Zeit hier Christian Endt, Jurik Caspar Iser
Gaskrise
Der Gasverbrauch ist stark zurückgegangen, die Speicherziele scheinen plötzlich erreichbar. Bewältigt Deutschland die Gaskrise am Ende besser als gedacht?
Noch fließt genug Gas aus Russland. Neueste Daten zum Verbrauch deuten sogar darauf hin, dass Deutschland besser durch den Winter kommen könnte als gedacht.
In der Not sind große Anstrengungen möglich. Das hat in der vergangenen Woche zum Beispiel Mercedes-Benz bewiesen. Angesichts der Energiekrise bereitet sich der Autohersteller darauf vor, seinen Erdgasverbrauch zu senken – und zwar um bis zu 50 Prozent. "Wir wären in der Lage, diese Maßnahmen dieses Jahr umzusetzen", kündigte Vorstandschef Ola Källenius an. Als Alternative will der Daimler-Konzern verstärkt Strom aus erneuerbaren Energien nutzen. Zudem seien Energieeinsparungen geplant, auch könne Öl statt Gas eingesetzt werden.
Die Ankündigung von Mercedes-Benz klingt ambitioniert, ist doch vor allem die Industrie besonders von russischem Gas abhängig. Doch inzwischen sehen immer mehr Unternehmen neues Einsparpotenzial und erstellen Notfallpläne für eine mögliche Gasmangellage. Der Gasverbrauch der Industrie und der Privathaushalte ist in diesem Jahr bereits stark zurückgegangen. Und die Füllstände der deutschen Gasspeicher steigen kontinuierlich, obwohl Russland die Gaslieferungen deutlich reduziert hat. Bewältigt Deutschland die Gaskrise womöglich besser als gedacht?
Hoffnung machen neue Daten der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen. Demnach ging der Erdgasverbrauch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr um knapp 15 Prozent zurück. Die Gründe für den Rückgang sind vielfältig. Als Hauptursache führen die Experten der Arbeitsgemeinschaft neben dem hohen Preisniveau auch die milde Witterung an, da die Haushalte bei höheren Temparaturen im Frühling weniger Gas zum Heizen benötigen. Zudem habe sich der Einsatz von Erdgas zur Stromerzeugung verringert, weil die erneuerbaren Energien vor allem im ersten Quartal höhere Beiträge geliefert hätten.
Doch neben diesen günstigen Bedingungen drücken inzwischen auch tatsächliche Einsparungen den Verbrauch nach unten. Das zeigen Daten des Branchendiensts ICIS, die ZEIT ONLINE vorliegen. Im Juli sank der Gasverbrauch demnach um mehr als 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.
Die Witterung spielt dabei kaum eine Rolle, schließlich heizt im Sommer ohnehin niemand. Und auch die Stromproduktion wirkte nicht entlastend: Die Kraftwerke verbrannten im Juli sogar mehr Gas als vor einem Jahr, zeigen Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme. Der rückläufige Gasverbrauch dürfte demnach vor allem auf Einsparungen der Industrie zurückgehen. "Die historisch hohen Gaspreise reduzieren die Nachfrage", sagt der Gasexperte Tom Marzec-Manser von ICIS. Beispielsweise sei die energieintensive Herstellung von Ammoniak zurückgegangen, stattdessen importiere man die Chemikalie nun.
Auch eine Untersuchung der Hertie School in Berlin verdeutlicht die Bedeutung der Sparmaßnahmen. Die Forscher der Hochschule versuchten, externe Effekte wie das Wetter und die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung herauszurechnen. Das Ergebnis: Im März und April ist der Gasverbrauch der Industrie wegen der Energiekrise demnach um rund elf Prozent gesunken. In Privathaushalten waren es sechs Prozent. Vor allem bei den Unternehmen führten hohe Preise demnach zu einer sinkenden Nachfrage. Während der Industrieverbrauch bereits seit vergangenem Sommer leicht zurückgefahren worden sei, hätten Privathaushalte erst mit Beginn des Krieges in der Ukraine sichtbar reagiert, schreiben die Autoren.
