NTV hier 20.11.2022,
Ethiker über Straßenblockaden
Der Tod einer Radfahrerin in Berlin tritt eine hitzige Debatte über Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" los. Haben die Demonstranten eine Mitschuld am Tod der Frau? Sind die Straßenblockaden gerechtfertigt? Der Ethiker Andreas Lob-Hüdepohl sieht die Schuld nicht bei den Aktivisten - und spricht von einer Ablenkungsstrategie.
Der Tod einer Radfahrerin in Berlin tritt eine hitzige Debatte über Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" los. Haben die Demonstranten eine Mitschuld am Tod der Frau? Sind die Straßenblockaden gerechtfertigt? Woher kommt die Wut auf die Aktivisten? Der Ethiker Andreas Lob-Hüdepohl hat dazu eine klare Meinung: Eine Schuld trifft die Aktivisten zwar nicht. Alles Erlauben dürfe man sich aber im Namen der Klima-Rettung auch nicht. Die Wut auf die Klima-Kleber hält er für eine Ablenkungsstrategie.
ntv.de: Fangen wir an mit der Frage, über die seit dem Radunfall in Berlin alle diskutieren: Sind die Klimaaktivisten schuld am Tod der Radfahrerin in Berlin?
Andreas Lob-Hüdepohl: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich bin kein Jurist, das muss durch Staatsanwälte und Gerichte geklärt werden. Dies setzt voraus, dass sie tatsächlich unmittelbare Auswirkungen auf den hochbeklagenswerten Tod der Radfahrerin hatten. Die Besetzung der Autobahnschilderbrücke, wodurch nur noch eine der drei Spuren befahren werden konnte, war eine deutliche Hemmung des Fahrflusses. Ob das unmittelbar oder durch verschiedene Handlungsketten auch zum Tod der Fahrradfahrerin beigetragen hat, muss gegebenenfalls in einem Strafprozess geklärt werden. Wir sollten aber Folgendes beachten: Erstens ist die Fahrradfahrerin von einem LKW überfahren worden und nicht von Protestierenden. Zweitens: Die Rettungsgasse hätten nicht die Blockierer bilden müssen, sondern die Autofahrerinnen und Autofahrer. Dazu sind sie durch die Straßenverkehrsordnung verpflichtet - unabhängig der Frage, was einen solchen Stau auslöst.
Nähern wir uns dem Thema von der ethischen Seite: Machen sich Protestler mitschuldig, wenn sie in Kauf nehmen, dass der Straßenverkehr behindert wird und somit eventuell auch ein Rettungsfahrzeug nicht schnell genug durchkommt? Oder ist der Nutzen solcher Aktionen größer als der Schaden?
Grundsätzlich ist bei solchen Protestaktionen immer zu bedenken, ob die Störaktion verhältnismäßig ist. Jede Form von Demonstration, Blockade und dergleichen versucht, eine Störung herbeizuführen, damit auf ein Problem aufmerksam gemacht wird. Insofern ist das Störelement als solches nicht verwerflich, im Gegenteil, das liegt in der Natur der Sache. Aber es muss verhältnismäßig sein. Und bei dieser besonderen Protestaktion der "Letzten Generation" wissen wir, dass diese Störung gegen Gesetze verstoßen kann - nämlich, in dem sie andere in ihrer Bewegung hindert.
Es ist wichtig, dass ein solcher Protest, den man für gewöhnlich zivilen Ungehorsam nennt, gewaltfrei sein muss - sowohl gegenüber Sachen als auch gegenüber Personen. Und wenn ich als Protestierender, egal ob ich blockiere oder gewöhnlich demonstriere, in Kauf nehme, dass als unmittelbare Folge auch Menschenleben gefährdet werden, dann ist das nie angemessen und deshalb moralisch verwerflich.
War das in diesem Fall so?
Wenn die Berichte stimmen, dann nicht. Allerdings gibt es zwischen einer ethischen Einschätzung und einer strafrechtlichen Beurteilung einen großen Unterschied: Eine strafrechtliche Beurteilung muss immer den konkreten Einzelfall mit allen seinen Details rekonstruieren. Das kann man nie von außen machen. Soweit ich das als Ethiker von außen sehen kann, wurden als unmittelbare Folge der Protestaktion Menschenleben nicht gefährdet. Übrigens: Es besteht theoretisch immer eine Gefahr. Wenn ich zum Beispiel eine Protestaktion mache, die sogar genehmigt ist, kann ich nicht ausschließen, dass sich im Stau Menschen über diese Situation erregen und das wiederum zu einem Herzinfarkt mit Todesfolge führt. Theoretisch kann die Demonstration also eine Handlungskette auslösen, durch die eine andere Person zu Schaden kommt. Das ist immer hochbedauerlich. Wenn man aber jedes Risiko ausschließen müsste, dann dürfte man nie und nirgends mehr demonstrieren. Was man hingegen ausschließen muss, ist, dass man offensichtliche, unmittelbare und schwere Gefahren in Kauf nimmt. Wenn ich beispielsweise weiß, dass ich in der Nähe eine Rettungsstation blockiere, wo Rettungsfahrzeuge rausfahren, dann ist die Gefahr, dass ich damit lebensrettende Maßnahmen gefährde, sehr groß. Das darf nicht sein.
