Süddeutsche Zeitung hier 11. Juli 2024 Von Gerhard Matzig
Es gibt immer mehr Autos in Deutschland – aber trotzdem immer weniger Autoverkehr. Ist das der Mann-auf-dem-Mond-Moment der Mobilitätswende?
...Peterchens Mondfahrt war nur noch einen kleinen Neil-Armstrong-Schritt entfernt von der himmelwärts strebenden Zivilisation. Die Weltraumfahrt befand sich auf dem Höhepunkt – genau am Schnittpunkt zwischen der Realität des technisch Machbaren und der Popularität des emotional Wünschenswerten. Damals war auch die Autowerbung auf dem Gipfel der Glücksverheißung und des Sehnsuchtsversprechens.
Die Automobilität wurde zum Inbegriff von Freiheit, Aufbruch und Futurismus.
Das Auto, vom technikgeschichtlichen und ökonomischen Ursprung her ein elitäres Spielzeug, wird zum Massenphänomen und zugleich zum Generator individueller Mobilität. Es ist die Weltraumrakete des kleinen Mannes. Die Leuchte am Heck markiert den Feuerstrahl des Triebwerks. Nächste Ausfahrt: Douglas Adams’ „The Restaurant at the End of the Universe“. Der als Nomade geprägte Mensch erinnert sich an ein Dasein vor der Sesshaftwerdung. Die Mobilität der Moderne ist insofern Aufbruch und Rückkehr in einem.
Die Strahlkraft war enorm.....
Der Fetisch Auto hört womöglich auf, ein Fetisch zu sein
Die Zukunft: Das war die nunmehr gültige Fluchtlinie der Menschheit, und das Auto war der prometheische Himmelsschlitten auf dem Weg dorthin. Auch deshalb kann man die soeben publizierte Studie des Thinktanks „Agora Verkehrswende“ nur als Mann-auf-dem-Mond-Moment der Kulturgeschichte bezeichnen.
Denn erstmals scheint ein zuvor lange nur politisch versprochener, gesellschaftlich (in Teilen) ersehnter Wendepunkt erreicht zu sein, der sich nicht dem FDP-Verkehrsministerium, sondern dem Alltagsverhalten der Menschen verdankt – und eines andeutet: Der Fetisch Auto hört womöglich auf, ein Fetisch zu sein. Ist diese Vorstellung abseits politisch motivierter Leitbilder Wunsch oder Wirklichkeit, Ab- oder Zerrbild?
Tatsächlich hat sich das Verkehrsgeschehen in Deutschland zwischen 2019 und 2023 auf verblüffende, kaum zu glaubende Weise verändert. Laut der Agora Studie, die wiederum auf dem Gutachten „Wandel auf Straßen und Schienen: Verkehrsentwicklung in Deutschland 2019–2023“ (verfasst von der Strategieberatung KCW) basiert, „waren 2023 beispielsweise sieben Prozent weniger Pkw auf den Autobahnen unterwegs als 2019“. Auch in Großstädten „wie Berlin, Hamburg und München ist eine ähnliche Entlastung im Autoverkehr zu beobachten“, schreibt dazu die Plattform Ingenieur.de, „teilweise sogar noch deutlicher“.
Da man als Automobil-Liebhaber im Sinne Wrights gelegentlich – vormals verdammt gern – Auto fährt, aber trotzdem bei all diesen Gelegenheiten auf dem Land und in der Stadt prinzipiell ungern, aber dafür umso verlässlicher im Stau steht: Wie kann man sich eigentlich all diese absurden Stau-Kilometer mit immer weniger Verkehr erklären? Bei gleichzeitig immer mehr Autos? Die was tun? Rumstehen? Offenbar.
Und die Bahn? Kommt nicht. Wenn jemand der Chef-Auto-Lobbyistin Hildegard Müller den Rang als Hohepriesterin des vergöttlichten Autos aktuell abläuft, dann ist es die irre Bahn selbst.
Kann es sein, dass all diese Autos vor allem im Weg herumstehen?
