Standard hier Interview / Alois Pumhösel 20. November 2022
FERNE KLIMAZIELE
Wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel werden auf politischer Ebene verschleppt. Forscherin Alina Brad untersucht das Vertrauen in Zukunftstechnologien
Bei der Klimakonferenz in Ägypten wurde viel über die zunehmende Lücke zwischen globalen Klimazielen und Maßnahmen diskutiert. Die Politologin und Klimaforscherin Alina Brad wirbt für eine mutigere Politik.
STANDARD: Was müsste getan werden, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen?
Brad: Es müssten sofort massive Einschnitte erfolgen, und es dürften keine neuen fossilen Infrastrukturen mehr gebaut werden. Der heuer veröffentlichte IPCC-Bericht zeigt, dass 43 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen bis 2030 eingespart werden müssten. Aus heutiger Sicht ist das unrealistisch. Wir gehen davon aus, dass wir auf eine globale Erwärmung von zumindest 1,7 Grad kommen. Nach diesem "Overshoot" müssen wir der Atmosphäre Kohlenstoff entziehen, um uns auf 1,5 Grad einzupendeln – man spricht hier also von Negativemissionen.
STANDARD: Sehen Sie Strategien, um die Ziele ökonomisch und sozial vertretbar umzusetzen?
Brad: Den Energiesektor kann man im Vergleich zu anderen Bereichen wie der Landwirtschaft noch relativ einfach umbauen. Es braucht aber massive Investitionen. Bestehende administrative Hindernisse, etwa bei Genehmigungsverfahren, müssen abgebaut werden. Auch im Verkehrssektor müsste es viel schneller gehen, auch wenn der EU-Beschluss zum Ende der Verbrennungsmotoren bis 2035 ein positiver Ansatz ist. Wichtige Maßnahmen wären die Aufhebung des Steuerprivilegs für Diesel, schwere Autos wie SUVs sowie Firmenflotten und eine Besteuerung von Kerosin bei gleichzeitigem Ausbau des öffentlichen Verkehrs.
STANDARD: Ist die Energiekrise eher Hemmschuh oder Beschleuniger der Energiewende?
Brad: Der Klimawandel ist vor allem ein Verteilungsproblem. Das sehen wir auch jetzt bei den Energiepreisen. Ja, es besteht nun eine Motivation, den Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu beschleunigen. Die Investitionszahlen nehmen zu. Gleichzeitig sehen wir aber auch, wie die fossile Industrie die Verunsicherung nutzt, um Pipelinenetze und andere Infrastrukturen intensiv auszubauen. Das bindet Investitionen und Ressourcen über Jahrzehnte und muss dringend beendet werden. Es sind Regierungen, die diese Projekte genehmigen und vorantreiben. Angesichts der Klimaziele ist das vorsätzliches Versagen.
STANDARD: Die Fossilindustrie lukriert hohe staatliche Subventionen und steckt gleichzeitig enorme Mittel in Kampagnen, die die Energiewende bremsen. Wie kommt man da heraus?
Brad: Zumindest in ihren Inszenierungen wollen die Konzerne Teil der Lösung sein. Sie verweisen beispielsweise auf Technologien zur Abscheidung von Kohlenstoff, der dann unterirdisch gespeichert werden soll – sogenanntes Carbon Capture and Storage (CCS). Shell betreibt in den Niederlanden etwa eine große Pilotanlage. Damit möchte man das eigene Geschäftsfeld aber auch absichern.
STANDARD: Über CCS wird seit langem gesprochen. Die Forschung sagt, die Technologie ist einsetzbar. Wann kommt sie in der Praxis an?
Brad: Es geht um die zusätzlichen Kosten, die dabei anfallen – aber auch um soziale Proteste, die dem großflächigen Einsatz bisher Grenzen gesetzt haben. Erst wenn der CO2-Preis steigt, wird die Technologie für die Unternehmen attraktiver werden. In die Klimamodellierungen hat CCS schon vor mehr als einem Jahrzehnt Einzug gehalten. Dann wurde es still um die Technologie, doch nun ist sie politisch offenbar wieder gewollt und wird als notwendig betrachtet. Im Moment ist da sehr viel im Entstehen.
STANDARD: Was sind die politischen Mechanismen, die zur Verschleppung wirksamer Klimamaßnahmen führen?
Brad: Die Argumente der Verzögerer sind andere geworden. Während das totale Leugnen des Klimawandels seltener geworden ist, versucht man nun das Ausmaß oder die nötigen Maßnahmen zu relativieren. Oder man sagt, es sei ohnehin zu spät. Auf der anderen Seite gibt es einen starken Technologieoptimismus. Es besteht die Vorstellung, dass wir wie bisher weitermachen können, wenn wir einfach die schmutzigen Industrieanlagen gegen grüne austauschen. Es besteht aber ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die nötige Emissionsreduzierung mit dem gewohnten Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum nicht zusammengeht. Eine weitere Verschleppungstaktik ist die Übertragung der Verantwortung auf eine individuelle Ebene. Jeder Einzelne wird in die Pflicht genommen. Wir können als Individuen aber nur das ändern, was in unserer Kontrolle liegt.
STANDARD: Sie forschen in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt an der Bedeutung der Negativemissionen-Technologien in der Klimapolitik. Was ist Ihr Ansatz dabei?
Brad: Trägt die Erwartung, dass mit zukünftigen Technologien Kohlenstoff in großem Maßstab aus der Atmosphäre entfernt werden kann, dazu bei, dass konkrete Klimaschutzmaßnahmen heute weniger dringend erscheinen? Entsteht dadurch eine Verzögerung? Zu diesen Fragen gibt es eine theoretische sozialwissenschaftliche Debatte, aber noch keine empirischen Untersuchungen. Ich sehe mir an, ob man dieses Phänomen tatsächlich auch beobachten kann. Dabei analysiere ich institutionelle Gegebenheiten, die Strategien der Akteure und die einhergehenden soziotechnischen Vorstellungen. Ich gehe der Frage nach, von wem und in welcher Weise die Technologien in die Klimadebatte integriert werden. Und ich verfolge, ob es in den Entscheidungsprozessen Anzeichen gibt, dass tatsächlich ein Verzögerungseffekt auf diese Art entsteht.
STANDARD: Ein positives Szenario, bitte: Was wäre für Sie ein gutes Zusammenspiel von technologischen Maßnahmen und Lebensstiländerungen bei der Lösung des Klimaproblems?
Brad: In einem Best-Case-Szenario haben wir eine Politik, die den Mut hat, klimaschädliche Technologien und Praktiken möglichst rasch auslaufen zu lassen. Gleichzeitig ermöglicht sie massive Investitionen in Infrastrukturen, die neue Lebensweisen ermöglichen. Ein einfaches Beispiel wäre die Modernisierung und der massive Ausbau des Schienennetzes als komfortable Alternative zum Flugverkehr. Infrastrukturen sind formgebend für individuelles Verhalten. Technologie und Lebensstil sind keine getrennten Sphären, sondern eng verzahnt. (Alois Pumhösel, 20.11.2022)
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