienenkiller bis 2030 halbieren sollte – gestoppt. Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur – massiv entkernt. Vorschriften für Artenvielfalt-Flächen in der Landwirtschaft – abgeschafft. Die Euro-7-Norm, die uns vor gefährlichen Abgasen schützen sollte – abgeschwächt. Und dies alles durch eine Kooperation von Konservativen und Rechtsextremen.

Mit dem Rechtsruck durch die Europawahl wollten Weber und Meloni ihren Pakt im neuen Parlament noch viel mächtiger werden lassen. Ins Fadenkreuz nahmen sie vor allem eins: die europäische Klima- und Naturschutzpolitik. Möglichst viele Maßnahmen wollten sie abwickeln und neue blockieren. Und sie planten, Europa für Menschen auf der Flucht noch viel härter abzuschotten und jegliche weitere europäische Integration zu verhindern.

Doch nun kam alles ganz anders – auch dank unserem Protest. Denn an hunderten Orten überall im Land und mit insgesamt 260.000 Menschen haben vor der Europawahl von Fraktionschef Weber und Spitzenkandidatin von der Leyen gefordert: „Paktiert nicht mit den Rechtsextremen!“ Noch im Wahlkampf wollte von der Leyen partout nicht ausschließen, dass sie sich mit Rechtsaußen-Stimmen zur EU-Kommissionspräsidentin wählen lässt.

Doch ermutigt von unseren Protesten verhandelten vor allem Sozialdemokraten und Grüne im Parlament beinhart. Nur, wenn von der Leyen klar ausschließt, sich mit Stimmen von Rechtsaußen wählen zu lassen, würde sie ihre Stimmen erhalten. Mit Erfolg: Die CDU-Politikerin musste sich für die Mitte entscheiden – und gegen die Extremisten. Jetzt sind sie an den Rand gedrängt, während Europas Demokrat*innen zusammenstehen!

Dies ist auch in die Mitgliedsländer der EU ein kaum zu überschätzendes Signal. Denn in den Niederlanden, in Schweden, Italien und Ungarn ist eine Kooperation von Konservativen und Rechtsextremen längst gängige Praxis. Ihr radikales Gedankengut sickert damit immer tiefer in die Gesellschaft ein und die Zusammenarbeit mit demokratischen Kräften normalisiert sich immer weiter. Genau dies ist die Grundstrategie der Neuen Rechten. 

Ob die Brandmauer hält, entscheidet sich als nächstes in unserem Nachbarland Österreich. Dort will Herbert Kickl als Spitzenkandidat der rechtsextremen FPÖ, wie er selbst sagt, „Volkskanzler“ in einer Koalition mit den Konservativen werden. Ein Begriff, wie ihn die NS-Propaganda für Adolf Hitler nutzte.[5] (Die 28. Nationalratswahl in Österreich wird am 29. September 2024 stattfinden)

Angesichts der Bedeutung des Schulterschlusses fast aller Demokrat*innen im Europäischen Parlament ist es besonders bitter, dass eine Partei fehlte: die FDP. Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern der liberalen Fraktion im Parlament stimmten ihre deutschen Abgeordneten gegen Ursula von der Leyen. Begründung: Die designierte Kommissionspräsidentin habe zu viel Klimaschutz versprochen.[6] Was für ein Armutszeugnis.

2. Was drohte beim Klimaschutz – und wie konnten wir es verhindern?

Fünf Jahre ist es jetzt her, dass schon einmal Hunderttausende die Straßen füllten. Es war die Hochzeit von Fridays For Future. Die Bewegung machte 2019 die Europawahl zur Klimawahl. Doch was die Proteste konkret in Europa erreichten, blieb lange viel zu wenig beachtet. Sie führten zum Green Deal, dem großen Klimaschutzprogramm der EU. Durch den Druck auf der Straße und grüne Rekorde bei den Wahlergebnisse wurde Ursula von der Leyen gezwungen, sich als Vorkämpferin für die Klimaschutz neu zu erfinden.

Ausgerechnet eine konservative Politikerin brachte somit das weltweit umfassendste Klimaschutzprogramm auf den Weg. Die Idee des Green Deal: Die Industrie und öffentliche Infrastruktur zu modernisieren und international wettbewerbsfähig zu machen und dies mit konsequentem Klimaschutz und der Erhaltung der biologischen Vielfalt zu kombinieren. Das Ziel: Bis Mitte des Jahrhunderts sollte unser Kontinent als erster dekarbonisiert sein – und international zum Klimaschutz-Champion werden.

