Mittwoch, 17. Juli 2024

Das hält alte Männer an der Macht

Freitag hier  Kenan Malik /The Guardian

Biden ist 81, Putin 71 ebenso Xi Jinping, Netanjahu 74,  Modi ist 73 Jahre alt

Gerontokratie: Nach Joe Bidens Ausfällen muss man sich fragen, wie sinnvoll es ist, alten Männern das Regieren zu überlassen. Wieso hält sich die jahrhundertealte Gerontokratie, obwohl die Gesellschaft die Jugend feiert? Spoiler: Es hat mit Eliten zu tun 


„Staaten, die sich in Schwierigkeiten oder in Angst befinden, sehnen sich nach der Herrschaft der Älteren“, schrieb Plutarch, der griechische Historiker und Philosoph aus dem ersten Jahrhundert, als er darüber nachdachte, „ob ein alter Mann Politik machen sollte“. Nur die Alten, so glaubte er, besäßen die Weisheit, die das Alter verleiht, und die Gelassenheit, die mit der Erfahrung einhergeht. „Der Staat, der immer die alten Männer ausrangiert“, argumentierte er, „muss zwangsläufig mit jungen Männern aufgefüllt werden, die nach Ansehen und Macht dürsten, aber keinen staatsmännischen Verstand besitzen.“

Was hätte Plutarch wohl von Joe Bidens kläglicher Leistung in der Debatte mit Donald Trump im letzten Monat gehalten und von seinem Beharren darauf, der Kandidat der Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen im November zu bleiben? Plutarch erkannte an, dass alte Männer geschwächt sein können, aber „das durch ihre körperliche Schwäche verursachte Übel“, so betonte er, „ist nicht so groß wie der Vorteil, den sie durch ihre Vorsicht und Klugheit besitzen“.

Was auch immer er über Biden gedacht haben mag, Plutarch hätte wahrscheinlich Aspekte der heutigen politischen Welt erkannt. Es ist nicht nur so, dass die beiden Männer, die für das Amt des US-Präsidenten kandidieren, 81 und 78 Jahre alt sind. Auch die amerikanischen Abgeordneten werden immer älter. Das Durchschnittsalter im Repräsentantenhaus liegt bei 58 Jahren, im Senat bei 65 Jahren. Mehr als ein Drittel der Senatoren ist über 70 Jahre alt.

Aber nicht nur in Amerika regieren die Alten. Wladimir Putin ist 71, ebenso Xi Jinping. Indiens Narendra Modi ist 73, sein pakistanischer Amtskollege Shehbaz Sharif ist ein Jahr jünger und Bangladeschs Sheikh Hasina drei Jahre älter. Benjamin Netanjahu ist 74 Jahre alt, der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, ist 88 Jahre alt und der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, 85 Jahre. Der älteste derzeitige Führer der Welt, Kameruns Präsident Paul Biya, ist mit 91 Jahren ein ganzes Jahrzehnt älter als Biden.

Natürlich gibt es auch jugendliche Führungspersönlichkeiten. Der französische Premierminister Gabriel Attal ist mit 35 Jahren der jüngste Politiker auf der Weltbühne. Kurzzeitig sah es aus, als könne er von dem 28-jährigen Jordan Bardella von der rechtsextremen Rassemblement National abgelöst werden – Jean-Luc Mélenchon von der Neuen Volksfront wiederum ist 72 Jahre alt. Der Trend zur „Gerontokratie“ – der Herrschaft der Alten – ist ein auffälliges Merkmal auch der heutigen Welt.

Die französischen Revolutionäre stürzten die Alten, die Aristokraten, die Väter

„Es war nicht so zu erwarten“, hat der amerikanische Historiker und Philosoph Samuel Moyn festgestellt. In der vormodernen Welt war die Achtung vor älteren Menschen ein fester Bestandteil des sozialen Gefüges, ein Mittel zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und Disziplin. „Bei den Greisen ist Weisheit; Länge der Tage, das heißt Vernunft“, wie Hiob in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, sagt.

Das Aufkommen der Moderne schien den sozialen Status des Alten zu verändern. „Bei der Geburt der politischen Moderne“, so Moyn, griffen die französischen Revolutionäre beim Sturz des Ancien Régime „ausdrücklich die Macht der Älteren an“ und versuchten „nicht nur, die Aristokraten im Namen des einfachen Volkes und die Väter im Namen der Söhne zu stürzen, sondern ganz allgemein die uralte Verpflichtung zur Gerontokratie zugunsten der jüngeren Mehrheit zu brechen“. Im Laufe der Zeit wurde jedoch „die Autorität der Älteren“ wiederhergestellt und „jugendliche Anwärter“ verdrängt.

