Luftverschmutzung, Klimaschutz: Immer häufiger setzen NGOs ihre Anliegen vor Gericht durch. Was dem Planeten hilft, kann für die Demokratie nicht schlecht sein. Oder?
Und schon kommt das nächste Urteil: Die Bundesregierung muss ihr Luftreinhalteprogramm verbessern, entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Es reiche nicht aus, um die europäischen Ziele zu erfüllen. Noch ist unklar, ob die Frage in die nächste Instanz gehen wird. Aber erst vor wenigen Wochen hat die Klägerin, die Deutsche Umwelthilfe, vor dem gleichen Gericht bereits ein Urteil erreicht, nach dem die Regierung auch ihr Klimaschutzprogramm nachschärfen muss.
Mit jedem dieser Prozesse wird klarer: Die Konflikte um die richtige Klimapolitik werden immer häufiger nicht nur in der Politik, sondern auch vor Gerichten, und zwischen Gerichten und Politik, ausgetragen.
2.180 Klimaklagen haben die Vereinten Nationen für das Jahr 2023 gezählt, mehr als doppelt so viele wie 2017. Gerichte weltweit haben in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe innovativer Urteile gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete 2021 die Regierung zu effektiverem Klimaschutz, zuletzt fand im April ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) viel Aufmerksamkeit, in dem die Gruppe KlimaSeniorinnen Schweiz Recht bekam.
In diesen beiden prominenten Fällen zeigt sich aber mittlerweile auch, dass sich die Politik den Gerichten gerade nicht so leicht unterordnen will. Der Bundespräsident hat, nach ungewöhnlich langem Zögern, das reformierte Klimaschutzgesetz der Bundesregierung unterschrieben – obwohl Umweltverbände und -anwälte ihn davon abhalten wollten. Die im Gesetz enthaltene Abschaffung der Sektorenziele sei verfassungswidrig und verstoße gegen das Verfassungsgerichtsurteil.
Der Schweizer Nationalrat (ein Teil des Parlaments) wiederum sieht in dem europäischen Urteil einen "unangemessenen und unzulässigen gerichtlichen Aktivismus", wie er in einer Erklärung Mitte Juni schreibt. Die Abgeordneten möchten sich deshalb nicht daran halten. Entscheiden muss darüber letztlich die Schweizer Regierung.
Der Widerstand der Schweizer Politik und der Konflikt um das deutsche Klimaschutzgesetz zeigt: Gewählte Volksvertreter wollen sich nicht nach den immer zahlreicheren Gerichtsurteilen richten, die sie auf bestimmte Ziele verpflichten. Sie beharren darauf, selbst zu entscheiden.
Parlamente und Regierungen können aber, auch wenn sie für die Mehrheit der Bevölkerung stehen, nicht machen, was sie wollen. Ihre Entscheidungen müssen kompatibel sein mit den Grund- und Menschenrechten. Gerichte sind dafür da, das zu überwachen. Sie müssen mit dieser Rolle allerdings behutsam umgehen, denn sie leben von der Überzeugungskraft ihrer Urteile und sind auch auf das Vertrauen der Bevölkerung angewiesen.
Dass die Klimakrise eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit ist, ist ebenso unstrittig, wie das Ziel, sie effektiv zu bekämpfen. Auch die deutsche Regierung hat sich dazu verpflichtet. Doch in vielen Ländern reichen die politischen Maßnahmen derzeit nicht einmal aus, um auch nur das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. An dieser Stelle setzen die strategischen Klimaklagen an.
Klagen als politisches Mittel
Anders als bei herkömmlichen Klagen, bei denen Bürger ihre persönlichen Ziele durchsetzen wollen, suchen hier NGOs gezielt Klägerinnen und Klägern, deren Fälle sie für besonders aussichtsreich halten. Das Ziel: Grundsatzurteile mit politischer Wirkung. "Strategische Prozessführung" heißt das auf Rechtsdeutsch. Wenn die Gerichte ihnen recht geben, können die Kläger über den juristischen Weg politisch Dinge durchsetzen, für die es im Parlament keine Mehrheiten gab. Das ist es, was diese Praxis aus demokratietheoretischer Sicht so besonders macht.