Wie das konkret aussah? Die EU hob das Klimaziel 2030 von 40 auf 55 Prozent weniger CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 an und erhöhte das Ausbauziel für erneuerbare Energien für den gleichen Zeitraum von 32 auf 42,5 Prozent. Zudem wollte sie mit dem Renaturierungsgesetz den Verlust der Artenvielfalt stoppen und der Natur wieder mehr Raum geben.[7]

Doch in den letzten Monaten verabschiedeten sich die Konservativen vom Green Deal, vorangetrieben insbesondere von Fraktionschef Weber. Auch in Brüssel schlug die hiesige Debatte um das Heizungsgesetz und die „Bauernproteste“ Wellen. Wenn – angeheizt durch Desinformationskampagnen der fossilen Lobby – Klimaschutz immer mehr Menschen als Gängelung und Bevormundung erscheint, glaubte Weber, mit Anti-Klima-Politik Wählerstimmen abstauben zu können.

Zusammen mit den Rechtsextremen schoss er sich auf den Green Deal ein.[8] Er wollte diesen nicht nur stoppen, sondern in entscheidenden Bereichen sogar rückabwickeln. So kündigte er an, das Aus für fossile Verbrennermotoren bei Neuwagen ab 2035 zurückzunehmen. Eine fatale und rein populistische Idee: Denn eigentlich haben sich die deutschen Autobauer längst darauf eingestellt, ihre Produktion schrittweise auf E-Autos umzustellen, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden.

Doch Weber hatte die Rechnung ohne Sozialdemokraten und Grüne gemacht. Stimmen für die Wahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin? Gibt es nur, wenn der Green Deal nicht rückabgewickelt, sondern sogar ausgebaut wird. Mit dieser Strategie konnten beide Parteien einiges durchsetzen.

Erstmals plant die EU-Kommission nun ein europaweites Klimaziel für 2040 von minus 90 Prozent CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990. Das Verbrenner-Aus 2035 bleibt bestehen und soll lediglich in zwei Jahren nochmal überprüft werden. In ihren ersten 100 Tagen will die neue EU-Kommission zudem einen Vorschlag machen, wie sie die energieintensive Industrie dekarbonisiert. Parallel soll ein Gesetz zur Kreislaufwirtschaft entstehen, damit Wertstoffe konsequent wiederverwertet werden.[9]

Wenn das kommt, gewinne ich wieder Hoffnung zurück, dass wir die Erderhitzung auf deutlich unter 2 Grad eindämmen können. Denn auch aus den beiden anderen, neben Europa entscheidenden Wirtschaftsräumen – China und den USA – sind die Signale gerade hoffnungsvoll. So werden in China die CO2-Emissionen wohl schon ab diesem Jahr und nicht erst wie geplant ab 2030 sinken. Der Ausbau bei Wind- und Solarkraft geht weltweit mit einer fantastischen Dynamik voran.[10]

Eine ähnliche Entwicklung nehmen die USA, wo Joe Bidens Investitionsprogramm gerade den Durchbruch für die Erneuerbaren sowie eine Batterie- und Wasserstoff-Industrie bringt. Gewinnt dort die designierte Kandidatin der Demokraten, Kamila Harris, die Wahlen, wird diese Dynamik noch zunehmen. ( Am 5. November wählen die Amerikaner ihren Präsidenten für die nächsten vier Jahre) Zusammen mit Europa könnten die drei größten Wirtschaftsblöcke bald 100 Prozent auf Klimaschutz setzen. Das wäre großartig.

Aber noch ist all das nicht gewonnen: In Europa muss von der Leyen erst noch eine Mehrheit im Parlament und unter den Mitgliedsstaaten für ihre Pläne finden. Die AfD wartet nur darauf, hiergegen zu hetzen. Wir alle sind weiter gefragt, diese Erfolge zu sichern und konsequenten Klimaschutz zu erstreiten.

3. Was wir daraus lernen

Bewegung und zivilgesellschaftlicher Protest wirken! 2019 waren es Fridays For Future und die ganze Klimabewegung, die Klimaschutz zum entscheidenden Wahlthema gemacht und den Green Deal erstritten haben. 2024 ist es die Anti-AfD-Bewegung, die Hunderttausende auf die Straßen brachte, die AfD schwächte und jetzt verhindert, dass die Rechtsextremen ihre dazugewonnen Stärke in konkrete Politik überführen können.