Unterdessen hat selbst die besonders energieintensive Chemieindustrie ihre Abhängigkeit von den russischen Lieferungen reduziert. Beim Chemiekonzern BASF, der als größter industrieller Gasverbraucher in Deutschland gilt, rechnet man inzwischen damit, dass die Produktion im Ludwigshafener Stammwerk selbst dann weiterlaufen kann, wenn die Bundesregierung die höchste Gasnotfallstufe ausruft. Das noch erhältliche Gas dürfte demnach ausreichen, um den Betrieb mit verringerter Last aufrechtzuerhalten. Anfang April hatte Konzernchef Martin Brudermüller noch deutlich nervösere Töne angeschlagen. Ein Importstopp von Öl und Gas aus Russland könne "die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen", warnte er damals.
Auch der Darmstädter Pharma- und Chemiekonzern Merck sieht sich für einen Mangel gerüstet. "Wir sind darauf vorbereitet, dann unsere Produktionsprozesse unter anderem auf Erdöl zu verlagern", sagte Chefin Belén Garijo kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ähnliches ist aus der Glasindustrie, die ebenfalls als extrem abhängig von Erdgas gilt, zu hören: Das Unternehmen Wiegand Glas, das in Bayern und Thüringen produziert, will etwa seine Schmelzwannen künftig mit leichtem Heizöl statt wie bisher nur mit Erdgas beheizen. Der Mainzer Spezialglashersteller Schott hat sich Berichten zufolge größere Mengen an Propangas gesichert, um die Produktion im Notfall aufrechterhalten zu können. "Die hohen Gaspreise sorgen für einen enormen Anpassungsdruck. Die Unternehmen haben verstanden, dass Wladimir Putin bereit ist, den Gashahn zuzudrehen", sagt Ökonom Lion Hirth von der Hertie School.
Ein weiterer Umstand hilft bei der Bewältigung der Krise, auch ihn zeigen die Daten von ICIS. Demnach hat Europa im Juli nicht weniger Gas bezogen als sonst um diese Jahreszeit. Mit 36,2 Milliarden Kubikmetern floss genauso viel Gas wie ein Jahr zuvor. Zwar hat Russland seine Lieferungen drastisch reduziert, doch vermehrte Flüssiggasimporte konnten das komplett ausgleichen. Aus den USA und Katar brachten die Tanker jeweils mehr als doppelt so viel wie im Juli 2021. "Wir sehen eine riesige Reaktion der Märkte", sagt Marzec-Manser von ICIS. Die LNG-Hersteller bekommen in Europa also derzeit dermaßen viel Geld für ihr Gas, dass sie so viel liefern wie irgendwie möglich.
Gleichbleibende Lieferungen bei gesunkenem Verbrauch ergeben derzeit Tag für Tag einen Gasüberschuss, der in den Speichern landet. Die sind deutschlandweit inzwischen zu fast 70 Prozent gefüllt. Die Zielvorgabe der Bundesregierung von 75 Prozent bis Anfang September dürfte übererfüllt werden, auch das Ziel von 85 Prozent bis Oktober scheint erreichbar.
Eine gemeinsame Modellrechnung der führenden deutschen Wirtschaftsinstitute kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland auch im kommenden Winter das Gas nicht ausgehen dürfte. Dabei gehen die Ökonominnen und Ökonomen davon aus, dass Russland das derzeitige Lieferniveau von 20 Prozent der Kapazität von Nord Stream 1 beibehält. "In diesem Szenario müssten schon sehr viele Dinge gleichzeitig schiefgehen, damit die Speicher im Winter leerlaufen", sagt Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, der die Berechnung verantwortet hat. Auch bei einem kompletten Wegfall der russischen Lieferungen würde das Gas wahrscheinlich ausreichen, es wären allerdings etwas größere Sparmaßnahmen notwendig......
"Für eine Entwarnung ist es noch zu früh", sagt auch der Ökonom Jens Südekum, der an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf forscht und das Bundeswirtschaftsministerium berät. "Entscheidend ist, wie sich der private Gasverbrauch mit Beginn der Heizperiode entwickelt", sagt Südekum: "Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass die Appelle zum Sparen ausreichen. Stattdessen müssen die gestiegenen Preise schnell bei den Verbrauchern ankommen – verbunden mit einer Entlastung für einkommensschwache Haushalte."
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