"Es ist völlig ungeklärt, was der Status strategischer Klagen in einer Demokratie sein sollte", erläutert die Politikwissenschaftlerin Svenja Ahlhaus. Die Professorin für Politische Theorie an der Universität Münster unterscheidet zwei grundlegend unterschiedliche Perspektiven: "Es gibt diejenigen, die strategische Klagen als ganz normalen Modus politischer Partizipation beschreiben. So wie man seinem Abgeordneten schreiben kann, kann man eben auch vors Gericht ziehen." Und es gebe diejenigen, die warnen, dass strategische Klagen nicht zum standardmäßigen demokratischen Beteiligungsmechanismus werden sollten, etwa weil dadurch die Gewaltenteilung gefährdet oder Gerichte politisch instrumentalisiert würden.
Überschreiten Gerichte ihre Kompetenzen, indem sie der Politik allzu enge Vorgaben machen, wie sie Klimapolitik zu betreiben hat – politische Fragen also verrechtlichen?
Ein Grund für den Erfolg von Populisten?
Schon seit den Nullerjahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit dieser Frage, wenn auch ohne direkten Bezug zur Klimakrise. Der Verfassungsrechtler Ran Hirschl konstatierte eine "Verrechtlichung von Mega-Politiken" – von Politikbereichen also, die gesellschaftlichen Grundfragen betreffen. Der deutsche Politikwissenschaftler Philip Manow geht noch einen Schritt weiter: Für ihn ist der Erfolg des Populismus die direkte Folge einer liberalen Demokratie, "die sich überdehnt" habe. Damit meint Manow "massive Delegation politischer Entscheidungen an supranationale, nicht demokratische Organisationen" und eine "extreme Stärkung von Gerichten gegenüber Parlamenten, insbesondere in Europa". Daraus folge ein Verlust politischer Handlungsmacht in zentralen Politikbereichen. Daran stören sich möglicherweise wiederum viele Wählerinnen und Wähler, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Vertreter gar nicht mehr wirklich viel entscheiden können.
Wenn man dieser Sichtweise folgt, was heißt das für die Klimaklagen?
Die meisten Kritiker haben kein Problem mit Klagen wie der zur Luftreinhaltung vom Berliner Oberverwaltungsgericht. Weil hier Gerichte nur die Politik dazu anhalten, ihre eigenen Gesetze sauber umzusetzen. Sie stören sich aber an Klagen, die versuchen, aus den Menschenrechten neue Ansprüche an die Klimapolitik abzuleiten. Einer dieser Kritiker ist Bernhard Wegener. "Die Gesellschaft und das politische System kennen in ihrer Klimaschutzleistungsfähigkeit Grenzen", sagt der Professor für Umweltrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Man könne das daran erkennen, dass sich Klimapolitik von 2019 zu heute von einer Konsenspolitik zu einer Polarisierungspolitik entwickelt habe.
Zu viel versprochen?
Wegener ist kein Gegner von Klimaschutzmaßnahmen, er betont das im Gespräch mehrfach. Aber er sagt: "Wir haben tendenziell eher zu viel versprochen als zu wenig. Zu wenig, wenn man auf die klimapolitischen Notwendigkeiten schaut." Zu viel, denn das gegebene Versprechen sei größer als das, was die Gesellschaften politisch leisten könnten. "Wie viel ökologischen Umbau kann man leisten, wo stößt man an seine Systemgrenzen? Das können Gerichte nicht entscheiden, das muss politisch verhandelt werden."
Eines der Risiken, mit dem Kritiker argumentieren, nennen Forscherinnen und Forscher die "Rechtsfolgebereitschaft": Wenn der verurteilte Staat den Entscheid schlicht nicht umsetzt, kann das Gericht kaum etwas dagegen tun. Verfassungsgerichte haben keine Polizei, sie leben von der Folgsamkeit der Politik aus freien Stücken. Diese Folgsamkeit ist gefährdet, wenn gewählte Politiker das Gefühl haben, expertokratische Gerichte regierten ihnen mit allzu revolutionären und weitreichenden Urteilen in ihre demokratischen Entscheidungen hinein.
