FAZ hier Von Alina Schäfer 13.08.2022
Moderne Landwirtschaft
Wie die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft gelingen kann, dafür haben Forscher ein paar Strategien entwickelt. Manche werden in den Städten bereits ausprobiert.
Zwei Revolutionen haben die Menschheit besonders irreversibel geprägt: die neolithische Revolution vor 12.000 Jahren, als der Homo sapiens sesshaft wurde und mit Ackerbau und Viehzucht begann, sowie vor knapp dreihundert Jahren die industrielle Revolution mit ihren technischen Erfindungen und industriellen Produktionsweisen. Geht es nach Akteuren wie dem Weltklimarat oder dem Weltbiodiversitätsrat, steht uns heute eine dritte Umwälzung auf ganz großer Skala ins Haus.
Denn vier von neun planetaren Belastungsgrenzen sind bereits überschritten. Steigende Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt als Folge des Krieges in der Ukraine bezeugen, wie verletzlich das Wirtschaftssystem gerade im Lebensmittelsektor ist. Deswegen müssen Veränderungen her, da sind sich die Fachleute einig. „Es reicht nicht, dem Lebensmittelsystem hier und da ein paar Flicken zu verpassen“, erklärt Christoph Rupprecht, Professor für Nachhaltigkeit und globale Umweltstudien an der Ehime-Universität in Japan. Seit einigen Jahren schon suchen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen daher nach neuen Antworten auf die Frage, wie Lebensmittel produziert werden könnten.
Die Erträge können nicht mehr wachsen
Meist ist dann von „nachhaltiger“ Landwirtschaft die Rede. Das Wort macht sich gut in Werbespots und Parteiprogrammen. Vielleicht auch, weil der Begriff einigermaßen dehnbar ist. Einig ist man sich oft nur über seinen Ursprung in der Forstwirtschaft. Dort agiert nachhaltig, wer nicht mehr Holz fällt, als jeweils nachwachsen kann. Während Nachhaltigkeit heutzutage einige eng mit Umweltschutz verbinden, geht es bei anderen darum, sparsam zu wirtschaften oder aber, Ressourcen zu schonen. Letzteres ist heute tatsächlich auch Trend in der Landwirtschaft.
Das war aber nicht immer so. Mehr Dünge- und Pflanzenschutzmittel, neue Züchtungen ließen auf dem Acker die Erträge steigen und bescherten uns in den letzten siebzig Jahren einen nicht unerheblichen Teil des Wohlstands, den wir heute genießen. Doch mittlerweile stoßen die Steigerungen an Grenzen. Laut Forschern des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig können Erträge für Grundnahrungsmittel wie Weizen kaum mehr wachsen. Gleichzeitig sind fruchtbare Ackerböden schon heutzutage vielerorts rar, und der Klimawandel samt seinen Begleiterscheinungen wird das Problem in etlichen Weltgegenden künftig verschärfen.
Die Fachleute fordern daher einen Wandel der Agrarwirtschaft hin zu strukturell nachhaltigen Lösungen statt Veränderungen in kleinen Schritten. Eine Gruppe aus mehr als dreißig Wissenschaftlern verschiedener Länder und Fachrichtungen, angeführt von Steven McGreevy, Assistant Professor für urbane Nachhaltigkeitsstudien an der Universität von Twente in den Niederlanden, setzt dafür gleich auf globaler Ebene an. In einem Perspektiven-Artikel, der letzte Woche in „Nature Sustainability“ erschienen ist, beschreibt das Team auf Grundlage von rund einhundert Studien, wohin sich Agrarsysteme entwickeln müssen, um wirklich nachhaltig zu werden. „Ein Lebensmittelsystem, das auf endloses Wachstum ohne Grenzen ausgerichtet ist, kann nicht die Lebensmittel produzieren, die wir benötigen, ohne dabei die Belastungsgrenzen der Erde zu überschreiten“, sagt McGreevy.
