29.07.2022 hier im Südkurier
Wegen der zunehmenden Inflation steigen die Heiz- und Stromkosten, aber auch die Preise für Lebensmittel in Deutschland weiter an. Sozialverbände fürchten eine Zunahme der existenzbedrohenden Armut, fordern staatliche Maßnahmen und warnen vor gesellschaftlicher Spaltung.
Aus Sicht des Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie könnte die aktuelle Preiskrise zu Großdemonstrationen ähnlich denen der sogenannten Gelbwesten in Frankreich in den Jahren 2018 und 2019 führen. Derzeit seien 10 bis 15 Millionen Menschen in Deutschland bedroht, durch die steigenden Preise weiter in existenzgefährdende Armut abzurutschen, sagte Lilie. Diese Menschen seien schon von der Corona-Pandemie am schwersten betroffen gewesen, mahnte der Sozialverbands-Chef. Schon jetzt seien viele verzweifelt, weil sie Lebensmittel nicht mehr zahlen könnten.
Angesichts hoher Energiekosten und der geplanten Gasumlage werden Forderungen nach weiteren Entlastungen laut. Lilie forderte einen monatlichen Zuschlag von 100 Euro für ein halbes Jahr an alle Transferhilfe-Empfänger und Menschen mit niedriger Rente. FDP-Fraktionschef Christian Dürr kündigte Unterstützung für Menschen an, denen Gas- oder Stromsperren drohen, weil sie ihre Energiekosten nicht mehr bezahlen können. Der Sozialverband VdK forderte als Zuschlag zum Wohngeld eine Heizkostenpauschale. „Wenn es kälter wird, darf niemand vom Vermieter auf die Straße gesetzt werden, weil er seine Heizkosten nicht mehr bezahlen kann“, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele.
Die Zeit hier 11. August 2022
Steuerentlastungen
Wirtschaftsweise nennt Christian Lindners Steuerpläne nicht zeitgemäß
Prinzipiell sei es zwar richtig, die sogenannte kalte Progression auszugleichen und die Mitte der Gesellschaft angesichts der hohen Inflation zu entlasten. "Andererseits brauchen wir zurzeit eine Entlastung vorwiegend der unteren und mittleren Einkommen, die die Härten durch die Preissteigerungen nicht allein tragen können", sagte das Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Man müsse versuchen, zielgerichtet untere und mittlere Einkommensgruppen zu entlasten, bis in die Mitte der Gesellschaft, sagte die Ökonomin. "Entlastungen mit der Gießkanne, wie etwa beim Tankrabatt oder einer Mehrwertsteuersenkung, sind nicht angezeigt."
Lindner will nach eigenen Angaben 48 Millionen Bürgerinnen und Bürger bei der Steuer entlasten. Die Verringerung der Steuerlast soll im kommenden Jahr demnach insgesamt gut zehn Milliarden Euro betragen. Neben einer Anpassung des Einkommensteuertarifs sollen zudem das Kindergeld und der Kinderfreibetrag erhöht werden. Lindners Pläne sind in der Bundesregierung umstritten. Auch Sozialverbände und andere Ökonomen äußerten Kritik.
Lindner: "Das ist sozial ausgewogen"
Im heute journal des ZDF verteidigte Lindner erneut seine Pläne. "Das ist sozial ausgewogen", sagte er. "Die starken Schultern werden weiter auch eine große Last tragen. Aber sie werden eben nicht stärker belastet. Und vor allen Dingen sorgen wir dafür, dass nicht Menschen, die in Wahrheit keine breiten Schultern haben, durch die Inflation plötzlich mehr Steuern zahlen." Es sei eine "reine Inflationsanpassung".
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete die Pläne in der ARD als "sehr unausgewogen". "70 Prozent davon kommen den 30 Prozent mit den höchsten Einkommen zugute", sagte er in den ARD-tagesthemen. "Menschen mit geringen Einkommen, die keine oder wenig Einkommensteuer zahlen, bekommen praktisch gar nichts davon." Diese Menschen seien von der Inflation aber besonders betroffen.
Der FDP-Chef verwies im ZDF indes auf andere Maßnahmen der Ampel-Koalition, die auf Menschen mit geringem Einkommen abzielten. "Um die Menschen, die ihre Bude nicht geheizt bekommen, da kümmern wir uns ja mit dem neuen Wohngeld, und es gibt Bürgergeld für die Menschen in Grundsicherung", sagte er.
Der Deutsche Städtetag warnte vor Steuerausfällen in Milliardenhöhe und forderte einen Ausgleich für die Kommunen. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy sagte der Nachrichtenagentur dpa, mit Lindners Plänen gegen die kalte Progression seien auch Steuerausfälle für die Kommunen von rund 4,2 Milliarden Euro in 2023 und 2024 verbunden. "Diese Mittel fehlen dann in den städtischen Kassen, die schon durch Begleiterscheinungen des Ukraine-Kriegs und die Energiekrise gebeutelt sind und vor großen Haushaltsrisiken stehen."
Gleichzeitig seien große Aufgaben wie mehr Investitionen in den Klimaschutz und in Busse und Bahnen zu stemmen, sagte Dedy. "Bund und Länder müssen deshalb sicherstellen, dass die Städte die dafür erforderlichen Mittel trotz Steuerentlastungen zur Verfügung gestellt bekommen."
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