Eine Episode aus Bayern illustriert das gut: Als sich die dortige Staatsregierung im Jahr 2018 weigerte, Gerichtsurteile zur Luftreinhaltung umzusetzen, beschäftigte sich sogar der Europäische Gerichtshof mit der Frage, ob Markus Söder in Zwangshaft müsste, wenn er Gerichtsurteile nicht umsetzt. Söder hatte Glück, im deutschen Recht fehlte eine entsprechende Regelung. Aber der bayerische Fall verdeutlicht, zu welchen Konflikten eine Entfremdung von Rechtsstaat und Politik führen kann. Dieser Konflikt ist auch in der Erklärung des Schweizer Nationalrats zum Urteil zugunsten der KlimaSeniorinnen sichtbar.
Nur Hilfsmittel für die Politik
Die Politikwissenschaftlerin Ahlhaus allerdings sagt, bisher gebe es noch keine empirischen Befunde, ob die Verrechtlichung von Politik "tatsächlich Auswirkungen auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit der politischen Institutionen hat". Und ihre Kollegin, die Juraprofessorin Christina Eckes, verteidigt die demokratietheoretische Wirkung der strategischen Klimaklagen. Sie forscht an der Universität Amsterdam dazu. "Es ist nicht so, dass die Gerichte sagen, wie es gemacht werden muss und dann ist Politik zu Ende. Nein, dann beginnt Politik." Diese Position wird von einer akademischen Mehrheit vertreten. Klimaklagen, sagt Eckes, seien ein Hilfsmittel, um die Politik an ihre eigenen politischen Verpflichtungen zu erinnern und daran, "dass sie Teil eines Menschenrechtskontextes ist." Die Gerichte müssten solche Entscheidungen treffen, weil die Menschenrechtsverletzungen "drastisch auf der Hand liegen."
Menschenrechte auf der einen Seite. Demokratische Mehrheitsentscheidungen auf der anderen. Was tun, wenn das eine scheinbar das andere gefährdet?
Das Verhältnis von Menschenrechten und Demokratie ist kompliziert. Die Philosophie diskutiert hier auf einer sehr abstrakten Ebene: Sind Menschenrechte Voraussetzung von Demokratie oder sind sie die konsequente Umsetzung von Demokratie? Bedingen sie sich gegenseitig?
Es braucht beides
In der politischen Philosophie ist die Ansicht weitverbreitet, dass Demokratie nur dann verwirklicht ist, wenn sie die gegenseitige Anerkennung der Bürger als Freie und Gleiche meint. Freiheit und Gleichheit werden gewährleistet durch den Rechtsstaat und die Grund- und Menschenrechte mit ihrem ausgeprägten Minderheitenschutz.
Übertragen auf die Klimakrise hieße das:
Erfolgreiche Menschenrechtsklagen
wie die der Schweizer Rentnerinnen
sichern den langfristigen Bestand der Demokratie,
denn die funktioniert nur vollständig,
wenn Menschenrechte geschützt werden.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat es in seinem Urteil über die Schweizer Klimapolitik so formuliert: "Demokratie kann nicht auf den Willen der Wähler und Repräsentanten unter Missachtung der Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit reduziert werden. Der Auftrag der nationalen Gerichte und des EGMR ist daher komplementär zu diesen demokratischen Prozessen." Weniger juristisch ausgedrückt sagt das Gericht: Nur in einer wechselseitigen Beziehung von politischen Entscheidungen und deren rechtlicher Überprüfung entstehe echte Demokratie.
Es kann also nur darum gehen, diese wechselseitige Beziehung stabil zu halten, sie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kippt die Machtbalance zugunsten der Gerichte, könnte sich die liberale Demokratie selbst gefährden – Verfassungsgerichte sind schnell entmachtet, das haben Polen und Ungarn gezeigt. Und ein Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ist möglich.
Räumt man andererseits den politischen Entscheidungen der Mehrheit mehr Raum ein, egal wie klug, töricht oder gar gefährlich sie im Einzelfall sein mögen, ist der Preis ebenfalls hoch: Bürgerinnen und Bürger und ihre Repräsentanten könnten sich dann aus kurzfristigen Motiven selbst der Lebensgrundlagen ihrer demokratischen Gesellschaften berauben.
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