Es gibt das Argument, die Klimaaktivisten hätten einplanen müssen, dass oft keine Rettungsgasse gebildet werden. Kann man damit argumentieren?
Ich halte das für wenig überzeugend. Wenn ich das Nichtbefolgen elementarer Regeln von anderen immer in meine Aktionen einplanen müsste, dann hätten wir ein großes Problem. Denn dann könnte man auch in eine andere Richtung argumentieren: Normalerweise sind Einsatzfahrer von Rettungswagen dazu angehalten, die aktuelle Verkehrssituation, die ihnen ja durch moderne Technologie zu Verfügung steht, abzurufen und zu gucken, wo es Stau gibt. Egal ob durch Baustellen, Unfall oder eben durch die Besetzung von Straßen. Das hat der Rettungswagen offensichtlich versäumt. Man würde deswegen aber auf keinen Fall dem Fahrer oder der Fahrerin den Vorwurf machen, er habe dadurch den Tod der Radfahrerin zu verantworten. Das wäre ja völlig absurd. Und umgekehrt kann man auch von Klimaaktivisten nicht verlangen, dass sie sich in die Lage von allen möglichen Akteuren im Straßenverkehr hineinversetzen und überlegen, ob das Risiko der Gefährdung von Leib und Leben steigt, wenn die anderen auch nicht regelkonform handeln. Das kann man nicht machen.
Wenn man die Chance hat, durch Klimaschutz die Menschheit zu retten, sind dann im Vergleich dazu solche Aktionen nicht sogar als sehr milde zu betrachten? Man könnte ja auch so argumentieren: Wenn man nichts für den Klimaschutz tut, bringt man sehr viel mehr Menschen um. Oder?
Wider besseren Wissens nichts gegen den Klimawandel zu tun, ist Gewalt und tötet, ja. Aber man hört das Argument bis hin zu der steilen These, dass man sogar die verfassungsmäßige Ordnung außer Kraft setzen dürfe, wenn sich die Situation apokalyptisch genug darstellt. Eine solche Argumentation ist aber falsch. Veränderungen müssen demokratisch legitimiert und rechtsstaatlich abgesichert sein. Und überhaupt: Alleine durch die Störaktionen wird nichts gerettet. Die Aktivisten wollen dadurch Meinungsbildungsprozesse in Gang bringen und den Druck auf Bevölkerung, Öffentlichkeit und die politischen Akteure erhöhen, damit sich endlich etwas tut.
Nach dem Unfall hat sich ein Rettungssanitäter auf Twitter beschwert, es sei total verlogen und falsch, den Klimaaktivisten jetzt eine Schuld zuzuschieben, weil er und alle anderen Rettungsfahrzeuge jeden einzelnen Tag im Stau stehen. Das liege natürlich nicht immer an Klimaaktivisten, sondern an Falschparkern, Baustellen und fehlende Rettungsgassen. Sind Falschparker, die Krankenwagen blockieren, weniger schuld am verspäteten Einsätzen?
Manchmal werden Falschparker auch strafrechtlich belangt. Wenn beispielsweise ein Falschparker die Einfahrt in einen Schulhof für Rettungsfahrzeuge blockiert und es gibt einen Brand, bei dem Menschen zu Schaden kommen, weil die Rettungsfahrzeuge nicht zum Brandherd gelangen, dann ist das zumindest aus ethischer Perspektive eine fahrlässige Form des Tötungshandelns. Strafrechtlich mag das anders aussehen. Man muss immer nachweisen, dass ausgerechnet dieser Falschparker an dieser Stelle den Rettungswagen so beeinträchtigt hat, dass er nicht mehr durchkam und allein dadurch ein verlorenes Menschenleben zu beklagen ist. Das ist eine lange Beweiskette, die geführt werden muss. Niemand käme aber auf die Idee zu sagen, dass Falschparker generell den Verkehr so schwer beeinträchtigen, dass Rettungsfahrzeuge grundsätzlich beeinträchtigt sind und Rettungswege immer länger dauern. Dieses Argument wird nirgendwo angeführt. Man müsste es aber immer anführen, wenn man jetzt den Aktivistinnen und Aktivisten, die kilometerweit vor der eigentlichen Unfallstelle zu einer Beeinträchtigung des Verkehrsflusses beigetragen haben, tatsächlich zur Verantwortung ziehen wollte.