Eine Interpretation der Studie laut Ingenieur-Plattform: „Die bisher als unumstößlich angesehene Gleichung ‚mehr Menschen + mehr Fahrzeuge = mehr Verkehr‘ scheint nicht mehr zu gelten.“ Das ist er, der die Zeitläufte in ein Vorher und ein Nachher teilende Mond-Moment der Verkehrsgeschichte, die in weiten Teilen die Kultur-, ja Kultgeschichte vom Auto ist. Obwohl also der Pkw-Bestand, um auf Deutschland zurückzukommen, seit Jahrzehnten aus Gründen der Demografie, des Wohlstands, der Bequemlichkeit, der Distinktion und unter Umständen auch der reinen Idiotie (der Trend geht zum Drittwagen) kontinuierlich wächst, nimmt die Verkehrslast insgesamt paradoxerweise ab.
Wiebke Zimmer von Agora Verkehrswende sagt dazu: „Verkehrswachstum ist also kein Naturgesetz.“ Das zielt auf die Verkehrswende, die der Thinktank schon im Namen führt: Die Forderung nach einer Neugestaltung von Verkehr und Mobilität ist ihrerseits aber alles andere als neu. Nur schien sie ihrem Ziel noch nie so nahe zu sein. Wenn immer mehr Autos immer weniger Verkehr produzieren, liegen zwei Fragen nahe. Erstens: Kann es sein, dass all diese Autos vor allem im Weg herumstehen, ohne nennenswert unterwegs zu sein – ist also aus der Automobilität in Wahrheit schon längst ein realer Mobilitätsmangel geworden? Mehr Schein als Sein auf der Straße?
Zweitens: Wenn die vom Thinktank angeführten Gründe für das paradox wirkende Auseinanderdriften von potenziellem und echtem Individualverkehr zutreffend sind (Homeoffice, Deutschlandticket, CO₂-Preis), dann muss eine Entemotionalisierung von erstaunlicher Dynamik im Spiel sein. Das ist bemerkenswert, weil die jahrzehntelang mantrahaft formulierten Forderungen der Verkehrswende (Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Verbesserung des Rad- und Fußverkehrs, verursachergerechte Anrechnung der Kosten des Autofahrens, Abbau von Privilegien des Autoverkehrs) bisher weniger an rationaler Einsicht, sondern am irrational zum Kulturträger beförderten Auto scheitern. Es ist der Fetisch, nicht die technische Idee, woran das System krankt.
Sind die Menschen vernünftiger als die Verkehrspolitik?
Damit verbunden sind die immer gleichen, vornehmlich ideologisch motivierten und beinahe sinnlosen Reibungsverluste in der Debatte: Auto-Liebhaber und Auto-Nutzer sind nicht dasselbe. Das eine ist das Terrain von Pragmatik und Funktionalität, das andere ist, tja, das Reich von Liebe und Emotionalität. Verschiedene Sphären. Ein tiefer Graben dazwischen.
Die Kluft ist keine mehr, wenn die einzelnen Verkehrsträger nicht irrational, sondern rational bewertet werden. Wer den Status als Fetisch (das kann übrigens auch das Lastenfahrrad sein als fahrbare Moralinstanz) einbüßt, wird frei, um sich in eine Gesamtbetrachtung der Mobilität zu fügen – genau dort, wo die Notwendigkeit des Einzelfalls entscheidet: Auto, Bus, Bahn, Rad, zu Fuß. Es gibt viele Arten, von A nach B zu kommen. Das ist keine Frage des hehren Glaubens, sondern eine der praktischen Vernunft.
In diesem Zusammenhang könnte man sich als Gesellschaft auch endlich klar darüber werden, dass es regionalräumlich unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse und unterschiedliche Mobilitätsmöglichkeiten gibt. Es ist also nicht nur gut, wenn das Auto endlich aufhört, ein Heilsversprechen zu sein, es ist zugleich falsch, es als Skandalon auf Rädern zu verteufeln. Die staunenswerte Studie könnte ja auch so gedeutet werden: Die Menschen gestalten die Mobilität grundsätzlich vernünftig. Die Verkehrspolitik erweist sich dagegen oft als irrational.
Wenn es immer mehr Autos gibt, die nicht zwangsläufig immer mehr Verkehr verursachen, weil sie vergleichsweise seltener genutzt werden, dann wäre der nächste logische Schritt dieser: Weniger Autos produzieren und weniger Autos kaufen, die sonst bald noch mehr auf Fahrradwegen und Bürgersteigen geparkt werden müssen wie einsame Wesen, die einmal geliebt und begehrt wurden. Bevor man sich klargemacht hat: Es ist doch nur Blech.
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