Freitag, 25. November 2022

RLP-Verfassungsrichter hält Proteste der Bewegung "Letzte Generation" für gerechtfertigt

SWR  hier   24.11.2022  JEANETTE SCHINDLER

KLIMA-AKTIVISTEN "LETZTE GENERATION"

Viele, vor allem junge Menschen, sind wegen der Klimapolitik frustriert. Sie greifen zu immer radikaleren Protestmitteln auch in Rheinland-Pfalz. Ist das angemessen?

Blockierte Straßen, beschmutzte Kunstwerke - da ist bei vielen eine rote Linie überschritten. Die meisten Menschen in Deutschland lehnen Umfragen zufolge die Protestaktionen der Klima-Bewegung "Letzte Generation" ab. Viele finden sogar, sie schadet dem Umwelt- und Klimaschutz.

                        Rechtfertigender Notstand: Paragraph 34 Strafgesetzbuch  
Verfassungsrechtler wertet Klimawandel als Notstand

Sind Flughäfen das nächste Ziel der "Letzte Generation"-Aktivisten?

In Rheinland-Pfalz ist die Bewegung noch schwach. Aber auch hier werden die Proteste ausgeweitet, sagt Micha Frey aus Kusel, der schon länger dabei ist. Die Aktionen würden immer gewaltfrei bleiben, aber künftig könnten auch Flughäfen lahmgelegt werden.

"Wir haben nur noch ganz wenige Jahre Zeit, um einen Klima-Kipppunkt zu verhindern. Und deshalb brauchen wir jetzt unignorierbaren Protest, der stört und die Gesellschaft aufrüttelt", rechtfertigt er die Aktionen, die als Nötigung, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch geahndet werden. Auch Micha Frey hat wegen seines Protests schon im Gefängnis gesessen.

Doch nicht immer werden die Demonstranten und Demonstrantinnen verurteilt. Das Amtsgericht in Flensburg hat einen jungen Mann unter Berufung auf "gerechtfertigten Notstand" §34 StGB freigesprochen. Aber genauso wie die Proteste selbst ist auch dieses Urteil umstritten.

Der rheinland-pfälzische Verfassungsrechtler und Richter am Verfassungsgerichtshof, Michael Hassemer, erkennt im Klimawandel durchaus eine Notstandssituation, die sich in absehbarer Zeit noch verschärfen werde. Die Proteste hält er für gerechtfertigt.

"Die Konsequenzen, die der Menschheit durch das Unterlassen von Klimaschutzmaßnahmen entstehen, sind jedenfalls so gravierend, dass Rechtsbeeinträchtigungen durch Protest bis zu einem gewissen Maß durch Notstand gerechtfertigt und darum hinzunehmen sind."

"Wenn man sich auf der Straße festklebt, geht ja erst mal nichts kaputt."
Michael Hassemer, Richter am Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz

Hassemer betont gleichzeitig, jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden. "Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung wird jeweils darauf zu achten sein, wie schwer der jeweilige, durch den Protest verursachte Rechtsgutseingriff ausfällt“, erklärt er. "Wenn man sich auf der Straße festklebt, geht ja erst mal nichts kaputt, und wir leben in einem Land der Falschparker und Rettungsgassenverweigerer."

CDU-Fraktion: Hassemers Argumentation ist nicht haltbar

Die rheinland-pfälzische CDU kann der Argumentation Hassemers nicht folgen. "Leider entsteht der Eindruck, dass Herr Hassemer, der auf Vorschlag der Grünen Mitglied des Verfassungsgerichtshofes wurde, parteipolitisch motiviert argumentiert", kritisiert der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Landtag, der CDU-Landtagsabgeordnete Helmut Martin. "So lange unsere Verfassungsorgane intakt und arbeitsfähig und Staat oder innere Ordnung nicht in Gefahr sind, liegt kein Notstand vor." Bloße Unzufriedenheit damit, wie Regierung und Parlament große Aufgaben lösten, rechtfertige noch keine Notstandslage.

Radikale Klima-Aktivisten nehmen Strafen in Kauf

Derzeit werden die Demonstrantinnen und Demonstranten der "Letzten Generation" in fast allen Fällen wegen Nötigung, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch zu Geldstrafen verurteilt. Sie nehmen die Strafen bewusst in Kauf.

Ein Gruppe von jungen Leuten besetzt seit fast zwei Jahren ein Waldstück bei Trier-Zewen und Igel. Sie wollen verhindern, dass der Wald für eine geplante vierspurige Bundesstraße gerodet wird.

"Das Allerschlimmste was mir passieren könnte", sagt einer der Besetzer, "ist nicht die Geldstrafe, auch nicht die Gefängnisstrafe. Das Allerschlimmste wäre, wenn Projekte wie diese durchgesetzt werden und die Erde, auf der ich noch 60, vielleicht 70 Jahre leben muss, irgendwann kaputt und unbewohnbar ist."

