Wer kennt die Idee noch nicht aus dem Film Tomorrow? Eine wunderbare Idee, die Schule machen sollte! Auch bei uns.
Die Stadt Andernach hat es auch gemacht:
FAZ hier Von ANNA-LENA NIEMANN, Fotos von SAMIRA SCHULZ
Eine
Stadt wie ein Füllhorn
Statt trostloser Bodendecker wachsen auf Andernachs Grünflächen
Gemüse, Obst und Wildblumen – für alle. Von der essbaren Stadt profitieren
nicht nur ihre Bewohner.
Irgendeine Pflanze hat
Lutz Kosack eigentlich immer zwischen den Fingern, hier zerreibt er Bärlauch
auf der Handfläche, dort klaubt er reife Walderdbeeren oder rupft eine Distel
aus dem Staudenbeet. Als er mitten in Andernach vor einem Gemüsebeet haltmacht,
können seine Hände keine Pflanze halten, also halten sie sich einfach
gegenseitig. So steht er da und blickt auf eine kleine, braune Fläche, die bis
vor kurzem noch voll mit hellgrünen Salatköpfen war. Wer sie mitgenommen hat,
weiß er nicht. Doch in der Welt von Lutz Kosack ist das kein Beispiel von
Mundraub, sondern ein großer Erfolg. Die letzten Kopfsalate, zwei winzige
Exemplare, würde er auch gern abgeerntet sehen. Denn der Salat ist durchaus
anspruchsvoll. „Bohnen oder Zucchini sind pflegeleicht, die machen den Boden
dicht“, sagt Kosack, „aber Salat macht Stress.“
Lutz
Kosack, Botaniker und Geoökologe
Den
Salatstress tut er sich trotzdem an. Im Dienste der Agrodiversität, also der
Vielfalt landwirtschaftlich genutzter Pflanzen. Und für ein Konzept, das die
Stadt Andernach, für die Kosack die Landschaftplanung verantwortet, als
„Essbare Stadt“ weit über die eigenen Grenzen bekannt gemacht hat.
Seit zehn
Jahren wachsen auf den Grünflächen und in Hochbeeten in der Fußgängerzone nicht
mehr ausschließlich Stiefmütterchen, Tulpen oder undefinierbare Bodendecker,
sondern Obst, Gemüse, Kräuter und Wiesenblumen. Wer will, darf einfach
zugreifen und mitnehmen, was er tragen kann. Kosack hat das Projekt 2010
mitinitiiert. Der 56 Jahre alte Botaniker und Geoökologe ist überzeugt, dass
urbane Grünflächen nicht nur einen Beitrag zur Biodiversität leisten können,
sondern auch allen gehören sollten. Ein „Betreten verboten“-Schild sucht man in
Andernach vergeblich.
Das
Ergebnis dessen besichtigt man am besten entlang der alten Stadtburg, im Herzen
der mittelrheinischen Stadt. Mit großen Schritten führt Kosack vorbei an
duftenden Rosen und jungen Johannisbeersträuchern, über eine Brücke – ein
kurzer Blick über die Brüstung in den Stadtgraben, in den in wenigen Tagen
wieder Hühner einziehen dürfen –, dann durch den Torbogen, auf die südöstliche
Seite der Burg und direkt rein in das, was Koseck die „Keimzelle“ des Projekts
nennt.
Die
alte Burgruine ist die Keimzelle der „Essbaren Stadt“. Ihre Mauern speichern
Wärme und bieten damit bestes Mikroklima für die Obstgehölze, die Lutz Kosack
gepflanzt hat.
Die Ruinen der 800 Jahre alten Anlage bieten weit mehr als nur eine pittoreske Kulisse für die Gewächse. Sie schaffen ein Mikroklima, in dem sich Botaniker und Gärtner austoben können: windgeschützte Gräben zwischen sonnigen Hängen und halbschattigen Nischen. Mächtige Steinmauern speichern Wärme und geben sie an Spalierobst und Sträucher weiter. „Ich liebe jede Form von Dogmatik, aber in der Stadt erlaube ich mir, auch etwas anderes aufzubieten, unabhängig davon, ob die Pflanzen hier heimisch sind oder nicht.“ Also wachsen dort die fast vergessenen Mispelbäume genauso selbstverständlich wie Granatäpfel, Bananenstauden, Kaki, Birnen und Topinambur. Weiter hinten hängen schon die ersten Früchte wie grüne Perlen an den Weinstöcken, während gegenüber der Hopfen an trichterförmigen Stützen emporrankt. Nah am Boden reiht sich Mangold an Kohlrabi.
Was sich ohne Übertreibung als urbanes Füllhorn darstellt, war nicht immer so. „Früher war das hier eine ziemlich dreckige Ecke. Manche haben das als Angstraum gesehen“, erzählt Kosack und schiebt gleich hinterher, dass es für das Projekt damit genau der richtige Fleck gewesen sei. Was gab es schon zu verlieren? „Hätte das alles nicht geklappt, hätten wir nicht das Gesicht verloren.“ Trotzdem haben sich kritische Stimmen nicht einfach beiseitewischen lassen. Was, wenn Hundebesitzer sich nicht um die Hinterlassenschaften ihrer Tiere kümmern? Setze man nicht Steuergelder buchstäblich in den Sand? Beide Sorgen haben sich laut Kosack als unbegründet erwiesen. „Es gibt auch wesentlich weniger Vandalismus, als wir befürchtet haben.“ Er glaubt, weil es durchaus so etwas gebe wie einen archaischen Respekt vor Lebensmitteln.
