Sonntag, 28. August 2022

Nichtstun First. Bedenken Second

Spiegel  hier  Eine Kolumne von Christian Stöcker  28.08.2022

 Verweigerungspartei FDP

Das Klima-»Sofortprogramm« des Bundesverkehrsministers Volker Wissing ist ein Affront. Gegen die Koalitionspartner, die Bevölkerung, den Rest der Welt. Die FDP hat das Nichtstun zum politischen Programm erhoben.

...Erinnern Sie sich noch an diese Wahlplakate? Christian Lindner von der linken Seite aus aufgenommen, mit weißen iPhone-Kopfhörern im Ohr, konzentriert auf sein Handy starrend, mit der Zeile: »Digital First. Bedenken Second. Denken wir neu.«

Das ist das Image, das die FDP, deren Amtsträger schon morgens beim Aufwachen als erstes »Innovation« murmeln, gerne hätte: jung, dynamisch, veränderungsbereit.

Veränderungs- und innovationsunwillig

Die wahre Lindner-FDP ist das genaue Gegenteil. Rückwärtsgewandt, veränderungs- und innovationsunwillig, besitzstandswahrend und ohne jede politische Vision jenseits von: Wer viel Geld hat, muss genauso weiterleben können wie bisher.

Noch mal kurz zur Erinnerung, wie die Dinge wirklich liegen: Der Planet Erde bewegt sich gerade mit hohem Tempo in eine Ausnahmesituation hinein, die es während der gesamten Existenz der menschlichen Zivilisation noch nicht gab. Die immer weiter beschleunigte Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bildet mit einer weiterhin ebenfalls beschleunigten technologischen Entwicklung und der damit einhergehenden, immer weiter zunehmenden gesellschaftlichen Instabilität einen perfekten Cocktail absolut zwangsläufiger, unausweichlicher Veränderung. Deutschland und Europa sind daran maßgeblich mitschuldig

Zwangsläufig und unausweichlich  

Einen Teil der unausweichlichen Veränderung können wir aktiv gestalten, ein anderer ist dem menschlichen Zugriff vorläufig entzogen. Es wird erst einmal weiterhin heißer, gefährlicher, trockener  oder aber auch nasser, jedenfalls extremer. Egal, was wir kurz- und mittelfristig tun. 

Mittel- und langfristig geht diese Entwicklung entweder so weiter, bis sie die menschliche Zivilisation ausradiert. Oder wir reißen das Ruder noch herum. Es wird sich sehr viel verändern müssen, in sehr kurzer Zeit. Wenn wir es gut machen, ist die Welt anschließend schöner, heller, leiser, sauberer, gesünder und gerechter. Dazu ist es aber notwendig, dass wir den Teil der Veränderung, den wir beeinflussen können, gestalten.

So sind die Fakten

Was uns zurück zur FDP bringt. Die vermeintliche Innovations- und Veränderungspartei agiert so, als gäbe es die eben zusammengefassten Fakten nicht.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) zum Beispiel hat im Sommer ein sogenanntes Sofortprogramm vorgelegt, weil sein Ministerium seit Jahren die Sektorziele für den Klimaschutz reißt. Die Emissionen im Verkehrsbereich müssten bis 2030 insgesamt um etwa 275 Millionen Tonnen CO₂, kurz Megatonnen, sinken.

Ein böser Witz

Das Programm, das Wissing vorgelegt hat, reicht für 13,66 Megatonnen Reduktion. Und schon diese zwei Nachkommastellen sind eine Art böser Witz, wenn man sich die Einzelposten ansieht, denn die wirken eher wie ein Wunschzettel. Krassestes Beispiel ist der fromme Wunsch – mehr ist es eben nicht – dass der Fortbestand von Home-Office-Regelungen über die Pandemie hinaus pro Jahr eine halbe Megatonne CO₂ einsparen werde.

Das ganze »Sofortprogramm« ist eine absolute Unverschämtheit, und genau das hat der Klimaexpertenrat dem Verkehrsministerium diese Woche auch attestiert. Mit für ein solches Gremium drastischer Klarheit. Wissings Vorschlag erfülle »nicht die Anforderungen an ein Sofortprogramm«. Er durchlief nicht einmal alle Prüfschritte – einfach, weil es nichts zu prüfen gibt.

Die Deutsche Umwelthilfe hat bereits eine Klage gegen Wissings »Vorschlag« angekündigt.

