hier Zeit / Fratzschers Verteilungsfragen - Eine Kolumne von Marcel Fratzscher 26. Juli 2024
Rechtsruck bei der Europawahl: Es liegt nicht an der Migrationspolitik
Zukunftssorgen, Abwanderung der Jugend, wegbrechende Daseinsvorsorge: Vor allem in Ostdeutschland gewinnt die AfD, aber auch das BSW, nicht nur wegen Migration Zuspruch.
Bei den Europawahlen haben viele Menschen in Deutschland die AfD und das BSW gewählt. Das liegt an der Unzufriedenheit mit Migrationspolitik, lautete bisher eine Erklärung. Doch das stimmt nicht.
Die Resultate einer neuen Studie bei uns am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zeigen, dass die Demografie die wichtigste Erklärung für die Stärke von AfD und BSW ist, die Migration spielt hingegen eine geringere Rolle, vor allem in Ostdeutschland.
Die Ergebnisse unserer Studie widersprechen somit dem gängigen Narrativ, Migration sei das größte Problem und die wichtigste Erklärung für den Aufstieg von AfD und BSW.
Wichtigere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist.
Zugleich zeigen Umfragen des European Council on Foreign Relations, dass immerhin 29 Prozent der Deutschen die Migration heute als das größte Problem betrachten. Der Wert ist in keinem anderen europäischen Land so hoch wie hierzulande. Vor allem stufen deutlich mehr Deutsche Migration als das wichtigere Problem als etwa den Klimawandel, geopolitische Konflikte und Kriege, die wirtschaftliche Zukunft oder die soziale Absicherung ein. Es ist naheliegend, dass man sich so als Erklärung für die starken Zugewinne von AfD und BSW auf eine vermeintliche Ablehnung der Migrationspolitik der demokratischen Parteien fokussiert.
Doch folgt man dieser Logik, würde man erwarten, dass Menschen, in deren Nachbarschaft besonders viele Zugewanderte leben oder Geflüchtete untergebracht wurden, deutlich häufiger AfD und BSW wählen, also Parteien, die eine stark ablehnende Haltung zu Migration einnehmen, diese stoppen und Abschiebungen in großem Stil vornehmen wollen.
Unsere Studie zeigt zwar, dass ein höherer Anteil von Zugewanderten, relativ zur Gesamtbevölkerung, im eigenen Kreis dazu führt, dass sowohl AfD als auch BSW höhere Stimmanteile erzielen, allerdings ist das nicht überall der Fall: Sondern dieser Befund gilt nur für Westdeutschland. Nicht aber für Ostdeutschland, obwohl hier der Stimmanteil von AfD und BSW zum Teil zwei- bis dreimal höher ist als im Westen.
Dies ist ein wichtiges Resultat, das jedoch mit Vorsicht interpretiert werden sollte: Es bedeutet nicht, dass Migration irrelevant für die Stärke von AfD und BSW wäre. Es bedeutet, dass der hohe Stimmanteil der beiden Parteien in Ostdeutschland und in bestimmten Kreisen auch in Westdeutschland nicht allein durch Migration erklärt werden kann, sondern auch durch andere Faktoren.
Unsere Studie zeigt, dass die Demografie die wichtigste Erklärung für die hohen Zustimmungswerte für die AfD darstellt, in einem geringeren Maß gilt das auch für den hohen Zuspruch für das BSW. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung in einem Kreis ist sowohl bei der AfD als auch beim BSW die wichtigste Variable. Auch ein geringerer Anteil an jungen Menschen mit Abitur scheint einen Einfluss zu haben:
Je weniger junge, gut gebildete Menschen
in einem Landkreis leben,
desto höher sind die Wahlergebnisse für die AfD.
Die AfD ist besonders dort stark, wo viele junge und vor allem gut qualifizierte Menschen abwandern – sei es, weil sie anderswo bessere Chancen auf einen Job haben oder weil sie schlicht nicht dort leben wollen, wo sie aufgewachsen sind. Ob die jungen abgewanderten Menschen überproportional stark AfD oder BSW wählen, wissen wir nicht. Allerdings zeigt der Saldo der Binnenwanderung innerhalb Deutschlands keinen signifikanten Einfluss auf das Wahlergebnis dieser beiden Parteien. Es sind offenbar vor allem die Eltern und andere Menschen in den Kreisen, aus denen junge Menschen besonders stark abwandern, die überproportional häufig für die AfD und auch für das BSW stimmen.
Der Vergleich zeigt, dass die demografische Entwicklung in Ostdeutschland eine viel wichtigere Erklärung für die Stärke von AfD und BSW ist als in Westdeutschland: Im Osten ist der Effekt in etwa doppelt so hoch. Auch die wirtschaftliche Stärke und die wirtschaftliche Verwundbarkeit von Landkreisen sind relevante Erklärungen für das Wahlresultat von AfD und BSW – allerdings wiederum primär in Westdeutschland und nicht in Ostdeutschland. Die AfD schneidet dort stärker ab, wo Menschen ein geringeres Einkommensniveau haben, wo es eine höhere Jugendarbeitslosigkeit gibt und eine größere Dichte von Handwerksunternehmen.
Zusammenfassend bedeutet dies, dass das Narrativ von der Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik wohl nicht der einzige Faktor ist, warum Menschen die AfD oder das BSW wählen.
Deutlich bedeutsamere Gründe sind Zukunftsängste und Sorgen dort, wo junge Menschen abwandern, die Daseinsvorsorge geschwächt und die wirtschaftliche Situation unsicher ist. Politische Strategien im Umgang mit diesen Sorgen und Ängsten werden wohl scheitern, wenn sie sich allein auf das Thema Migration verengen. Es gibt wichtigere Gründe für die zunehmende politische Polarisierung und die Stärke antidemokratischer Parteien und Positionen als Migration.
Erforderlich sind Zukunftsinvestitionen, die die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auch strukturschwächerer Regionen verbessern. Zudem braucht es eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die gerade strukturschwächere und demografisch schnell alternde Regionen besser unterstützt.
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