Sonntag, 14. August 2022

Die teure Gratismentalität der Dienstwagen-Gesellschaft

 Spiegel  hier Eine Analyse von Nils-Viktor Sorge

Finanzminister Lindner lehnt ein Folgeangebot für das 9-Euro-Ticket ab – so etwas sei Ausdruck einer Umsonstkultur. Diese zeigt sich jedoch eher beim Firmenautoprivileg, das der FDP-Mann verteidigt.
Wie geht es weiter mit dem 9-Euro-Ticket? Am besten gar nicht – findet Finanzminister Christian Lindner. »Es stehen in der Finanzplanung für eine Fortsetzung des 9-Euro-Tickets keinerlei Mittel zur Verfügung«, sagte der FDP-Chef der »Augsburger Allgemeinen« . Er sei von einer »Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen« auch im öffentlichen Nahverkehr nicht überzeugt.
Das bezog Lindner offenkundig auch auf verschiedene Ideen für eine Nachfolgelösung, bei der Fahrgäste beispielsweise 29, 49 oder 69 Euro im Monat bezahlen und dafür in ihrer Region oder ganz Deutschland unbegrenzt im Nahverkehr fahren könnten. Derartige Vorschläge kamen etwa von den Grünen, der Verbraucherzentrale oder dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Auch Verkehrsminister Volker Wissing, Lindners Parteifreund, hatte vorsichtig Sympathie bekundet. 
Doch die markigen Worte des Finanzministers zeigen: Nicht alle Beteiligten scheinen daran interessiert, sich konstruktiv an der Suche nach einer sinnvollen Lösung zu beteiligen, die etwa Bürgerinnen und Bürger entlastet, die Abhängigkeit von Ölimporten reduziert oder gar dem Klima helfen könnte. Vielmehr werden das 9-Euro-Ticket und der öffentliche Nahverkehr zunehmend zum Spielball des parteipolitischen Schlagabtauschs.
Lindner wittert beim günstigen Nahverkehr »Umverteilung«. Den Grünen warf er »linke Polemik« vor, weil diese vorschlugen, ein günstiges ÖPNV-Ticket mit Einschränkungen bei den Dienstwagensubventionen zu finanzieren.
Entlastungen für ärmere Menschen und die Autoindustrie
Kein Wunder, dass dem Finanzminister seinerseits Entrüstung entgegenschlug. »Menschen wissen nicht, wie sie über den Monat kommen sollen, Menschen sind verzweifelt, und dann von ›Gratismentalität‹ zu sprechen, ist eine Frechheit«, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, am Montag in der Sendung »Frühstart« von RTL/ntv.
 SPD-Chef Lars Klingbeil servierte Lindner einen leicht vergifteten Vorschlag: Ein günstiges Nahverkehrsticket könne durch eine Übergewinnsteuer auf hohe Zusatzprofite von Energieunternehmen finanziert werden – für Lindner ein rotes Tuch. In den sozialen Medien warfen viele User dem FDP-Chef vor, er selbst und viele Autofahrer würden selbst vielfach staatliche Leistungen umsonst in Anspruch nehmen. 
Tatsächlich unterstützt der Staat Verkehrsteilnehmer auf ganz verschiedene Art und Weise – Fahrgäste im Nahverkehr wie auch Autofahrerinnen und Autofahrer. Dabei verfolgt er teils völlig gegensätzliche Ziele: Zuschüsse für Busse und Bahnen sollen unter anderem ärmeren Menschen Mobilität ermöglichen, Staus in Städten vermeiden und der Umwelt helfen. Die Pendlerpauschale soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten, die für den Weg zum Job lange Wege in Kauf nehmen – etwa weil sie sich die Miete in der Stadt nicht leisten können.
Steuervorteile für Dienstwagenbesitzer hingegen bezwecken noch etwas anderes: Sie kurbeln den Neuwagenabsatz in Deutschland an und helfen somit der heimischen Autoindustrie. Zudem entlasten sie Betriebe. Diese sparen faktisch oft Geld, wenn sie ihren Beschäftigten einen Wagen auch zur privaten Nutzung überlassen, anstatt ihnen mehr Lohn zu zahlen. Etwa zwei Millionen Dienstwagen gibt es in Deutschland, die privat genutzt werden dürfen. Das 9-Euro-Ticket nutzten zuletzt etwa 30 Millionen Menschen im Monat.
Die Dienstwagenbesteuerung verursachte zuletzt Einnahmeausfälle von durchschnittlich 4,4 Milliarden Euro im Jahr, schätzt das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft – mögliche Umwelt- und Klimaschäden nicht eingerechnet. Das 9-Euro-Ticket kostet den Staat für drei Monate 2,5 Milliarden Euro, ein 69-Euro-Ticket würde laut VDV mit etwa zwei Milliarden Euro im Jahr zu Buche schlagen.
Anreize zum Spritsparen – Fehlanzeige
Eine »Gratismentalität« könnte man indes den überwiegend gut verdienenden Dienstwagenfahrerinnen mindestens genauso unterstellen wie Nutzern des Nahverkehrs mit bezuschusstem Abonnement. Zwar sind Firmenautonutzer verpflichtet, den geldwerten Vorteil zu versteuern, der ihnen durch die Überlassung auch für private Zwecke entsteht – angerechnet werden pro Monat ein Prozent des Listenpreises bei Verbrennern und 0,25 bis 0,5 Prozent bei E-Autos.

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