Samstag, 13. August 2022

„Kein Autofahrer hat gesagt: Ich lasse meinen Wagen ab jetzt stehen“

9-EURO-TICKET  in Capital hier  von Adrian Breitling  11.08.2022

Hat das 9-Euro-Ticket Reisende zum Umstieg auf Bus und Bahn bewegt? Verkehrsexperte Andreas Knie ordnet im Interview die ersten Erkenntnisse des Mobilitätsexperiments ein

Herr Knie, das 9-Euro-Ticket gibt es seit gut zwei Monaten. Wie viel kann man schon über den Erfolg oder Misserfolg des Tickets sagen? 

ANDREAS KNIE:  So viel kann man noch nicht sagen, denn alles, was wir an Erfahrung haben, sind Momentaufnahmen. Was feststeht ist, dass das Ticket in aller Munde war, dass Leute, die den öffentlichen Verkehrsmitteln schon länger den Rücken gekehrt hatten, plötzlich wieder gekommen sind und nicht zuletzt vor allen Dingen sehr viele Familien mit geringen Einkommen mehr als vorher fahren konnten.  

Die Agora Verkehrswende vermeldete zuletzt erste Erkenntnisse, die zeigen, dass das Ticket nicht dazu führt, dass Menschen ihr Auto stehen lassen. Wie ordnen Sie das ein?  

Das können wir vom WZB [Wissenschaftszentrum Berlin, Anm. d. Red.] bestätigen. Der Sinn und Zweck des Tickets aber war nie, dass wir sofort eine Verlagerung des Verkehrs sehen können. Zumal Fortbewegung Routine ist und entsprechend nach drei Monaten Testlauf keine drastischen Veränderungen zu erwarten waren. Was wir aber gemerkt haben, ist, dass Menschen sehr viel mehr Zug fahren. Das lag sicherlich nicht nur am Preis, sondern vor allen Dingen an der Einfachheit von flächendeckend neun Euro.  

Volle Bahnen, vor allem am Wochenende, sind seit der Einführung des Tickets zum Alltag geworden. Welche Nachteile gibt es noch? 

Da kommen mehrere Effekte zusammen. An Pfingsten konnten die Leute zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder frei verreisen. Außerdem mussten kaum Züge tatsächlich geräumt werden. Sicher, einige Verbindungen waren übervoll, zum Beispiel Züge von Berlin in Richtung Ostsee. Und auch in der Breite sind sie voller geworden. Man muss aber auch wissen, dass bis Ende Mai im Fern- und Nahverkehr gerade mal 70  Prozent der vorhandenen Kapazitäten genutzt wurden.  

Anders als Agora meldete der Navigationssystemhersteller TomTom, zumindest in Hamburg, im Juni weniger Stau gemessen zu haben. Was stimmt denn nun?  

Ja, das würde ich auch gerne so sehen, aber leider ist es nicht so. Die Datenlage ist in diesem Fall wirklich sehr klein. Unsere Messungen in vielen anderen Städten können das nicht bestätigen. Aber auch hier gilt: Drei Monate sind viel zu kurz, um signifikante Veränderungen zu erwarten. 

Wie lange wird es dauern, bis es dazu seriöse Daten gibt?  

Das geht relativ schnell. Das Ticket gibt es noch bis Ende August, im September beginnen wir dann mit der Erhebung. Ende des Monats sollten wir dann Daten präsentieren können.  

 Und was erwarten Sie dafür?  

Wir erwarten etwa das, was wir jetzt schon sehen. Menschen, die vorher weniger Zug gefahren sind, sind mehr gefahren. Diejenigen, die nie gefahren sind, haben jetzt gelegentlich die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt. Aber das 9-Euro-Ticket hat, was die Verkehrsmittel angeht, nicht zu Veränderungen im Verhalten geführt. Kein Autofahrer hat gesagt: Ich lasse meinen Wagen ab jetzt stehen. 

 Trotzdem wirken Sie nicht niedergeschlagen.  

Es war ja auch Vieles gut. Es war wunderbar. Das Ticket war in aller Munde. Die Leute hatten Freude am Fahren und die Sympathiewerte des ÖPNV sind drastisch nach oben gegangen. Wenn es ein dauerhaftes Angebot dieser Art gäbe, bin ich mir sicher, dass wieder mehr Menschen Zug fahren würden. Dafür ist ein leicht verständliches Ticket sehr wichtig. 

Sie fordern eine Fortsetzung des Tickets, wenn auch in etwas abgewandelter Form. Wie genau also soll es ab September weitergehen?  

Ich würde sagen, wir haben insgesamt drei Erkenntnisse gewonnen. Erstens ist die Modernisierung des ÖPNV möglich. Viele Verkehrsbetriebe hatten zuvor gesagt, so ein Ticket wäre nicht möglich. Und dennoch kam es und funktionierte schließlich. Das ging aber nur mit politischem Druck von außen. Das zweite ist, dass wir gesehen haben, dass ein einheitlicher Preis, der attraktiv ist, Menschen zu mehr Fahrten mit der Bahn bringt. Und deshalb haben wir drittens den Vorschlag gemacht, dass ein Folgeticket nicht neun, sondern 29  Euro jeden Monat kosten sollte. Das würde dann aber nicht nur für U- und S-Bahn sowie den Regionalverkehr gelten, sondern den Fernverkehr inkludieren. Außerdem denken wir, dass es wichtig ist, die letzte Meile, den Weg vom Bahnhof zum Arbeitsplatz zum Beispiel, zu vereinfachen. Im Ticket wäre also auch eine Taxifahrt inbegriffen.

Wie kann das finanziert werden? 

Da müssen wir über Umverteilung sprechen. Der Diesel bekommt jedes Jahr Subventionen von fast sieben Mrd. Euro, das könnte anders investiert werden. Dann fällt ab demnächst der Tankrabatt weg. Und wenn wir die Erhöhung der Pendlerpauschale, die ohnehin nur mittleren und höheren Einkommensklassen zugutekommt, abschaffen und dann noch mal die steuerliche Bevorzugung der privaten Nutzung von Dienstwagen beenden, dann kommt eine Summe von fast 14 Mrd. Euro raus.

Und dieser Vorschlag würde auch für den Fernverkehr und das Taxi für die letzten Meter reichen?  

Ja, das durch die Abschaffung der Privilegien des Autos eingesparte Geld würde reichen, um ein 29-Euro-Ticket mit diesem Leistungspaket gegenzufinanzieren.

Wie sieht Ihr Vorschlag für die Fortsetzung eines einheitlichen Bahntickets weiter aus? 

Es ist wichtig, diese Projekte länger laufen zu lassen, bestenfalls ein Jahr. Das wäre erstens ein guter Einstieg in die Verkehrswende, zweitens könnten wir dann länger beobachten, wie sich das Angebot auf das Verkehrsverhalten auswirkt. Nach nur drei Monaten, wie es jetzt der Fall ist, ist das sehr schwierig. Insgesamt ist aber noch viel zu tun, was die Suche nach einem Nachfolgemodell für das 9-Euro-Ticket angeht. Aber es lohnt sich, weiter zu experimentieren. 

Wie beurteilen Sie den Einfluss des 9-Euro-Tickets mit Blick auf die Verkehrswende insgesamt? 

 Es hat einfach Lust auf mehr öffentlichen Verkehr gemacht, Lust auf attraktivere und einheitliche Tarife. Es geht also, wenn der politische Wille da ist. Das ist schon mal ein Anfang. 


Andreas Knie ist Sozialwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für Soziologie an der TU Berlin.

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