Dienstag, 30. Juli 2024

Die neue Realität: die chinesische Energiewende ist entscheidend

China ist entscheidend, aber was sich in Deutschland und der EU abspielt ist keinesfalls belanglos.
Dieser Rückschluss wäre viel zu naiv und würde wichtige Zusammenhänge leugnen.
Jedes zehntel Grad spielt eine Rolle für unsere Zukunft und  viele Länder schauen auf Deutschland und die EU. hier
Zudem sollte man auch dies im Auge behalten: Deutschland droht den Anschluss zu verlieren, wenn weiterhin eine Modernisierung hin zu mehr Effektivität verweigert wird. 

hier  Zeit  Ein Essay von Adam Tooze  29. Juli 2024,

Klimapolitik: Die Zukunft der Menschheit liegt in Chinas Händen

Ein Wahlsieg Donald Trumps wäre schlecht für das Weltklima, ja. Doch scheitert China tatsächlich an der Dekarbonisierung, landen wir alle in einem desaströsen Szenario.
In den nächsten 12 Monaten fallen in der globalen Klimapolitik zwei lebenswichtige Entscheidungen. Nur eine davon wird Schlagzeilen machen. Sie fällt in den Vereinigten Staaten in der Präsidentschaftswahl.

Adam Tooze
lehrt an der Columbia University in New York, zuvor lehrte er in Yale und Cambridge. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen" im Verlag C. H. Beck.
 
Seit Jahren ist Amerika in Sachen Klimapolitik gespalten. Die Demokraten machen Ernst damit. Dennoch kann Joe Biden angesichts der Stimmung in Amerika nicht offen für Klimaschutz werben, er spricht lieber über Jobs als über Emissionen. Unterm Strich jedoch war der Inflation Reduction Act (IRA), trotz seines Namens, ein wesentlicher Schritt in Richtung Dekarbonisierung, der Minderung von Treibhausgasemissionen.

Die Republikaner dagegen verweigern seit den Kyoto-Protokollen 1997 die Teilnahme an internationalen Vereinbarungen. Und unter dem Einfluss Donald Trumps hat die Partei jede vernünftige Position zum Thema Klima fahren lassen. Kommt Trump ein zweites Mal ins Weiße Haus, hat er versprochen, den Ölinteressen freie Fahrt zu geben und mit der Förderung von E-Autos Schluss zu machen.

Das wäre ein Unglück. Es bestätigt aber im Grunde nur die fundamentale Unzuverlässigkeit Amerikas in Sachen Klimaschutz. Selbst wenn die Demokraten die Wahl gewinnen, ist in Sachen Klimapolitik nicht viel mehr zu erwarten. Der Inflation Reduction Act war ein einmaliger gesetzgeberischer Durchbruch. Zwar wird die Kohleverbrennung in Amerika wie auch in Europa längerfristig aus der Stromerzeugung verschwinden. Selbst im tief konservativen Texas baut man Solar- und Windanlagen aus, einfach weil sie billiger sind. Wer aber darüber hinaus an eine Dekarbonisierung Amerikas glaubt, muss sehr optimistisch sein.  

Ölinteressen sind im American way of life tief verankert. Der Fracking-Boom begann schon unter Barack Obama. Unter Biden hat Amerika Saudi-Arabien als Ölproduzent überholt. Wer auch immer im Weißen Haus sitzt: Das billige Benzin muss fließen, auch wenn der Strom für die Klimaanlage vom Windrad kommt.

Ob unter Biden oder unter Trump, Amerika wird die Welt nicht in eine globale grüne Energiewende führen. Das hat mit dem begrenzten Ehrgeiz zu tun, aber auch mit seiner schwindenden relativen Bedeutung. Schon seit mehr als 15 Jahren ist Amerika nicht mehr der ausschlaggebende Faktor für die Entwicklung der globalen Emissionen.

Seit 2006 sind es die Emissionen Chinas, die auf Nummer eins stehen. Zuletzt war China für rund 30 Prozent des globalen CO₂-Ausstoßes verantwortlich, die Vereinigten Staaten dagegen für lediglich 13,6 Prozent, die EU für rund sieben Prozent. Pro Kopf stoßen Chinesinnen und Chinesen mittlerweile mehr aus als der Durchschnittseuropäer. 