Das zeigt: Selbst in Zeiten, in denen die AfD und andere Rechtsaußen-Parteien in Europa sehr stark sind, können wir weiterhin Erfolge erkämpfen. Aber wenn wir unsere Demokratie langfristig verteidigen und Klimaschutz konsequent voranbringen wollen, müssen wir an die tieferen Ursachen für das Erstarken der Neuen Rechten ran. Eine zentrale Ursache ist, dass wir in Europa und besonders in Deutschland die öffentliche Infrastruktur kaputtsparen – und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.[11]

Durch die heimische Schuldenbremse fehlt bei uns das Geld für öffentliche Investitionen. Die Folgen werden immer gravierender: Schulen, Vereinsheime und Sportplätze verkommen. Gute Kitaplätze für die ganz jungen und hochwertige Pflegeplätze für die ganz alten fehlen. Autobahnbrücken müssen genauso dringend saniert werden wie die Bahn, für die alleine ein Investitionsbedarf von 90 Milliarden Euro besteht.

Gleichzeitig mussten und müssen wir die immer dichtere Abfolge von Krisen mit Geld abfedern – von der Corona-Pandemie über Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine bis zur fortschreitenden Arten- und Klimakrise. Angesichts des Sparzwangs steht die Regierung dann vor harten Entscheidungen: Klimaschutz oder Kita, 49-Euro-Ticket oder Bahnsanierung, Bürgergeld oder Wasserstoff-Industrie.

Das führt zu Konflikten, die Rechtsextremen Aufschwung geben und mit denen sie die Gesellschaft spalten. Gezielt spielen sie Soziales und Klimaschutz gegeneinander aus. Dabei zeigen Studien, dass dort, wo die öffentliche Hand investiert, die Zustimmung für extreme Parteien sinkt und das Vertrauen in demokratische Institutionen steigt.[12]

Die breite Mehrheit der Ökonom*innen ist sich mittlerweile einig: Die Sparpolitik, wie sie unsere Regierung auf Druck der FDP betreibt, ist volkswirtschaftlich und gesellschaftlich kontraproduktiv. Wenn wir unsere Demokratie verteidigen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wahren und die Arten- und Klimakrise lösen wollen, muss die Regierung dringend gezielt investieren – und dafür die Schuldenbremse reformieren.

Keine Frage: Solange die FDP Teil der Regierung bleibt, ist dies illusorisch. Denn die Liberalen haben die Beibehaltung der Schuldenbremse zu ihrem letzten Markenkern erhoben. Doch eine neue Bundesregierung, wie sie sich auch immer zusammensetzen wird, muss die Basis dafür schaffen, dass wir wieder in unsere Zukunft investieren können. Wenn es uns ernst damit ist, unsere Demokratie vor den Rechtsextremisten zu verteidigen und mehr Klimaschutz zu erreichen, müssen wir genau hier ansetzen.

Wann wir damit beginnen? Am Freitag, den 20. September. Dann ruft Fridays For Future wieder an ganz vielen Orten bundesweit zum Klimastreik auf – und damit wollen wir von der Politik mehr Geld für Klimaschutz und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fordern. Bitte trage Dir jetzt den Termin in den Kalender ein. Es ist wichtig, dass auch Du dabei bist.


Mit herzlichen Grüßen

Christoph Bautz, Geschäftsführender Vorstand von Campact e.V.


[1] „Rechtsruck in Europa: Wie stark ist die extrem Rechte in Europa?“, Statista Online, 8. Juli 2014

[2] „Die neue Nummer drei im EU-Parlament“, Tagesschau Online, 8. Juli 2014.

[3] „Europäisches Parlament wählt Ursula von der Leyen erneut zur Kommissionspräsidentin“, Aktuelles aus dem EU-Parlament Online, 18. Juli 2024

[4] „Kritik an EVP-Chef Weber: Zu nah an Italiens Rechten?“, Tagesschau Online, 4. Februar 2024

[5] „Die Geschichte des Begriffs ‚Volkskanzler‘: Von Hitler bis Kickl“, Der Standard Online, 30. November 2023

[6] „Darum stimmt die FDP gegen von der Leyen – und darum unterstützen die Grünen sie“, Spiegel Online, 18. Juli 2024

[7] „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur: Rat gibt endgültig grünes Licht“, Europäische Kommission Online, 17. Juni 2024

[8] „Von der Eindämmung der Zuwanderung bis zur Überarbeitung des Green Deal: Die wichtigsten Punkte des EVP-Manifests“, Euronews Online, 6. März 2024

[9] „Europe’s Choice: Political Guidelines for the next European Commission“, EU-Kommission Online, 18. Juli 2024

[10] „World Energy Investment: Overview and key findings“, International Energy Agency Online, abgerufen am 25. Juli 2024

[11] „EU einigt sich auf Sparhaushalt: Weniger Geld für die Zukunft Europas“, taz Online, 8. Februar 2013

[12] „Europaweite Studie: Geld für Infrastruktur senkt Stimmenanteile von Rechtspopulisten“, Spiegel Online, 9. April 2024

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