Donnerstag, 10. November 2022

Köpft doch nicht immer den Boten!

Dieser Artikel trifft den Nagel auf den Kopf! Bitte unbedingt lesen.

Zeit  hier  Eine Kolumne von Petra Pinzler  10. November 2022

Fünf vor acht / Straßenblockaden

Wir regen uns weniger über einen Kanzler auf, der das Klima nicht genug schützt, als über einen festgeklebten Aktivisten. Das ist irre!

Es passiert eher selten, dass ich an meinen Mathematikunterricht denke – ist ja auch schon ein Weilchen her. Doch wieder und wieder erinnerten mich die vergangenen Tage an einen Begriff, den ich damals gelernt habe, denn er illustriert die aktuelle politische Wirklichkeit ganz wunderbar. "Umgekehrt proportional" lautet er und meint, dass das eine ebenso schnell größer wird wie das andere kleiner. Zahlenreihen beispielsweise.

Oder auch die Empörungswellen über die deutsche Klimapolitik.

Da wurde zum einen die kollektive Wut über die Klimaaktivistinnen der Letzten Generation von Tag zu Tag größer. Und im gleichen Tempo schrumpfen die Emotionen über das, was wirklich in der deutschen Klimapolitik passiert – oder eher nicht passiert. Kaum jemand regte sich in den vergangenen Tagen so richtig darüber auf, dass die Bundesregierung zwar mehr Klimaschutz verspricht, dafür aber nicht annähernd genug tut. Es gab keine Sondersendungen im Fernsehen, keine Schlagzeilen auf den ersten Seiten der Zeitungen – und das, obwohl jeden Tag klarer wird, welche düstere Zukunft uns erwartet, wenn die globale Durchschnittstemperatur über 1,5 Grad steigt – was immer wahrscheinlicher wird.

Es ist fast so, als ob die Mehrheit von uns den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, schon eingepreist hat. Und deswegen nicht mehr diejenigen beschimpft, die die Klimakrise durch die richtigen Gesetze durchaus noch verhindern könnten, es aber nicht tun – sondern lieber die Boten der Nachricht. Vehement kritisiert wird also nicht Bundeskanzler Scholz, dafür aber die Demonstranten der Letzten Generation – wenn die für einen Stau sorgen und uns so an die Klimakrise erinnern wollen. Es ist fast so vor wie früher bei Hofe: Als die Könige die Überbringer schlechter Nachrichten kurzerhand in den Kerker gesteckt – oder gleich geköpft haben.

Die Erklärung für die Ampel-Politik ist ebenso banal wie bitter

Ein Beispiel? Da äußerte sich der Bundespräsident in der vergangenen Woche mit kritischer Besorgnis über die Klebeaktion der Aktivisten. Er fürchte, so Steinmeier, dass sie mit ihren Aktionen der Unterstützung für die Klimapolitik schadeten. Den ganzen Sommer aber, als die Dürren das Land im Griff hatten, schwieg der Präsident – wie viele andere Politiker auch. Eine ehrgeizigere Klimapolitik, mehr Unterstützung für ehrgeizige CO₂-Sparvorschläge – ich kann mich nicht daran erinnern, so eine Forderung von Steinmeier in den Hitzemonaten gehört zu haben.

Er schwieg auch, als die Bundesregierung in der vergangenen Woche von ihren eigenen Experten vorgerechnet bekam, dass sie mit ihrem Programm die eigenen Klimaziele niemals erreichen wird. Da war auch kein Merz, der sagt: Upps, da müssen sie noch mal ran. Und kein Scholz, der zugab: Das war wohl noch nichts, da muss ich mal ein Machtwort sprechen.

Das Gegenteil passierte: Das Wirtschaftsministerium legte ein sogenanntes Klimaschutzsofortprogramm vor, das den Namen nicht wert ist – weil es in entscheidenden Bereichen (beispielsweise dem Verkehr) im Klimaschutz aktuell fast gar nichts verändert. Geschieht nicht noch ein Wunder, wird die Regierung also ihr eigenes Klimaschutzgesetz brechen.