Ob
Wein und Kräuter in der Fußgängerzone oder Mangold und Kappenmohn im
Stadtgraben – auf Andernachs Grünflächen findet sich für Mensch und Tier immer
etwas Leckeres.
Vielleicht vor allem in einer Zeit, in der viele zum ersten Mal in ihrem Leben vor leeren Supermarktregalen gestanden haben. Die Pandemie hat einen Trend noch beschleunigt, der sich seit Jahren ankündigt. Inzwischen wird nicht nur hinter Bauernhäusern auf dem Land gegärtnert, sondern auch auf Dächern in den Metropolen, in Hinterhöfen und Urban-Gardening-Vereinen. Selbst auf dem kleinsten Balkon ist noch Platz für eine Tomatenstaude. Auch wenn die wenigsten, genauso wenig wie die Andernacher, damit auch nur in die Nähe von autarker Selbstversorgung kommen, sind die Beweggründe doch ähnlich: Leute wollen Tomaten, die nach Tomaten schmecken, unabhängiger vom Supermarkt sein, den Erfolg der eigenen Ernte sehen und wissen, woher das kommt, was am Ende auf dem Teller landet.
Viele
Andernacher haben anfangs auch deshalb nichts von der Idee einer essbaren Stadt
gehalten, weil sie sich ja wohl leisten könnten, einfach Gemüse zu kaufen.
Davon spricht heute niemand mehr, wie Kosack sagt. Das Bild hat sich gedreht:
Gemüse aus dem Rathausbeet mitzunehmen ist kein Zeichen von Bedürftigkeit,
sondern von Luxus, den die meisten Städte ihren Bewohnern nicht bieten.
Auf
zwei Prozent der urbanen Grünfläche in Andernach – Sportplätze und Parks
mitgerechnet – wachsen essbare Pflanzen. Bei zehn Prozent wäre Kosack
glücklich. Andernach lässt sich das im Jahr 90.000 Euro kosten. Mit diesem Etat
müssen Kosack und seine Kollegen auf den Grünflächen auskommen. „Ob ich dafür
Stiefmütterchen oder Tomaten pflanze, ist egal“, sagt er. Trotzdem ist
Andernachs Konzept aufwendig und auch teurer. Weil Andernach nicht auf
freiwillige Helfer aus der Bevölkerung setzt, kümmert sich eine gemeinnützige
Gesellschaft und ein Team von Langzeitarbeitslosen um die Pflege der
Gemüsebeete. Und damit sich die Kasse in Dürresommern nicht zu schnell leert,
müsse man sich überlegen, ob man einen neuen Baum pflanze oder die alten
wässere.
Für
die Stadt am Mittelrhein ist das Konzept aber auch über den Nutzen für die
eigenen Bewohner hinaus lukrativ. Kaum eine andere Gemeinde in Deutschland setzt
die Idee so konsequent um. Das lockt viele Touristen und macht Andernach zudem
zu einer Säule im internationalen Netzwerk „EdiCitNet“ (Edible Cities Network).
Die 30.000-Einwohner-Stadt steht dort in einer Reihe mit Metropolen wie
Rotterdam, Oslo oder Havanna, die sich alle dem Ziel verschrieben haben,
Nutzpflanzen in Permakultur und Biodiversität auf ihre Grünflächen zu bringen –
und die alle schon mit Delegationen durch das beschauliche Andernach gestapft
sind, um voneinander zu lernen.
Andernachs
Grünflächen sind für alle da.
Viel zu lernen gibt es ohnehin, wie Kosack sagt. Auch in Andernach finden sich nicht nur essbare Gärten und Wiesen, in denen es wuchern und summen darf. Schotterwüsten in privaten Vorgärten, die das Gegenteil von Biodiversität sind, gehören genauso zum Stadtbild. Trotzdem wünscht der Botaniker sich, dass mehr Städte den Versuch wagen, wenigstens aus den gemeinschaftlichen Grünflächen mehr zu machen. „Ich halte es da mit Erich Kästner“, sagt Kosack, „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Sonst gebe es das „Mäusekino“ auch nicht – ein kompletter Hang voller Wiesenblumen, der die Stadtburg umrahmt. Kalifornischer Kappenmohn, Margeriten, Salbei und Klatschmohn. Kosack erklärt gerade, dass der ganze Zauber in vier Wochen vorbei sein wird und die Pflanzen trotzdem, auch braun und verwelkt, stehen bleiben dürfen, als ein kleines Mädchen wie hypnotisiert auf den rot leuchtenden Mohn zusteuert. Wie einen zerbrechlichen Schatz dreht sie die pelzige Mohnknospe zwischen den Fingern. Lutz Kosack, der selbst einen Stengel Färberwaid in der Hand hält, lacht und sagt dann: „Schauen Sie sich das an, die Flächen sind für alle da! Ist es nicht toll, dass Pflücken hier ausdrücklich erlaubt ist?“
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