Mittwoch, 9. November 2022

»Das Fenster, das sich schließt«

Spiegel hier  Eine Kolumne von Christian Stöcker  30.10.2022

Zur Rede von Frank-Walter Steinmeier: 
Der wahre Epochenbruch ist viel größer

Der Bundespräsident hat sich diese Woche endlich zu einer lange erwarteten Grundsatzrede durchgerungen. Er verkündete harte Wahrheiten. Oppositionsführer Merz dagegen erzählt weiter beruhigende Märchen.

Diese Woche ist unter anderem Folgendes passiert:

- extreme Überschwemmungen in Nigeria, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Choleraepidemie auslösen werden 

- Derweil fällt der Mississippi in den USA trocken. Das Salzwasser aus dem Golf von Mexiko ist schon 100 Kilometer weiter ins Landesinnere der USA vorgedrungen als normal. 

- Pakistans Regierung schätzt die Schäden durch die Überschwemmungen von vor drei Wochen (erinnern Sie sich noch?), auf mehr als 40 Milliarden Dollar 

Stellen Sie sich bitte einen Globus vor, und darauf drei rote Punkte, die den Süden der USA, Nigeria und Pakistan markieren. Bis in zehn Jahren, wenn die 1,5-Grad-Schwelle mit hoher Wahrscheinlichkeit überschritten sein wird, werden sich die Katastrophen, die jetzt schon den Globus überziehen, in atemberaubendem Tempo vermehren, wie Windpocken. Immer mehr rote Punkte, überall.

Auf die Welt kommen deshalb nie dagewesene Wanderungsbewegungen  zu, und zwar in sehr naher Zukunft, nicht erst 2050.

»Das Fenster, das sich schließt«

Hierzulande, überall im sogenannten Globalen Norden wird aber weiterhin so getan, als hätten wir noch Zeit. Die Uno hat gerade auf bittere Weise festgehalten, dass das ein Irrtum ist. Die derzeitigen Vorsätze – nur die Vorsätze! – der Länder dieser Welt reichen bei Weitem nicht, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, die Erde nicht mehr als 1,5 Grad heißer werden zu lassen als vor der Industrialisierung.

Der Uno-Bericht über die Lücke zwischen den Emissionen, die wir uns leisten könnten, und denen, die wir produzieren, trägt den Titel »Das Fenster, das sich schließt«  Er verlangt nach einer »systemweiten Transformation«, denn nur die könne »eine Klimakatastrophe verhindern«.

Ich weiß, es ist unangenehm, ständig an diese Fakten erinnert zu werden. Aber noch weit unangenehmer ist das, was bevorsteht, wenn nicht endlich entschlossen gehandelt wird. Im Forum zu dieser Kolumne wird man dennoch auch diese Woche wieder Worte wie »Panikmache« und »Untergangsprophet« lesen können. Dissonante Information wird abgewertet.

Der »Epochenbruch« – was ist das?

All das hört niemand gern. Es gibt doch schon so viele andere Probleme! Putin, Inflation, Gaspreise, bitter nötige Verwaltungsreformen, schleppende Digitalisierung.

Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diese Woche in einer lange erwarteten Grundsatzrede von einem »Epochenbruch« sprach, meinte er damit zunächst vor allem Russlands Angriff auf die Ukraine und die damit einhergehenden Verwerfungen.

In der zweiten Hälfte der Rede fielen aber dann auch diese Sätze: »Wir treten ein in ein Zeitalter ohne Kohle, Öl und Gas, in dem sich Deutschland neu beweisen wird. Darin liegen, bei aller Herausforderung, auch große Chancen für unser Land!« Das sei »die vordringliche Aufgabe von Ingenieurinnen und Entwicklern, von Wirtschaft und Politik«.

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