Das sind die Forderungen der Klima-Aktivisten der "Letzten Generation"

Radikale Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten sind der Auffassung, dass nur Protestaktionen, die massiv stören, wahrgenommen werden und die Gesellschaft aufrütteln können, um die Erderwärmung einzudämmen.

Die "Letzte Generation" würde ihre Proteste stoppen, sagt Sprecherin Carla Hinrichs, wenn die Bundesregierung folgende Forderungen erfüllen würde: Einführung eines Tempolimits von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und die Einführung eines 9-Euro-Tickets.


Süddeutsche Zeitung hier  24. November 2022  Essay von Joachim Käppner

Demonstrationen der "Letzten Generation":Warum das Gerede von einer Klima-RAF Unsinn ist

Ist es Terror, sich mit der Hand auf der Straße unter dem Münchner Friedensengel festzukleben? Die bayerische Staatsregierung geht gegen Klimaaktivisten drakonisch vor. Ihre Dämonisierung aber lenkt nur von den eigentlichen Streitpunkten ab.

Es braucht wohl die heitere Gelassenheit der Satire-Homepage "Der Postillon", um sich kritisch, aber unaufgeregt mit den Klebe- und Soßenwurf-Aktionen der "Letzten Generation" auseinanderzusetzen. Bei einem Treffen der Aktivistengruppe fragt also eine von ihnen, so die Persiflage: "Cool. Und wie genau geht der Plan jetzt eigentlich weiter. Was ist Schritt 2? Ich meine, was genau kommt, nachdem uns alle hassen?" Dummerweise fällt "Schritt 2" keinem in der Gruppe mehr ein.

Die bayerische Staatsregierung ist von solcher Gelassenheit weit entfernt; sie will es auch gar nicht sein. Nicht nur, dass die Polizei eine wachsende Zahl von Frauen und Männern, die den Autoverkehr blockieren, indem sie sich auf Münchens Straßen festkleben, in wochenlangen Gewahrsam nimmt. Bayerische Politiker wie Alexander Dobrindt (CSU) warnen gar schon vor dem Entstehen einer "Klima-RAF". Der Begriff hat sich in der Debatte schnell verbreitet. Und beides, das Fortsperren wie die Gleichsetzung mit dem linksextremen Terror vor allem der Siebzigerjahre, folgt demselben Ziel: der Verteufelung und Dämonisierung einer unbequemen Form gesellschaftlichen Protests.

Das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das es erlaubt, Straßenblockierer vorsorglich - und außergewöhnlich lange - einfach wegzuschließen, war eigentlich als Maßnahme gegen islamistische Gefährder gedacht, gegen Terrorgefahren also. Aber ist es Terror, sich mit der Hand auf der Straße unter dem Münchner Friedensengel festzukleben? Natürlich nicht.

Davon zu reden, dass hier eine "Klima-RAF" entstünde, ist "Nonsens", wie selbst Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang zu Recht warnte. Solcher Nonsens ist ja nicht nur in der Sache falsch, sondern geradezu bösartig. Die beiden Bewegungen, der linksextreme Revolutionsfuror vor 50 Jahren und die Klimaschützer von heute, vereint praktisch nichts, außer dass sie die Schlagzeilen beherrschen.

Der wichtigste Unterschied ist der augenfälligste. Gewalt gegen Menschen war Mittel der Wahl für die RAF-Terroristen und ähnliche Bewegungen wie die Revolutionären Zellen (RZ), allein die Rote-Armee-Fraktion (RAF) ist für mehr als 30 Morde und mehr als 200 Verletzte verantwortlich. Selbst militante Klimaschützer aber lehnen Gewalt gegen Personen ab. Man kann das Beschmieren von Gemälden in Museen vielleicht als Gewalt gegen Dinge bezeichnen, auch wenn die Schäden dank schützender Glasscheiben bislang überschaubar blieben.

Die aktuelle Protestbewegung hat ganz andere Ziele

Die "Letzte Generation" aber würde genau zu jenen Bewegungen gehören, denen die RAF in ihrem Gründungsaufruf 1970 bescheinigte, "intellektuelle Schwätzer, Hosenscheißer und Allesbesser-Wisser" zu sein. Gemeint war damals die Masse der 68er, die zwar auf den Straßen gegen den Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und alte Nazis in öffentlichen Ämtern und auf Lehrstühlen ("Der Muff von tausend Jahren / unter den Talaren") demonstrierten, aber mit Morden, Brandstiftungen und Geiselnahmen nichts im Sinn hatten. Gerade deshalb spalteten sich die späteren Terroristen ja von der Bewegung ab; und obwohl sie dort manche Sympathien und gewiss zu viel Verständnis genossen, blieben sie dauerhaft isoliert in ihrem Kult der Gewalt.

