Donnerstag, 25. August 2022

Die neue Mentalität des Verzichts bietet auch Chancen

 22.08.2022  |  VON ERNST HEBEKER  hier  im Südkurier

Auf einmal ist er wieder da: Der Verzicht. Krieg und Krisen aller Art, vor allem die Erwartung von Herbst und Winter im Zeichen des Energiemangels haben einen Begriff neu belebt, der lange nur noch auf evangelischen Kirchentagen oder in esoterischen Kreisen zu hören war. Die nicht gerade beliebte Vokabel hat gute Chancen, zum Wort des Jahres 2022 zu werden. 

Ob diese altbekannte Form der Enthaltsamkeit dadurch beliebter wird, hängt sehr von den Umständen ab. Es macht nämlich einen fundamentalen Unterschied, ob das Verzichten freiwillig erfolgt oder erzwungenermaßen. Alles hängt an der Frage der Freiheit. Der antike Diogenes hauste aus philosophischer Erkenntnis und freien Stücken glücklich in einer Tonne. Für Millionen in den Armenvierteln der Welt wird niemand behaupten, dass die Menschen dort freiwillig und zufrieden leben. Beides sind extrem unterschiedliche Formen von Verzicht. Er kann glücklich und frei machen, aber ebenso verzweifelt und bitter.

Der Politik scheint das nur allzu bewusst. Da niemand die reale Energie-Situation und die Härte des kommenden Winters vorhersehen kann, baut sie schon einmal vor. Sie versucht offenkundig, den Fokus auf Einsicht und Sinnhaftigkeit beim Energiesparen zu richten. Wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident – noch dazu in glaubwürdigkeitssteigerndem, breitem Schwäbisch – dazu aufruft, beim Gasverbrauch zwanzig Prozent einzusparen, schwingt dabei ein starker Grundakkord mit: „Wir schaffen das“. In bester Harmonie dazu die beruhigenden Sentenzen des Bundeskanzlers, dass niemand allein gelassen werde. Zeitenwende für alle, auch bei Energie.

Daran ist im Prinzip nichts auszusetzen. Denn es stimmt ja: Die Ära des „höher, weiter, schneller“ brauchte in der globalen Dimension auch ohne Putins Krieg und Gasmangel längst einen Moment der Besinnung. Nicht nur beim Blick auf das Klima, auf nahezu allen Ebenen kann Verzicht auch als Chance begriffen werden, solange er nicht die Existenzgrundlagen berührt. Besonders schnell ist die Lektion in der arbeitsteiligen Wirtschaft verstanden worden. Dank der gestörten Lieferketten werden neuerdings wieder Vorräte angelegt, nachdem man den Betriebswirten jahrzehntelang erlaubt hatte, sie auf Kosten der Allgemeinheit auf die öffentlichen Straßen zu verlagern.

Damit aus der Krise eine Chance wird, muss sich Deutschland als Ganzes nicht nur auf dem Energiesektor von Tabus, Lebenslügen und Selbstblockaden befreien. Der britische „Economist“ hat uns gerade genüsslich den Spiegel vorgehalten. (siehe unten ein Bericht von RND dazu vom Sept.21)  Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte von der Infrastruktur über die Bürokratie und Digitalisierung bis zur Außen- und Sicherheitspolitik sind bedrückend.

Auf dem Titel „Das neue Deutschland“ schlüpft der Bundesadler aus einem Ei. Verlangt wird nicht weniger als eine Neugeburt des „wichtigsten Landes in Europa“, das endlich eine seiner wirtschaftlichen Kraft und politischen Bedeutung würdige Rolle übernehmen solle. Als Außensicht mag das ein wenig übertrieben sein. Aber es zeigt das Entscheidende: Die Chance, wie aus Zeiten des Verzichts auch Neues, Besseres und Nachhaltigeres entstehen kann.

Der Autor war stellvertretender Chefredakteur dieser Zeitung und arbeitete zuletzt als Sprecher des Bundestags 


 RND hier    vom 21.9.21

Der „Economist“ hält Deutschland für unreformierbar

Wie geht es weiter mit Deutschland nach Angela Merkels Abgang? Das einflussreiche Magazin „Economist“ gibt in einer Sonderausgabe einen kritischen Rückblick – und einen skeptischen Blick nach vorne. Deutschland sei „selbstzufrieden“ und wenig zukunftsfähig. 