Die Erklärung für dieses Verhalten der Ampel ist ebenso banal wie bitter: Bundeskanzler Scholz will erstens keinen Stress mit der FDP, die den Verkehrsminister stellt und keinen Klimaschutz will. Er traut zweitens den Deutschen schlicht nicht zu, Einschränkungen für den Klimaschutz ertragen zu wollen. Also beispielsweise etwas so Schreckliches wie ein Tempolimit. Und er weiß drittens, dass in Deutschland zwar ziviler Ungehorsam in Form von Festkleben auf Straßen nach geltender Rechtslage bestraft wird – eine Regierung, die ihre eigenen Gesetze ignoriert und nicht genug Klimaschutz betreibt, aber straffrei ausgeht.

Es gab keine Schlagzeile à la: Scholz mogelt bei Klimaschutz

Auch deswegen konnte Scholz dann auch zu Wochenbeginn auf der Klimakonferenz in Ägypten nassforsch behaupten: "Wir stehen fest zu unseren nationalen Klimazielen." Das ist zwar schon für dieses Jahr definitiv falsch (jedenfalls wenn man darunter versteht, dass die Regierung die Ziele einhält.) Es wird aber auch für die kommenden Jahre nicht sehr wahrscheinlich, wenn die Regierung nicht nachlegt – wofür es wiederum keine Indizien gibt.

Das Verrückteste an der ganzen Sache aber ist: Niemand lachte den Kanzler aus. Es gab keine Schlagzeile à la: Scholz mogelt bei Klimaschutz. Es gibt keine großen Demos mehr. Nur wenige Kommentatoren halten ihm persönlich vor, dass er wie auch schon Merkel den Klimaschutz mal wieder auf die Zukunft vertagt – und das sogar in Bereichen, die er nun wirklich nicht mit dem Krieg entschuldigen kann. Also beispielsweise beim Verkehr, wo ein Tempolimit sofort Öl – und CO₂ – sparen würde.

Deutschland habe mit das ehrgeizigste Klimaschutzprogramm der Welt, sagte Scholz und übertrieb damit maßlos: Man muss nur nach Kenia schauen, um ihn zu widerlegen. Das Land will schon 2030 CO₂-frei sein.

Zu den Blockaden hat fast jeder eine Meinung

Doch noch einmal zurück nach Deutschland und der Frage, was die Mehrheit in der Klimapolitik wirklich interessiert: Nachdem die Bild-Zeitung auf ihrer Titelseite vergangenen Woche nach dem tragischen Tod einer Radfahrerin fälschlicherweise getitelt hatte, nun habe die Letzte Generation ihr erstes Todesopfer, war ganz offensichtlich ein Damm gebrochen. Der Boulevard gab den Ton an und reihenweise schlossen sich Politiker an – und fanden in den Medien viel Gehör.

Besonders laut waren dabei mit Vorliebe diejenigen, die über Klimapolitik sonst nicht viel sagen: Also beispielsweise der liberale Alexander Graf Lambsdorff, der gleich vom "ersten Oper" der Letzten Generation sprach. Oder die Sozialdemokratin und Innenministerin Nancy Faeser, die über das Ende der demokratischen Auseinandersetzung philosophierte. Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern – und auch in den sozialen Medien bekam und bekommt jeder Beitrag über die Letzte Generation immer noch mehr Kommentare als der über das Versagen der Regierung, oder der Regierungen. Und mal schauen, wie es mit den Beiträgen unter diesem Text sein wird.

Ich finde, das ist eine Aufmerksamkeitsschräglage. Vielleicht hat sie etwas damit zu tun, dass wir lieber über die Dinge reden, bei denen wir uns schnell eine Meinung bilden können. Ob jemand sich aus Protest auf die Straße kleben sollte oder nicht – dazu glaubt fast jeder aus dem Bauch heraus etwas Richtiges sagen zu können. Auch dazu, ob Tomatensuppe auf den Bildern ein richtiges Mittel des Protestes ist. Ob aber der Kanzler genug für den Klimaschutz tut – diese Frage scheint vielen offensichtlich zu kompliziert.

Das aber ist nur eine Erklärung, eine Entschuldigung ist es nicht.

Und ganz ehrlich: Ginge das nicht auch anders?  Es geht doch wirklich um was.

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