Warum kocht trotzdem bei vielen Menschen solch eine Wut hoch, weil sie der Meinung sind, dass die Aktivisten schuld haben - und bei Falschparkern ist das nicht der Fall?
Man kann von der eigenen Unfähigkeit konsequent zu handeln super ablenken, indem man andere zu Sündenböcken erklärt. Die allgemeine Öffentlichkeit weiß und will im Grundsatz auch, dass sich radikal etwas zugunsten des Klimas ändert. Ich sage bewusst "radikal" im Sinne von "an die Wurzel gehen" und nicht "radikal" im Sinne von Aktionen. Viel zu wenige sind aber bereit, das eigene Handeln im Alltag zu ändern oder entsprechende politische Vorgaben zu unterstützen. Deshalb rühren die Blockierer an das tiefe schlechte Gewissen vieler Menschen, insbesondere auch politischer Akteure. Denn die müssten den politischen Rahmen setzen.
Man muss sich das mal vorstellen: Wir sind in Deutschland in einer Situation, wo es noch nicht mal gelingt, ein vorübergehendes Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Das ist absurd. Wir sind fast das einzige Land auf der Erde, wo es auf Autobahnen keine generellen Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt, um beispielsweise substanziell Energie zu sparen. Das lässt sich nicht durchsetzen.
Nicht nur Energie würde man sparen, auch gebe es nachweislich weniger Verkehrstote und der CO2-Ausstoß wäre geringer.
Der Verkehr fließt sogar besser, weil nämlich hohe Geschwindigkeiten bei einer hohen Verkehrsdichte dazu führen, dass schneller Verstopfungen und Staus entstehen. Das wissen wir seit Jahrzehnten. Es gibt viele, viele Gründe, die für ein Tempolimit sprechen. Es ist eine populistische Manie, jetzt auf Klima-Protestler einzudreschen. Vor knapp 40 Jahren, 1984, hat der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß von der CSU den LKW-Fahrern gratuliert, die wochenlang eine Autobahn zur Grenze nach Österreich blockierten. Sie haben damals gegen die Einführung einer erhöhten Maut auf österreichischen Autobahnen protestiert. Der Grenzübergang war vollständig blockiert, der lebenswichtige Transitverkehr über die Alpen erheblich gestört. Die Blockade war natürlich unrechtmäßig und keine angemeldete oder sogar genehmigte Demonstration. Trotzdem hat Strauß ihnen gratuliert. Heute empören sich seine Parteikollegen. Viele politische Akteurinnen und Akteure betreiben ein falsches Spiel statt stärker über die Sachproblematik zu diskutieren.
Der jetzige bayrische Ministerpräsident Markus Söder bezeichnet die Klima-Aktivisten als Kriminelle, die man deutschlandweit präventiv wegsperren sollte.
Ja, Sie tun das ja schon. Im Freistaat Bayern gibt es die besondere Situation, dass es eine Präventivhaft gibt. Die ist vor einigen Jahren eingeführt worden durch eine Verschärfung des Polizeiaufgabengesetzes. Man hat dies begründet mit der Gefährdung durch islamistische Terroristen. Und jetzt nutzt man dieses Instrument, um gegen protestierende Klimaaktivisten vorzugehen.
Das ist völlig unverhältnismäßig. Die Aktivisten als "Klima-RAF" zu bezeichnen, wie es CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt getan hat, ist populistische Hetze. Es ist absolut verwerflich und völlig unverantwortlich, dass das von einem wichtigen Funktionsträger innerhalb der Union kommt – und das nicht nur einmal, sondern ganz gezielt und wiederholt.
Man sollte nicht alles bejahen, was Klimaaktivistinnen und -aktivisten machen. Ich kann beispielsweise die Aktionen gegenüber Kunst überhaupt nicht nachvollziehen, weil Kunst dem Klima im Vergleich zum Autoverkehr nicht schadet. Deren Aktionen müssen immer geprüft werden nach den gängigen Regeln des zivilen Ungehorsams. So müssen die Aktivisten bereit sein, hinterher Strafen zu akzeptieren. Auch das ist Teil des zivilen Ungehorsams. Sie dürfen auch nicht die öffentliche Ordnung als Ganzes angreifen.
Jeder Einzelfall muss überprüft werden. Aber dass pauschal auf die Klima-Protestler eingedroschen wird, das halte ich für eine groß angelegte Ablenkungsstrategie von denen, die wissen, dass sie was ändern müssen, aber nicht bereit sind, tatsächlich Änderungen durchzuführen.
Mit Andreas Lob-Hüdepohl sprach Vivian Micks
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