Montag, 15. Juli 2024

Geothermie soll in der EU einen neuen Aufschwung erleben

Womöglich bringt die Ratspräsidentschaft von Ungarn nun auch die Wärmewende voran? Das ist unerwartet aber durchaus begrüßenswert!

Standard   hier  Jakob Pallinger  12. Juli 2024

Ungarn will mit einer Geothermie-Allianz die Geothermie in Europa vorantreiben und damit auch selbst von fossilen Energien wegkommen. Wie gut kann das gelingen? 


Nicht nur in Island sind geothermische Kraftwerke möglich. Auch in vielen Ländern der EU könnte Wärme aus der Tiefe bald vermehrt Erdgas ablösen.

Die südungarische Stadt Szeged galt nicht als Vorreiter in Sachen Klimaschutz. Viele Jahrzehnte lang verbrannte die Stadt große Mengen an russischem Gas, um Wohnungen und Häuser zu beheizen. Bis die Stadt vor ein paar Jahren die gewaltigen Mengen an Wärme entdeckte, die im Boden unter der Stadt in heißen Grundwasserbecken schlummern. Innerhalb von zwei Jahren stellte Szeged das gesamte Fernwärmesystem auf Geothermie um. Rund die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner wird jetzt über ein 250 Kilometer langes Netzwerk aus Verteilungsrohen mit Wärme aus der Tiefe versorgt, was das Projekt zur größten Geothermie-Anlage in der EU macht. Dieses soll nicht nur die Luftqualität der Stadt verbessern, sondern jedes Jahr auch tausende Tonnen CO2 einsparen.

Das Projekt war so erfolgreich, dass das "Szeged-Modell" nun auch Vorbild für viele andere Städte in Ungarn und in der EU sein soll. Rund 25 Prozent der Bevölkerung in der EU leben laut Studien in Gebieten mit ausreichend geothermischen Vorkommen, die sich für die Fernwärme nutzen ließen. 

Dennoch stammen aktuell nur 2,8 Prozent der erneuerbaren Energien und lediglich 0,2 Prozent des Stroms in der EU aus Geothermie. Im Vergleich zu großen Geothermie-Staaten wie China oder den USA versinkt die Erdwärme in der EU beinahe in Bedeutungslosigkeit.

Doch das soll sich bald ändern. Bereits 2022 forderte die EU-Kommission eine Verdreifachung des Anteils der Geothermie am Gesamtenergiebedarf der EU bis 2030. Anfang des Jahres einigte sich auch das EU-Parlament darauf, geothermische Energie stärker zu fördern und damit die Energiewende voranzutreiben. Ungarn, das seit Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat, will nun mit einer europäischen Geothermie-Allianz den Bau neuer Anlagen beschleunigen und neue Finanzierungsmodelle für die Geothermie aufstellen.

Großes Potenzial
Denn das Potenzial der Erdwärme sei immens – nicht nur in Ungarn, sondern etwa auch in den Niederlanden, Deutschland, Belgien, Dänemark, Frankreich, der Slowakei oder Österreich. Geothermie sei eine zuverlässige Energiequelle, die im Vergleich zu Solar- oder Windkraft kontinuierlich Energie liefere und die sowohl für die Wärme- als auch für die Stromerzeugung genutzt werden kann. Gerade Regionen, die momentan noch stark von fossilen Energien und russischem Gas abhängig sind, könnte Geothermie künftig Energiesicherheit geben und bei der Energiewende helfen, so die Idee.

Expertinnen sehen diesen Vorstoß auf EU-Ebene sehr positiv. "Wir brauchen die Geothermie vor allem für die Wärmeversorgung", sagt Inga Moeck, Professorin für Angewandte Geothermik und Geohydraulik an der Georg-August-Universität Göttingen, dem STANDARD. Jahrzehntelang habe man in der EU vor allem auf Gas vertraut, da dieses günstig verfügbar war. Nun schaue man wieder auf die eigenen Ressourcen. "Das ist der Trend, den wir gehen müssen."

Ähnlich sieht es auch Edith Haslinger, Geologin am Austrian Institute of Technology (AIT). "Geothermie ist eine Schlüsseltechnologie bei der Wärmewende, die bisher zu wenig ausgeschöpft worden ist", sagt sie dem STANDARD. In der EU werde bisher maximal zehn Prozent des Potenzials an Geothermie genutzt. "Beim Thema Energiewende wurde bis vor ein paar Jahren hauptsächlich über Strom und Mobilität, aber kaum über Wärme gesprochen, obwohl die Hälfte des Endenergiebedarfs aufs Heizen und Kühlen entfällt." Geothermie habe bisher wenig öffentliche Wahrnehmung erfahren – wohl auch, weil die Anlagen im Vergleich zu Solar- und Windanlagen weniger sichtbar seien.

Viele Einsatzmöglichkeiten
Dabei biete die Geothermie durch ihre Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten eine große Chance. Die oberflächennahe Geothermie, bei der die Wärme bis zu einer Tiefe von 300 bis 400 Metern mithilfe von Kollektoren oder Sonden fürs Heizen oder Kühlen genutzt wird, sei vergleichsweise einfach und beinahe überall umsetzbar. Bei der Tiefengeothermie wiederum, bei der zum Teil mehrere Kilometer tief gebohrt wird, können die höheren Temperaturen kaskadisch genutzt werden: zuerst für die Industrie und Fernwärmenetze, wo hohe Temperaturen gebraucht werden, dann als Abwärme für die Raumwärmeversorgung, sagt Haslinger.

