Dienstag, 16. Juli 2024

Ein bekanntes Problem der Atomindustrie: Man redet gerne über Ambitionen und Ideen, die Realität sieht oftmals anders aus

 hier Von Christian Herrmann  16.07.2024,

US- Regierung fleht Atomindustrie an

USA bekommen Three Mile Island statt neuer AKW - Block 2 des AKW Three Mile Island war nur wenige Monate am Netz, bevor es zur Katastrophe kam

Die USA wollen ihre Atomkapazitäten bis 2050 verdreifachen, um eine Stromversorgung ohne Kohle und Erdgas zu sichern. Trotz großer Pläne bleiben die gewaltigen Kosten neuer AKW ein K.o.-Kriterium, es ist kein neues Projekt in Sicht. Stattdessen sollen alte Meiler aus dem Ruhestand geholt werden.

Am 28. März 1979 erleben die USA beinahe ihren eigenen Super-GAU. Im Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania schmelzen ziemlich genau sieben Jahre vor der Atomkatastrophe von Tschernobyl Teile eines Reaktorkerns. Radioaktiver Dampf und kontaminiertes Wasser entweichen. Fünf Tage lang fürchten Techniker und Wissenschaftler das Schlimmste. Erst dann finden sie den Fehler und setzen das Kühlsystem wieder in Gang.

Für Block 2 von Three Mile Island ist der Betrieb damit bereits nach wenigen Monaten beendet. Er wird nie wieder hochgefahren, sondern bis 1993 für knapp eine Milliarde US-Dollar zurückgebaut. 2019 wird nach 45 Jahren Dienstzeit auch der erste Block vom Netz genommen.

Der Beinahe-Gau von Harrisburg

Für den steht plötzlich ein Comeback im Raum. "Das Kraftwerk ist in einem ziemlich guten Zustand", zitiert die "Washington Post" Joe Dominguez. "Wir glauben, dass es technisch möglich wäre, es wieder in Betrieb zu nehmen", sagt der Chef von Constellation Energy. Dem Energieversorger gehört das AKW.

Amazon und Microsoft sollen zahlen

Die USA brauchen Strom. Viel Strom. Experten gehen davon aus, dass sich allein der Energiebedarf von Rechenzentren bis 2030 verdreifacht. Damit treiben Tech-Unternehmen wie Amazon, Google oder Microsoft ihre KI-Anwendungen an. Amazon hat deswegen bereits für 650 Millionen US-Dollar ein Rechenzentrum auf dem Gelände eines Atomkraftwerks gekauft.

Die US-Regierung hat allerdings ambitioniertere Pläne: Um den steigenden Strombedarf ohne Kohle und Gas zu sichern, setzt sie nicht nur auf Wind- und Solarenergie, sie will auch die amerikanischen Atomkapazitäten bis 2050 verdreifachen. Dafür sind Dutzende neue Kernkraftwerke notwendig.

Das sei saubere Energie, sagt US-Energieministerin Jennifer Granholm. "Die wird absolut notwendig sein, wenn man sich den steigenden Strombedarf durch Rechenzentren und durch die Elektrifizierung der Gesellschaft anschaut."

Den Betreibern der Rechenzentren soll beim Ausbau der Atomkapazitäten eine besondere Rolle zukommen: "Wir sind sehr daran interessiert, neue Kernkraftwerke mit den Kunden zusammenzubringen, die den sauberen Strom wollen", führte Granholm aus. "Wenn also Microsoft oder Amazon saubere Energie für ihre Rechenzentren suchen, sollten sie diejenigen sein, die dafür bezahlen, nicht normale Bürger. Das ist das Modell, das uns vorschwebt."

"Wer kündigt den ersten Spatenstich an?"

Bisher stößt dieses Modell aber nicht auf Gegenliebe. Amazon, Google und Microsoft schwimmen zwar im Geld, zeigen trotz Zuschüssen und Steuergutschriften aber genauso wenig Interesse an neuen AKW wie die amerikanischen Energieversorger. Das erfuhr die US-Energieministerin Ende Mai bei einem Branchentreffen in Las Vegas höchstpersönlich. "Wer kündigt den ersten Spatenstich an, wer?", fragte Granholm laut dem Wirtschaftsportal Bloomberg in die Runde.