 Auf dem Titel des einflussreichen „Economist“-Magazins ist Angela Merkel im Abgang zu sehen, sie trägt einen schweren, altmodischen Koffer. Ist es ein Koffer voller ungelöster Probleme? Die Sonderausgabe des britisch-amerikanischen Magazins zur Bundestagswahl spart nicht mit Kritik an ihrer Kanzlerschaft und malt die Zukunft Deutschlands in eher düsteren Farben.

„After Angela“, nach Angela, heißt die zehnseitige Ausgabe, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) exklusiv vorab vorliegt. Die Diagnose ist schonungslos: „Selbstzufriedenheit“ wird Merkel und dem gesamten deutschen politischen System zugeschrieben, diese zu überwinden „wird die größte Aufgabe für ihren Nachfolger sein“.

Die Autoren greifen einen im Wahlkampf oft gezeigten alten Talkshowausschnitt von 1997 auf. Merkel, damals Bundesumweltministerin, plädiert vehement für eine neue Klimapolitik, unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen. „Das Ozonloch fragt nicht, ob es gerade passt“, sagt sie und warnt vor Hunger, Dürren und Fluchtbewegungen.

24 Jahre später demonstriert beim globalen Klimastreik am Freitag eine Generation, die damals noch nicht auf der Welt war, gegen Merkels Untätigkeit auf diesem Feld. Und Merkel selbst lobte auf ihrer letzten Sommerpressekonferenz ausgerechnet Fridays for Future für den Druck, durch den ein Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht wurde – als habe sie darauf gewartet, um ihre Erkenntnisse von damals mit großer Verzögerung in Politik umsetzen zu können.

„Sie war streckenweise mehr Monarchin als Kanzlerin“, schreibt der „Economist“. Er lobt Merkel als kenntnisreiche Wissenschaftlerin und Staatsfrau – und kritisiert sie als zögerliche Politikerin, die sich scheut, diese Erkenntnisse in eine Politik des Wandels zu übersetzen.

Merkel habe sich große Verdienste als Krisenkanzlerin erworben – von der Finanz- und Euro-Krise über die Flüchtlingskrise bis zur Corona-Pandemie –, aber sie sei deutlich weniger erfolgreich darin gewesen, Deutschland auf einen langfristigen Reformkurs zu setzen.

Bloß die Wähler nicht verschrecken

Das präge die Bundesrepublik über ihren Abgang hinaus. Eine wirkliche Wechselstimmung sei im Wahlkampf nicht zu spüren. Der deutschen Wirtschaft und Politik fehle es an Zukunftsfähigkeit auf vielen Ebenen. Merkels Methode, „Wählerinnen und Wähler nicht mit zu viel Reden über Veränderungen zu verschrecken“, mache es schwierig, Reformen im Wahlkampf offensiv herauszustellen.

Fachkräftemangel, demografischer Wandel, Energiewende, eine nach wie vor vom Verbrennungsmotor abhängige Autoindustrie, eine zögerliche Außenpolitik, ein Föderalismusmodell, das in der Corona-Politik an seine Grenzen geriet – all das zeigt laut „Economist“ ein Modell von Deutschland, das maximal noch für die Gegenwart tauge.

Das Magazin zitiert Thorsten Benner vom Berliner Global Public Policy Institute mit den Worten: „Wir werden vermutlich auf die Merkel-Jahre als das letzte Hurra des deutschen Modells zurückblicken.“

Dass nach der Wahl erstmals im Bund eine Dreierkoalition regieren wird, werten die Autoren als zweischneidig. „Theoretisch könnte solch eine Regierung das jeweils Beste der Parteien vereinen: grüner Ehrgeiz in der Klimapolitik, liberaler Fokus auf Digitalisierung und Innovation und so weiter. Aber mindestens ebenso wahrscheinlich ist ein Dauerstreit der Koalitionäre, vor allem, wenn eine Kanzlerin von Merkels Schlagkraft fehlt.“

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