Historisch gesehen sind es vor allem die akkumulierten Emissionen Europas und Amerikas,
die das ökologische Gleichgewicht stören.
Die Zukunft dagegen entscheidet, vor allem, China.


Lange Zeit hat China sich seiner ökologischen Verantwortung entzogen. Es beanspruchte als Entwicklungsland sein "Recht auf Umweltzerstörung" (Right to pollution). Das änderte sich während Xi Jinpings Amtszeit als Staatspräsident.
Ausschlaggebend dafür war die katastrophale Krise der Luftverschmutzung in Chinas Großstädten Anfang des letzten Jahrzehnts. Der Smog machte Peking beinahe unbewohnbar. 

Hinzu kommt, dass China nun für sich eine führende Rolle in der Weltpolitik beansprucht. Die kommunistische Partei hat das Versprechen einer ökologischen Zivilisation sogar in der Verfassung verankert. Nach einem bilateralen Abkommen mit Washington hat China 2015 den Pariser Klimavertrag unterschrieben. 2020 hat sich Präsident Xi aus freien Stücken zur Klimaneutralität bis spätestens 2060 bekannt. Dadurch entstand für den chinesischen Machtapparat ein Zeitdruck, der nun akut wird. Bis zum Frühjahr 2025 muss China gemäß dem Pariser Abkommen seinen Nationally Determined Contribution Plan bekannt geben, das heißt, es muss ankündigen, wie schnell es die Dekarbonisierung anstreben wird.

In den kommenden Monaten werden in Peking – fernab vom Rampenlicht einer demokratischen Wahl und einer demokratischen Öffentlichkeit – hinter verschlossenen Türen Ziele gesetzt und Entscheidungen getroffen, die die ökologische Zukunft der Menschheit maßgeblich mitbestimmen werden. Eine schnelle Dekarbonisierung Chinas gibt uns die realistische Chance, wenigstens das 2-Grad-Ziel noch zu erreichen.

Bei einer schleppenden Verwirklichung von Xis Klimaneutralitätsversprechen allerdings würde China alleine für sich rund 27 Prozent des noch verbleibenden CO₂-Budgets beanspruchen. Scheitert China also an der Dekarbonisierung, landen wir alle in einem desaströsen Szenario.

China ist die Industriemacht schlechthin
Es ist für den Westen nicht leicht zu verdauen, aber in Sachen Klima geben wir, weder im Guten noch im Schlechten, alleine den Ausschlag. Die Zukunft der Menschheit liegt zu großen Teilen in Chinas Händen, also in denen des Regimes der kommunistischen Partei unter Führung Xi Jinpings. Das ist eine sehr ungemütliche Realität, aber eben eine Realität.

Verantwortlich für die gewaltigen Emissionen Chinas ist das sagenhafte Wirtschaftswachstum des Landes, mit seiner Bevölkerung von rund 1,4 Milliarden Menschen. Wenn wir nicht in Geldwerten zu Dollarwechselkursen, sondern in realen Produktionswerten rechnen, ist China längst die größte Volkswirtschaft der Welt. China ist die Industriemacht schlechthin. Es produziert mehr Stahl und mehr Zement, aber auch mehr Dünger und mehr Kraftwagen als jedes andere Land. Dazu gehört ein enormer Energieverbrauch. Chinas jährlicher Stromkonsum ist gegenwärtig doppelt so groß wie der Amerikas.

Manche wollen sich trotzdem immer noch einreden, dass es der Westen ist, der für Chinas Emissionen verantwortlich ist. Vor allem in der Frühphase des chinesischen Wirtschaftswunders, um die Jahrtausendwende herum, wurde Chinas Entwicklung tatsächlich maßgeblich durch den Export bestimmt. Insofern waren Chinas Emissionen von seinem Kunden in Europa und den USA mitbestimmt und mitverantwortet.

Doch so gerechtfertigt diese Anmerkung ist oder war, so leicht führt sie heute zu einem Trugschluss. Es mag zwar stimmen, dass Importe aus China die Emissionen des Westens besser haben aussehen lassen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es die Exporte nach Westen sind, die heute und in Zukunft die chinesischen Rekordemissionen bedingen. Dazu ist die chinesische Volkswirtschaft mittlerweile viel zu groß. Tatsächlich ist der Export für nur mehr höchstens 20 Prozent des chinesischen Emissionsanstieges seit den Neunzigerjahren verantwortlich.