Niemand, wie es scheint, obwohl die Ministerin dem Bericht zufolge nichts unversucht ließ. Sie redete laut Bloomberg mit den Energieversorgern, schmeichelte ihnen und bettelte sogar um neue AKW-Projekte. Vergebens. Denn die Erinnerungen an das neueste sind noch frisch.

Stromkosten steigen durch neues AKW

Im Juli 2023 ging im US-Bundesstaat Georgia mit dem Kernkraftwerk Vogtle 3 der erste komplett neue amerikanische Reaktor seit mehr als 30 Jahren ans Netz. Vor drei Monaten folgte auch der vierte Block.

Kernkraft-Fantasie scheitert an desolater Industrie

Für die US-Regierung und Atomkraft-Befürworter sind sie der Beweis, dass Atomkraft in den USA eine Zukunft hat; für Gegner sind sie ein Beleg des Scheiterns: Denn ursprünglich sollten die beiden Reaktorblöcke bereits 2017 ans Netz gehen und 14 Milliarden US-Dollar kosten, nicht 30 Milliarden. Der Konstrukteur der Anlage, der Konzern Westinghouse, ging durch den Bau bankrott. 

Ein vergleichbares Projekt in South Carolina konnte er nie fertigstellen. Und für Kunden von Vogtle-Betreiber Georgia Power sind die Stromkosten mit der Inbetriebnahme der neuen Blöcke auch nicht gefallen, sondern gestiegen, um die Mehrkosten wieder reinzuholen.

Vogtle sei eine "mühsame Reise" gewesen, sagte Chris Womack diplomatisch, als Energieministerin Granholm das neue AKW besuchte. Der Chef der Georgia-Power-Mutter Southern Company stellte aber auch klar: "Die Lektionen, die wir beim Bau von Vogtle 3 und 4 gelernt haben, können der Entwicklung der Kernenergie in diesem Land helfen. Wir werden alles tun, um das zu unterstützen, aber in absehbarer Zeit haben wir keine neuen Investitionen geplant"

Was die Atomindustrie will, ist klar: Keine Zuschüsse oder Gutschriften, sondern eine Versicherung der US-Regierung, falls beim Bau eines neuen Atomkraftwerks mal wieder etwas schiefgeht und die Kosten explodieren. Daran lässt Chris Womack keinen Zweifel: "Die Regierung sollte Finanzierung bereitstellen, um diese Investition zu erleichtern", sagte der Chef der Southern Company. "Ohne diese Absicherung könne er andere Energieversorger nur davor warnen, diesen Weg zu beschreiten." Anders als bei vielen Politikern scheint sich das Kernproblem von Atomkraftwerken bei der Industrie eingebrannt zu haben.

Wind und Solar schlagen AKW deutlich

Der dänische Ökonom Bent Flyvbjerg lehrt an der Universität Kopenhagen und an der Oxford-Universität in Großbritannien. Sein Fachgebiet ist die Kostenentwicklung von Großprojekten. Akribisch hat er über fast drei Jahrzehnte Daten von rund 16.000 Projekten in 136 Ländern gesammelt und in seinem Buch "How Big Things Get Done" zusammengetragen: "Wie man große Dinge schafft".

Kernkraftwerke schneiden ihm zufolge nicht gut ab, sie werden im Schnitt fast 120 Prozent teurer als geplant. Beim Bau von Windparks steigen die Kosten dagegen nur um 13 Prozent, beim Bau von Solarparks sogar nur um ein Prozent.

Der Grund ist keine große Überraschung: Atomkraftwerke benötigen viele teure Spezialbauteile, außerdem gelten für Kernreaktoren sehr viel höhere Sicherheitsvorgaben als für Windkraftanlagen oder Solaranlagen, die man auf dem Dach installieren kann - erst recht seit den Atomunfällen von Tschernobyl und Fukushima.