Das Paradoxon der heutigen Gesellschaften, vor allem im Westen, besteht darin, dass ältere Menschen oft vernachlässigt werden, weil sie in unserer stärker atomisierten und individualisierten Gesellschaft keinen Rückhalt mehr haben. Während die sozialen Netze, die einst den Lebensunterhalt sicherten, stark ausgefranst sind, haben die Alten gleichzeitig große politische Macht. Das Paradoxe ist auch, dass wir in Gesellschaften leben, die die Jugend und die Jugendkultur feiern und dennoch die Schlüssel zur politischen Macht an alternde Führungspersönlichkeiten weitergeben.

Diese Paradoxe entstehen, weil die moderne Gerontokratie das Produkt von Gesellschaften ist, in denen Macht und Reichtum in bestimmten Familien und innerhalb einer bestimmten Klasse akkumuliert werden und in denen die verkrusteten politischen Systeme darauf ausgelegt sind, Störungen durch Außenstehende zu minimieren.

In ihrem demnächst erscheinenden Buch Born to Rule über „the making and remaking of the British elite“ stellen die Soziologen Aaron Reeves und Sam Friedman fest, dass sich die herrschende Ordnung trotz des Geredes über den Wandel der Eliten und über „neue Eliten“ in ähnlicher Weise reproduziert wie vor einem Jahrhundert und dass es viel „Kontinuität gibt, wenn es darum geht, wer in die Elite kommt und wie sie dort hinkommen“. Sicherlich haben neue soziale Gruppen – insbesondere Frauen und ethnische Minderheiten – Anspruch auf die Privilegien der oberen Ränge erhoben.

Seit 125 Jahren dieselben obersten 1 Prozent Elite

Aber Reeves und Friedman weisen darauf hin, dass diejenigen, die in die obersten 1 Prozent hineingeboren werden, heute genauso wahrscheinlich in die Elite aufsteigen wie vor 125 Jahren. Dieselben Familien, Schulen und Institutionen prägen die Führungsschicht. Dies führt unweigerlich dazu, dass jene Alten, die bereits in Reichtum und Macht verankert sind, erhebliche Vorteile genießen.

Gleichzeitig haben sich die politischen Systeme, die entstanden sind, um einen demokratischen Wandel herbeizuführen, zu Strukturen entwickelt, in denen Stabilität über alles geht und die darauf ausgelegt sind, politische Störungen zu minimieren. Vom britischen First-past-the-post-System über den Einsatz von zweiten Wahlgängen bei französischen Wahlen zur Maximierung der Stimmen gegen aufständische Parteien bis hin zu einem US-Senat, der dünn besiedelten ländlichen Bundesstaaten die gleiche Vertretung bietet wie großen Bundesstaaten mit einer bedeutenden städtischen Bevölkerung – politische Systeme und Wahlsysteme schaffen Palisaden zum Schutz vor bedrohlichen Außenseitern.

Plutarchs Befürchtung, dass die stürmische Jugend „sich kopfüber in die öffentlichen Angelegenheiten stürzt und den Pöbel mit sich reißt wie die sturmgepeitschte See“, wird immer noch von vielen geäußert, auch wenn die Furcht heute weniger vor der Jugend als vor „populistischen“ Führern besteht.

Es geht nicht um Alt gegen Jung, sondern um Klasse und Reichtum

Die Versuche, Störungen zu minimieren, ermöglichen es auch den alten Führern, sich an die Macht zu klammern. Sowohl die Maschinerie, die dafür sorgte, dass Biden trotz der Bedenken über sein Alter Präsidentschaftskandidat der Demokraten blieb, als auch die Schwierigkeiten seiner internen Kritiker, ihn zu ersetzen, veranschaulichen diesen Prozess gut.

Im Westen (wenn auch nicht unbedingt in anderen Teilen der Welt) spielen demografische Veränderungen, insbesondere die Überalterung der Bevölkerung, eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Macht der Alten. Jenseits der Demografie geht es aber auch um Politik.

Die Gerontokratie ist der Cousin der Plutokratie. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind nicht in erster Linie die von Alt gegen Jung oder ein Krieg der Generationen, sondern von Klasse und Macht, der Verankerung von Reichtum und dem Versuch, aufständische Außenseiter an den Rand zu drängen. Da in Großbritannien 14 Jahre der Tory-Herrschaft zu Ende gehen und in einem Jahr, in dem die halbe Welt zur Wahl geht, sollten wir uns weniger über die Gerontokratie als System Sorgen machen, sondern mehr über die Gründe, die die Alten – ob alte Menschen oder alte Ideen – an der Macht halten.


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