Zweiter Unterschied, ebenso leicht erkennbar: die Ziele. Die Gesellschaft, die Andreas Baader, Gudrun Ensslin aus der ersten RAF-Generation und alle späteren Mitglieder der Bande herbei zu bomben trachteten, wäre ein totalitärer Albtraum gewesen. Die Gesellschaft hingegen, welche Klimaschützerinnen und Klimaschützer anstreben, ist eine, die schlicht überleben soll, indem sie die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit nicht weiter zerstört. Konkrete Forderung unter anderem: ein Tempolimit auf der Autobahn.

Die Killertrupps im Zeichen des roten Sterns hätten nur Verachtung für solche Ziele gehabt; den Klimawandel aber aufzuhalten oder wenigstens nicht zur Klimakatastrophe werden zu lassen, sollte eigentlich der Wunsch aller Menschen und Staaten sein. Allerdings haben die Aktivistengruppen das Vertrauen in die Politik verloren, dass diese entsprechend handeln würde; und man kann nicht sagen, dass der Klimagipfel von Sharm el-Sheich dieses Vertrauen gefördert hätte.

Drittens: die Beteiligten. Es gab, von den Neonazis einmal abgesehen, seit der Nachkriegszeit wohl keine Gruppe jüngerer Menschen, die so gefühlskalt, unmenschlich und autistisch dachte und handelte wie die Linksterroristen. Viele von ihnen wirkten geradezu wie Kinder jenes faschistischen Geistes der Väter, den sie der Gesellschaft doch mit Sprengsätzen und Schüssen austreiben wollten. 1976 gehörten die RZ-Mitbegründer Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann sogar zu den Entführern, die bei der Flugzeugentführung nach Entebbe die jüdischen Geiseln dabehielten - darunter Holocaust-Überlebende -, um Israel zu erpressen, und die anderen gehen ließen: Symbolträchtiger ließ sich kaum inszenieren, wes Geistes Kind dieser Terror war.

Die Terrorgruppen von damals kamen nie über einige Dutzend Bandenmitglieder hinaus, selbst die erheblich größere Szene der "Sympathisanten" und jener Wirrköpfe, die "klammheimliche Freude" über die Morde empfanden, hatten niemals nennenswerte Teile der Bevölkerung hinter sich, die den Terror hasste und die Terroristen oft ebenso.

So plump ein Feindbild zu zeichnen ist nichts als Propaganda

Nichts vom mörderischen Geist der RAF aber ist erkennbar bei jungen Leuten, die sich auf Kreuzungen festpappen oder im Kunstmuseum mit Tomatensuppe werfen. Sie sind Teil einer großen und weltweiten Bewegung, die ein jedermann einleuchtendes und für jedermann notwendiges Ziel verfolgt. Sie treibt nicht der Hass an, sondern etwas so Konservatives wie Konstruktives: schlicht die Rettung des Planeten.

Natürlich, auch Klimaschützer müssen sich in der Debatte kritischen Fragen stellen. Viele Leute, die sehr provoziert sind durch Klebeaktionen und die folgenden Staus, müssen ihr knappes Geld als Kurierfahrer, Paketboten, Taxifahrerinnen verdienen, etliche von ihnen haben Migrationshintergrund. Sie zahlen buchstäblich drauf für Straßenblockaden junger deutscher Akademiker (denn um solche handelt es sich oft), was der Akzeptanz des Klimaschutzes schwerlich hilft.

Ähnliches dürfte gelten, wenn doch einmal ein berühmtes Gemälde wie von Claude Monet durch Farbe zerstört werden sollte - der guten Sache würde ein solcher Bildersturm eher nicht dienen. Und auch wenn der Tod einer Berliner Radfahrerin nicht - wie viele gleich behaupteten - durch eine Straßenblockade verschuldet wurde, in der Rettungskräfte feststeckten: Feuerwehr, Polizei oder Krankenwagen im Einsatz aufzuhalten, riskiert Leben und Gesundheit anderer Menschen. Das kann böse Folgen haben, die mit dem Ethos der Klimarettung und dem eigenen Gewissen womöglich schwer vereinbar sind.

Aber all das rechtfertigt es nicht, das Feindbild einer potenziellen Klima-RAF an die Wand zu malen, das nichts ist als billige Propaganda. Wenn sich zum Beispiel Alexander Dobrindt so sehr um den Frieden in der Gesellschaft sorgt, hätte er bessere Möglichkeiten, diesen zu wahren. Zum Beispiel mal darüber nachzudenken, ob es wirklich fair gegenüber künftigen Generationen ist, das einzige Land der Welt ohne Tempolimit zu bleiben.

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