Das ist offensichtlich auch nicht einfach Unfähigkeit oder Faulheit, sondern Strategie: Christian Lindner hat schon ziemlich unverblümt erklärt, dass er sich an die bestehende Regelung für die sogenannten Sektorziele nicht gebunden fühlt. Im Klartext: Das, was die FDP-Ministerien nicht hinkriegen, soll irgendjemand anderes ausgleichen. Im Bereich Verkehr soll sich offenbar einfach gar nichts ändern. Nichtstun First. Bedenken Second.

Den Porsche-Chef immer im Ohr

All das scheint vor allem nach dem Willen Lindners zu laufen, der hier der eigentliche ideologische Treiber zu sein scheint. Immer den Porsche- und nun auch VW-Chef Blume im Ohr: Schnellfahren, große Autos, große Verbrennungsmotoren, Autobahn, Dienstwagen, huiiiiii!

Tatsächlich verbirgt sich hinter der Weigerung des FDP-Verkehrsministers und des Finanzministers, irgendeinen relevanten Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise zu leisten, eine tiefere, selbstzerstörerische Ideologie. Die Lindner-FDP versucht weiterhin so zu tun, als sei die Abwesenheit von Veränderung eine reale Möglichkeit:

Es ist fast, als versuchten Lindner und Wissing ein Klischee möglichst gründlich zu erfüllen

Zur Orientierung: Allein ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen würde Zahlen des Umweltbundesamtes zufolge bis 2030 mehr CO₂ einsparen als die 13,66 Megatonnen, die Wissings Larifari-Vorschlag verspricht. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung ist keineswegs Ausdruck einer totalitären Ideologie, wie man in der FDP gern zu suggerieren versucht, sondern in europäischen Staaten wie Schweden, Irland, Belgien, Portugal, Spanien und sogar der freiheitsliebenden Schweiz längst Standard.

Selbst ein Tempolimit von 130 km/h (wie in etwa Italien, dem Mutterland von Lamborghini, Maserati und Ferrari) würde bis 2030 12 Megatonnen CO₂ einsparen. Also immer noch fast so viel wie Wissings Luftnummer. Nur eben tatsächlich, nicht bloß gehofft. Kombiniert mit einem 9-Euro-Ticket wären das dann schon knapp 70 Megatonnen Einsparung. Immer noch weit vom Ziel entfernt, aber immerhin etwas.

Die Fiktion, dass alles so bleiben kann

Die FDP versucht derzeit, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass sich in Deutschland eigentlich nichts ändern muss. Doch Wissings Progrämmchen würde gerade mal für ein Zwanzigstel des eigentlichen Ziels reichen. Wenn es denn funktionieren würde, was, wie gesagt, viel mit Wunschdenken zu tun hat.

Wenn man diesen dramatischen Abstand in den Blick nimmt, wird auch klar, was die FDP derzeit mit Fingern in beiden Ohren und lautem Lalalala auszublenden versucht: Es muss sich sehr viel ändern in der Art, wie wir uns in Deutschland fortbewegen, und zwar sehr schnell. Weniger Autoverkehr, Tempolimit, mehr auf die Schiene, mehr Fahrrad, mehr Carsharing und Carpooling, mehr Elektromobilität, viel, viel mehr öffentlicher Nah- und Regionalverkehr.

»Wir versuchen es gar nicht!«

Selbst dann erscheint es nach aktuellem Stand eher optimistisch, dass wir das Ziel für den Verkehrsbereich bis 2030 wirklich vollständig erreichen. Der Verkehrsminister und sein Parteivorsitzender aber haben als Devise ausgegeben: »Wir versuchen es gar nicht erst!«

Damit da keine Missverständnisse aufkommen: In diese neue, andere, leisere, sauberere, gesündere, schönere Welt müssen wir zwangsläufig, denn sonst ist es bald vorbei mit den menschlichen Lebensgrundlagen. Und wenn Deutschland es nicht vormacht, warum sollten etwa Entwicklungsländer dann auch nur den Versuch unternehmen?

Das aber erfordert echte, schnelle, tiefgreifende Veränderung, nicht nur fiktive. Und real umgesetzte, nicht nur mantraartig dahergesagte »Innovation«.
Wir können uns keine Minister leisten, deren politisches Programm sich auf Blockade, Realitätsverweigerung und magisches Denken beschränkt.

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