Die chinesische Wirtschaft ist längst nicht mehr nur Werkstatt für den Westen. Was die riesigen Emissionen antreibt, ist vor allem Chinas eigene wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung. Der gigantische Prozess der Urbanisierung, den China in drei Jahrzehnten durchgemacht hat, ist in der Weltgeschichte einmalig. Um rund 500 Millionen ist die Stadtbevölkerung in China seit den Neunzigerjahren vom Land gewachsen. Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2020 gibt es 35 Städte in China, die größer sind als Berlin. Städte wie Shanghai mit einer Bevölkerung von 21 Millionen oder Peking mit 17 Millionen sind bis zur Unkenntlichkeit umgebaut worden. Sage und schreibe 88 Prozent aller Behausungen in China wurden seit den Neunzigerjahren neu gebaut. Dafür hat China die globale Stahlproduktion verdoppelt und in drei Jahren, 2010 bis 2013, mehr Beton gegossen als die Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert.

Die dafür benötigte Energie liefert eine geradezu gigantische Kohleverbrennung, direkt in der Industrie und in der Verstromung. Während Kohle in der restlichen Welt seit mindestens 20 Jahren einen Abstieg erlebt, hat China die globale Nachfrage massiv angeheizt. In Indonesien und Australien werden für China Kohle und Erze aus dem Boden geholt. Es kann nie genug sein.

Ab 2021 kam es im Zuge der zunächst rapiden Erholung von der Coronakrise zu einer Verknappung der Energie. Peking reagierte darauf mit einem Neuausbau von Kohlekraftwerken. Weltweit ist China in den letzten Jahren laut International Energy Agency für 95 Prozent der neu gebauten Kapazitäten an Kohlekraftwerken verantwortlich.

Und die Energien-Nachfrage steigt kontinuierlich weiter. Obwohl das Regime seit einigen Jahren den Bauboom zu bremsen versucht und die Wirtschaft sich insgesamt etwas entschleunigt hat, bleibt das Wachstumsziel bei fünf Prozent. 30 Prozent der chinesischen Bevölkerung leben noch auf dem Land, der Markt für Konsumgüter wie Autos und Klimaanlagen ist also noch lange nicht gesättigt.

Das schafft für die Dekarbonisierung in China Herausforderungen in einer ganz anderen Dimension, als wir das aus dem Westen kennen. Die Europäer und Amerikaner machen zwar eine Energiewende durch, doch bei uns sinkt aufgrund des langsamen Wachstums und der Effizienzsteigerung Jahr für Jahr die Nachfrage nach Energie. Wir müssen die bereits stagnierende Emissionskurve nur schneller nach unten biegen.

In wenig mehr als 30 Jahren runter auf null
China hingegen muss eine Haarnadelkurve hinbekommen. Nach Jahrzehnten des massiven Wachstums und eines noch nie da gewesenen Emissionsanstieges muss es in wenig mehr als 30 Jahren runter auf null. Die Herausforderungen sind riesig – ebenso gigantisch sind allerdings auch die Mittel, über die Peking verfügt. China hat seit 2005 die Elektrifizierung mit Hochdruck vorangetrieben. Anders als in Europa oder in den Vereinigten Staaten ist der Stromtrassenbau in China gut geübt. Chinas Netz ist vor allem in der Ultrahochspannungstechnik weltweit führend. Chinas Firmen dominieren in der Fotovoltaiktechnik. Sie haben Kapazitäten ausgebaut, die uns Angst einjagen. Auch in der Massenfertigung von Windrädern ist China führend. Nicht zuletzt beherrscht China auch die Batterietechnik und die dazugehörigen Rohstofflieferketten wie kein anderes Land.

Seit mindestens 2005 verfolgt Peking zielstrebig die Entwicklung der Elektromobilität.
Obwohl China beste Beziehungen zu den Golfstaaten pflegt, hat Peking angesichts des Risikos einer amerikanischen Blockade kein Interesse an einer Abhängigkeit von importiertem Öl. Folgerichtig explodierte in den letzten fünf Jahren der chinesische Markt für E-Autos geradezu. Innerhalb Chinas liefert sich eine Meute von chinesischen Anbietern einen brutalen Konkurrenzkampf. In Europa und Amerika wird das als akute Bedrohung einer überkommenen Verbrennerlebenswelt wahrgenommen, vor Ort einfach als notwendige Umstellung. Die neuen Wagen aus heimischer Fertigung sind elegant, preiswert und bestens auf die allgegenwärtigen digitalen Plattformen abgestimmt.  

