Dienstag, 23. Juli 2024

Schweizer Klimaflüchtlinge? Schrille Debatte nach den Unwettern in den Alpen

Südkurier  hier  17. Juli 2024, Jann-Luca Künßberg

Unwetter: Bleiben die Schweizer Bergregionen bewohnbar?

Zerstörte Straßen und die Urlaubsroute über den San-Bernardino-Pass wurden zwar schnell wiederaufgebaut. Jetzt gehen in der Schweiz aber große Sorgen um: Steht die Zukunft der Bergregionen auf dem Spiel?

...Der Grund: In diesem Sommer rutschten in kurzer Zeit mehrere Passstraßen ab, wieder kamen Menschen ums Leben, Urlaubsrouten wurden zugeschüttet, darunter die wichtige Nord-Süd-Verbindung des San-Bernardino-Passes. Bei einem Erdrutsch im Maggiatal im Tessin kamen drei Frauen aus Baden-Württemberg ums Leben, andernorts starben noch zwei weitere Menschen.

Neben diesen tragischen Schicksalen geht es um Geld, viel Geld. Weil Rufe nach mehr Schutz laut werden und Fragen danach, ob gefährdete Täler überhaupt noch bewohnt werden sollten.....


Von Schweizer Klimaflüchtlingen ist die Rede

Manche siedeln aber schon um. Von Schweizer Klimaflüchtlingen war die Rede, als eine Frau aus Guttannen, südlich von Luzern, ihr Haus wegen bröckelnder Berge verlassen musste.

Vergleichsweise entspannt klang da noch das Bundesamt für Straßenbau Astra, das die weggespülte A13 in weniger als zwei Wochen zumindest provisorisch wieder befahrbar machte: Naturkatastrophen habe es in den Alpen immer gegeben und man arbeite kontinuierlich am Schutzsystem, sagte ein Sprecher dem SÜDKURIER. Aber ja, die klimatischen Veränderungen machten Naturkatastrophen wahrscheinlicher.

Und so schwang auch bei der schließlich erfolgreichen Baumaßnahme am San Bernardino bis zuletzt die Sorge mit, neue Unwetter könnten die Arbeiten behindern oder gar zunichtemachen.

„Geschwätz überreizter Städter“

Also, noch einmal in der Diktion der Schweizer Presse gefragt: Ist das bloß „Geschwätz überreizter Städter“? Klimaexperten aus dem Alpenraum zufolge nicht. Der österreichische Klimapolitologe Reinhard Steurer sagte kürzlich im österreichischen Fernsehen: „Das ist Physik, dass Extremwetterereignisse, Starkregenereignisse und Vermurungen zunehmen werden.“ Vermurungen oder Murgänge, wie es die Schweizer sagen, meinen Erdrutsche – wie den am San-Bernardino-Pass.

„Wir sehen das jetzt im Anfangsstadium, das wird noch viel häufiger werden“, sagt Steurer. Es werde zwar andernorts auf der Erde dramatischer und früher sein, in den Westalpen komme aber der auftauende Permafrost hinzu.

Der Permafrost schmilzt

Den gibt es erst ab rund 2500 Metern über Normalnull. „Aber wir sehen, dass das beginnt. Der Alpenverein spürt es jetzt schon und gibt zum Teil schon einzelne Hütten und Wege auf, weil es sich nicht mehr lohnt, diese instand zu setzen“, so der Klimaexperte. „Und wenn wir die Klimakrise weiter eskalieren lassen, dann kommt es immer weiter runter und irgendwann eben auch in jetzt bewohnte Talschaften, die dann immer schwerer zu halten sein werden.“

Daten des schweizerischen Permafrost Monitoring Netzwerks Permos geben ihm recht: Die Zahl der Felsstürze und ihr Volumen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten sichtbar zugenommen. Eine gewohnt nüchterne Analyse, wie mit den Gefahren umgegangen werden könnte, ist aber kaum zu vernehmen – es entsteht eher der Eindruck: In der Schweiz bricht Hektik aus. Immerhin leben 1,8 Millionen Menschen in gefährdeten Gebieten, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung.

Während sich die Deutschen in der Grenzregion in den vergangenen Wochen verwundert die Augen rieben, wie 200 Meter eingestürzte Autobahn in wenigen Tagen wieder teilweise befahrbar wurden und sich solche Fähigkeiten auch für das eigene Land wünschten, haben sich die Schweizer offenbar umgekehrt eine Scheibe bei den Deutschen abgeschnitten: für aufgeregte Debatten.

Gute Prognosen sind verfügbar

Dabei hat die Schweiz gute Voraussetzungen für einen vorausschauenden Umgang mit solchen Katastrophen, wie der Fall Bondo von 2017 zeigt. Experten wussten dank ihrer Messungen schon vorher, dass ein größeres Ereignis bevorstand. Der Berg stand bereits unter Bobachtung. In den Tagen vor dem Unglück war es aber sehr ruhig, sagte damals ein Geologe.

Deshalb kam der immense Felssturz doch überraschend. Aber schon damals hatte es geheißen: In den nächsten Jahren müsse bei starken Niederschlägen oder erneuten Bergstürzen mit kleineren und größeren Murgängen gerechnet werden. So wie die der vergangenen Wochen.

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