Arbeitsgruppe statt Versicherung

Diese Risiken wollen private Investoren oder Unternehmen nicht länger allein tragen, in den meisten Ländern rechnen sich Atomkraftwerke nur noch mit staatlicher Unterstützung. Das belegen auch die Zahlen des jährlichen Berichts zum Zustand der weltweiten Atomwirtschaft (WNISR): Derzeit befinden sich etwa 45 Prozent der weltweiten Atomkapazitäten in staatlicher Hand - mit steigender Tendenz. Jüngst monierte die tschechische Regierung, dass es für ihren nächsten Reaktor bisher kein wettbewerbsfähiges Finanzierungsangebot gebe. Sie schätzt, dass sie selbst 90 Prozent der Kosten tragen muss. Das sei selten ein Zeichen für eine gesunde industrielle Entwicklung, fasst das russische Wirtschaftsportal The Insider die Lage zusammen.

Amazon zahlt 650 Millionen Dollar an ein AKW

Doch zu einer kompletten Übernahme der Kosten ist die US-Regierung bisher nicht bereit. Bei dem Branchentreffen in Las Vegas kündigte Energieministerin Granholm keine staatliche Versicherung an, sondern eine neue Arbeitsgruppe, die untersuchen soll, wie der Ausbau der Atomkapazitäten unterstützt werden und man Verzögerungen vermeiden kann. Die Wahrheit ist zumindest für diesen Moment: Selbst die größten Kernkraft-Enthusiasten wollen nicht auf eigenes Risiko ein neues Kernkraftwerk bauen.

Fährt Palisades wieder hoch?

Stattdessen also das Three-Mile-Island-Prinzip: In den USA sind derzeit 93 kommerzielle Reaktoren in Betrieb, aus denen auch das letzte Tröpfchen Kernenergie rausgequetscht werden soll. Landesweit werden Laufzeiten von Reaktoren verlängert, ohne die Konsequenzen wirklich abschätzen zu können. Außerdem prüfen die Betreiber, ob sie die Leistung ihrer Reaktoren mit Nachrüstungen verbessern oder ob bereits stillgelegte Kernkraftwerke wieder hochgefahren werden können.

Auch diese Pläne sind alles andere als günstig: Als allererstes AKW der US-Geschichte soll Palisades im Bundesstaat Michigan aus dem Ruhestand geholt werden. Es ging im Mai 2022 nach mehr als 50 Dienstjahren vom Netz. Der neue Besitzer prüft derzeit, ob es sich lohnt, es zu sanieren und den Reaktor anschließend wieder bis mindestens 2051 in Betrieb zu nehmen. Falls es dazu kommt, will sich das US-Energieministerium mit 1,5 Milliarden US-Dollar an den Kosten beteiligen.

Das Nachrüsten laufender Reaktoren ist günstiger: Constellation Energy, der Besitzer von Three Mile Island, investiert bereits 800 Millionen US-Dollar, um zwei AKW im US-Bundesstaat Illinois mit besseren Turbinen auszustatten, die mehr Strom erzeugen sollen. Der Verband der amerikanischen Atombranche (NEI) geht davon aus, dass die amerikanische Atomflotte durch solche Maßnahme bis 2032 2,5 Gigawatt Leistung zusätzlich in das amerikanische Stromnetz einspeisen wird. Das entspricht ungefähr der Leistung von zwei neuen Reaktoren.

Doch auch bei diesen Plänen zeigt sich ein bekanntes Problem der Atomindustrie: Man redet gerne über Ambitionen und Ideen, die Realität sieht oftmals anders aus. Jede Aufrüstung muss von der US-Atombehörde NRC genehmigt werden. In den vergangenen zehn Jahren wurden 18 Nachrüstungen erlaubt, in den meisten Fällen ging es allerdings nur um bessere Messinstrumente. In den vergangenen zwei Jahren gingen gar keine neuen Anträge ein, auch nicht für Three Mile Island.

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