Insgesamt ist die unausgeglichene, auf Wachstum ausgelegte Struktur der chinesischen Wirtschaft für die Energiewende günstig. Seit Jahren liegt die Investitionsquote Chinas bei über 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, rund doppelt so hoch wie im Westen. Diese Schlagseite wird von staatlicher Seite begünstigt, von staatlichen Firmen vorangetrieben und auch privatwirtschaftlich durch eine hohe Sparrate noch weiter forciert. Aus der Perspektive des wirtschaftlichen Gleichgewichts wird das als Überinvestition kritisiert, es drückt auch den Lebensstandard. Aber die Klimakrise ist keine Situation, in der Gleichgewicht gefragt ist. Wir brauchen vielmehr eine radikale Kurswende.

Die neuen Energiequellen sind besonders kapitalintensiv. Während wir im Westen die Investitionsrate steigern müssen, muss China nur umlenken. Und genau das geschieht gerade im grünen Energiebereich. In den letzten drei Jahren erlebte China einen einzigartigen Boom vor allem in der Solarenergie. In einem Jahr wurde in China mehr Solarkapazität installiert als in der gesamten Geschichte der USA. Wenn das so weitergeht, kann China die Haarnadelkurve vielleicht doch hinbekommen.

In den nächsten Monaten stellt sich eine entscheidende Frage: Ist Peking bereit, die gewaltige Dynamik, die hinter der grünen Energieinvestition steht, zu unterstützen – oder schreckt die Regierung vor der anstehenden Energieumwälzung zurück?

Das ist die neue Realität
Xis Einparteienstaat hat ein riesiges, zentralisiertes Machtpotential. Aber es wäre einfältig zu meinen, dass es nicht auch in China Politik gibt. Die Interessenballung um die Kohleindustrie in China ist riesig. Kohleproduzenten liefern sich mit Stromproduzenten regelmäßig einen Preiskampf, der auch zu einer Blockade führen kann. Planwirtschaft funktioniert eben auch in China nicht reibungslos. Die Kohleprovinzen Chinas sind eine mächtige Lobby, die sich gegen Wandel sperrt. Der Kohlekompromiss in Deutschland wurde über Jahre verhandelt und kostet mehrere zehn Milliarden Euro, Xis Probleme beim Kohleausstieg sind hundertmal größer.

Und es geht in China wie auch im Westen nicht nur um Interessenpolitik. Die grüne Energiewende ist eine riesige technische Herausforderung. Die Kapazität bei den erneuerbaren Energiequellen steigt zwar in China sehr rapide, dennoch ist ihr Anteil insgesamt noch relativ bescheiden. Wir wissen aus der Erfahrung in Europa, aber auch in Kalifornien in den Vereinigten Staaten, wie komplex sich der Umstieg gestaltet. Mal gibt es zu viel Strom, mal zu wenig. Speicherkapazität ist unabdingbar, aber seine Bepreisung gestaltet sich schwierig. Diese Streitpunkte, die wir im Westen nur zu gut kennen, zirkulieren auch in Planungsstäben in Peking. In Verlautbarungen aus der Energieverwaltung heißt es, dass der vertretbare und nachhaltige Ausbau der Erneuerbaren bei rund 100 Gigawatt im Jahr liegt, das heißt zukünftig zwei Drittel unter dem gegenwärtigen Tempo. Bis zu 30 Prozent des neu anfallenden Energiebedarfs sollen bis 2030 durch weiteren Ausbau von fossilen Kraftwerken gedeckt werden.

Wenn diese konservative Planung sich in den nächsten Monaten durchsetzen sollte, wäre es für die chinesische und damit für die globale Klimapolitik ein Desaster. Andersherum: Im gegenwärtigen Eiltempo, mit einer Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren bei über 300 Gigawatt im Jahr, ist die chinesische Energiewende vielleicht zu schaffen. Alles, was darunter liegt, macht den weiteren Pfad nur schwieriger. Es verschiebt den Kampf mit den Fossilen und macht den Dekarbonisierungspfad unvorstellbar steil.

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