Vorzeigebeispiele für die Nutzung von Geothermie gebe es laut Moek auch in Österreich. Etwa in Bad Blumau, wo sich Gemüsebauern vor ein paar Jahren zusammengetan haben, um 125 Grad warmes Thermalwasser aus 3500 Meter Tiefe zum Beheizen der Gewächshäuser zu nutzen und mit diesen auch Wetterschäden vorzubeugen.

Einige Hürden
Allerdings gibt es bei der Geothermie noch einige Herausforderungen. Bei der oberflächennahen Geothermie reicht die Wärme meist nicht aus, um auch einen größeren Wärmebedarf abzudecken, sagt Moeck. Bei der Tiefengeothermie wiederum braucht es vor der Erschließung meist eine Erkundungsbohrung, die auch erfolglos verlaufen kann und damit mit hohen finanziellen Risiken verbunden ist. Das hat sich nicht zuletzt auch in Wien gezeigt, wo es Jahre dauerte, bis es gelang, das Aderklaaer Konglomerat, ein Wasserreservoir in 3500 Meter Tiefe, anzuzapfen. Vielerorts fehlt es derzeit zudem noch an qualifizierten Arbeitskräften, um seismische Untersuchungen des Bodens und Bohrungen durchzuführen.

Ein weiteres Problem: Bohrungen sind bei Gemeinden und deren Bewohnerinnen und Bewohnern häufig unbeliebt, da diese immer wieder Furcht vor dadurch ausgelösten Erdbeben haben. "Erdbeben können ausgelöst werden, wenn durch das Zurückleiten von Wasser in die Tiefe der Druck zu groß wird", sagt Moeck. Je tiefer gebohrt wird, desto höher sei dieses Risiko, da mit zunehmender Tiefe auch die tektonischen Spannungen größer werden. "Es ist gut, nicht so sehr in die Tiefe zu gehen, um dieses Risiko zu minimieren." Allerdings haben laut Moeck die wenigsten Anlagen überhaupt Erdbeben ausgelöst. Und wenn, dann seien diese meist sehr schwach gewesen. Wie groß das Erdbebenrisiko ist, hänge immer auch von der jeweiligen Region ab.

Standards vereinheitlichen
In Österreich komme als weitere Hürde hinzu, dass Geothermie nicht bergfrei ist wie in Deutschland, sondern grundeigen, sagt Moeck. Einem Grundeigentümer gehöre damit die Geothermie unter seinem Grundstück bis zum Erdmittelpunkt. "Das ist ein echtes Hemmnis für den Ausbau der Geothermie, da man nachweisen muss, dass man dem Grundstücksnachbarn nicht die Wärme wegnimmt." Da bei einer Bohrung jedoch meist Wärme in einem Umkreis von fünf Kilometern rund um die Bohrstelle angezapft wird, sei dies in vielen Fällen kaum möglich.

Eine Geothermie-Allianz auf EU-Ebene müsse sich zum Ziel setzen, solche Standards zu vereinheitlichen, sagt Moeck. Denn momentan gebe es in vielen Ländern noch viele unterschiedliche Auflagen und Genehmigungsverfahren. Einheitliche Standards würden vor allem auch den Bau von Anlagen in Grenzregionen erleichtern. Nicht zuletzt soll durch eine gemeinsames Vorgehen auf EU-Ebene auch das finanzielle Risiko bei Tiefenbohrungen künftig besser gestemmt werden, das bisher in vielen Fällen Gemeinden und einzelne Investoren tragen.

Wärmesynergie-Regionen
"Wir sollten wegkommen von reinen Individuallösungen bei der Wärmeversorgung", sagt Haslinger. Stattdessen brauche es aus wissenschaftlicher Sicht ganze Wärmesynergie-Regionen, in denen mehrere Gemeinden und Industriebetriebe bei der Geothermie zusammenarbeiten, Projekte gemeinsam finanzieren und damit Risiken aufteilen. Ähnliches gelte auch bei der oberflächennahen Geothermie für die Raumwärme. "Eine gemeinschaftliche Erschließung und Nutzung von Wärmequellen würde uns auch beim raschen Ausstieg aus Gas und Öl im Wohnbau helfen.“

Um die Geothermie auch auf EU-Ebene künftig besser voranzubringen, brauche es zuerst eine flächendeckende Erhebung des Geothermiepotenzials und einen leichteren Zugang zu Daten, gerade wenn es um die Tiefengeothermie gehe. "Für die klassische Raumwärme hat Geothermie einen riesigen Hebel", sagt Haslinger. Sie schätzt, dass Wärme aus der Tiefe in manchen Gegenden künftig bis zu drei Viertel des Wärmebedarfs abdecken könnte. "Wir stehen bei der Geothermie erst am Anfang." (Jakob Pallinger, 12.7.2024)

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