Dafür benennen die Autoren um McGreevy fünf Prinzipien für einen Postwachstums-Stoffaustausch, also für eine neue Art und Weise, in der Stoffe und Lebewesen im Lebensmittelsektor und der Landwirtschaft interagieren könnten. Die Stichworte dafür, sagt Rupprecht, seien Suffizienz, Regeneration, Verteilung, Fürsorge und Gemeingüter. Diese würden die Abkehr von einer wachstumsorientierten Logik zugunsten einer der Effizienz im Sinne eines geringeren Ressourcenverbrauchs markieren. Es gehe um Qualität statt Quantität mit dem Ziel, soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse in Einklang zu bringen, gleichzeitig darum, ein Gleichgewicht aus Entnehmen und Regenerieren in bestehenden Ökosystemen zu schaffen, Ressourcen gerecht zu verteilen und füreinander zu sorgen, statt gegeneinander zu wirken. Außerdem gelte es, Lebensmittelfragen in gemeinschaftlichen Entscheidungsstrukturen zu klären, wie das schon die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom vor rund zehn Jahren vorschlug.
Erdbeeren von der Verkehrsinsel
Das klingt ein wenig blumig und holzschnittartig, findet aber durchaus bereits auf der ganzen Welt Anwendung – in der Wissenschaft wie in der Praxis. Allerdings gibt es nicht die eine Stellschraube zur Veränderungen im Agrarsystem. Vielmehr sind es kleine und große Ansätze, die an ganz unterschiedlichen Stellen greifen. Vielfältige Anbausysteme, Kreislaufwirtschaft, innovative Geschäftsmodelle, Direktvermarkter und politische Integration sind nur einige Beispiele für nachhaltige Agrifood-Systeme.
„Der einfachste Schritt ist, Menschen, um einen herum zu finden und zusammen mit ihnen an gemeinsamen Zielen für nachhaltigere Lebensmittel und Landwirtschaft zu arbeiten“, sagt Steven McGreevy. Stadtgärten sind eine funktionsfähige und zugleich unterschätzte Antwort auf die Frage, wie Landwirtschaft nachhaltig organisiert werden kann. International spricht man auch von „Urban Gardening“ und meint damit allerhand gartenbauliche Aktivitäten inmitten kleiner und großer Metropolen. Dabei werden zum Beispiel Tomaten auf dem Balkon oder Erdbeeren auf einer Verkehrsinsel angebaut. Ob in Berlin, Frankfurt oder Leipzig – auch in Deutschlands Metropolen sprießen Vereine und Initiativen zur Förderung des urbanen Gärtnerns aus dem Boden. Die Vorteile sind vielfältig: Die Lebensmittel werden dort angebaut, wo sie auch verzehrt werden, was Transportkapazitäten einspart und so die Treibhausgasemissionen, die damit bis auf Weiteres verbunden sind. Außerdem haben die städtischen Gemüsegärten positive Effekte auf die biologische Vielfalt in Ballungszentren, auf die Nährstoffkreisläufe dort und sogar auf das Wohlbefinden der Städter, wie eine US-Studie im Fachmagazin „Agriculture and Human Values“ bestätigt. Das Gärtnern bringt Menschen zusammen – und die Wertschätzung für Lebensmittel zurück in die Haushalte.
Neben Handlungsempfehlungen für die Gesellschaft halten die Wissenschaftler ebenfalls welche für die Politik bereit. Die Politik müsse Gesetze erlassen und umsetzen, welche die Dringlichkeit der Situation widerspiegeln und eine Transformation ermöglichen, sagt Christoph Rupprecht, der neben Steven McGreevy einer der vier Hauptautoren in einem Team von fast drei Dutzend ist. Um institutionelle Hürden zu überwinden, empfehlen die Wissenschaftler eine politische Integration beispielsweise in Form von Gremien, die die unterschiedlichen Interessen von Landwirten, Wissenschaft und Gesellschaft an einen Tisch bringen. Sie sollen Verbindungen schaffen und eine zukunftsfähige, unbürokratische Lebensmittelproduktion gewährleisten. Funktionieren könnte das, indem einige Lebensmittel besser verfügbar gemacht werden als andere oder Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit Lebensmitteln gefördert werden.
Derlei wird hierzulande bereits erprobt. Die Zukunftskommission Landwirtschaft, kurz ZKL, ist ein Gremium, das im Dialogformat zwischen unterschiedlichen Interessengruppen eine zukunftsfähige deutsche Landwirtschaft thematisiert hat. Vor einem Jahr übergab die Kommission ihren Abschlussbericht an die damalige Bundeskanzlerin. Erst kürzlich kündigte Agrarminister Cem Özdemir eine Neuauflage dieses interdisziplinären Gremiums an. Dann allerdings muss sich zeigen, ob sich die fünf Prinzipien der Wissenschaftler auf diese Weise umsetzen lassen und eine nachhaltige Revolution ausgelöst werden kann.
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