Sonntag, 20. November 2022

Was ist dran an den Argumenten der "Letzten Generation"?

 Süddeutsche Zeitung  hier  17. November 2022, Von Benjamin von Brackel

Klimaforschung

Alarmistisch, Panikmache, Schwarzmalerei: Sind Klimaaktivisten zu pessimistisch, wie ihnen neulich auch Markus Lanz vorgeworfen hat? Ein Faktencheck.

Eines haben die Klimaaktivisten von der "Letzten Generation" schon geschafft - dass die Republik über sie spricht. Ein Blick auf die Zeitungs- und Zeitschriftentitel des vergangenen Wochenendes: "Protest oder Terror?" (Stern), "Die Klimajugend wird gefährlich" (Neue Zürcher Zeitung), "Klimabewegung am Abgrund" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Während die Union härtere Strafen für die Aktionen der Klimaaktivisten fordert, bekommen diese auch Sympathiebekundungen, selbst von Ex-VW-Chef Herbert Diess. Meist dreht sich die Debatte um die Methoden der Aktivisten, weniger um deren Argumente. Die SZ hat deshalb sechs Kernaussagen von Carla Rochel geprüft, einer Sprecherin der "Letzten Generation", die vergangene Woche bei Markus Lanz saß.

"Was die Wissenschaftler sagen, ist, dass wir gerade auf irgendwas zwischen 2,5 und 4 Grad unterwegs sind."

Bereits heute hat sich die Welt um 1,1 bis 1,2 Grad Celsius seit Beginn der Industrialisierung erwärmt. Die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, dürfte tatsächlich kaum mehr möglich sein. Um das ambitioniertere der beiden Ziele des Pariser Klimavertrags noch zu erreichen, müssten die CO₂-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Jahr 2010 fallen, so der Weltklimarat IPCC. Allerdings geht der Trend in die andere Richtung: Bis zum Jahr 2030 könnten die Emissionen sogar um 10,6 Prozent höher liegen als im Jahr 2010. Das geht aus einem aktuellen Bericht des UN-Klimasekretariats zu den nationalen Klimaschutzzielen der Staaten hervor. Demnach steuere die Welt auf 2,5 Grad Celsius zum Ende des Jahrhunderts zu, angenommen die Staaten erfüllten ihre abgegebenen Versprechen.

Die gute Nachricht: Klimaforscher halten es inzwischen für unwahrscheinlich, dass sich die Welt um vier oder fünf Grad erwärmen wird - solch pessimistische Szenarien galten noch bis vor wenigen Jahren als durchaus plausibel. Ganz ausschließen lasse sich eine Erderwärmung um bis zu vier Grad Celsius allerdings nicht. Der Grund: Unsicherheiten im Klimasystem.

"Was wir sehen, ist, dass wir in einen Klimakollaps rasen werden. Dass alles um uns herum kollabieren wird. Zwei bis drei Jahre ist das Zeitfenster, was wir haben."

Rochel bezieht sich auf den früheren Chefwissenschaftler der britischen Regierung Sir David King, der Anfang 2021 warnte: "Was wir in den nächsten drei bis vier Jahren tun, wird, glaube ich, die Zukunft der Menschheit bestimmen." King sieht die Erwärmung der Welt um 1,5 Grad Celsius als die Schwelle an, ab der "unkontrollierbare Veränderungen in der Umwelt" drohen - etwa das Abschmelzen der Eismassen auf Grönland und in der Antarktis.

Beim derzeitigen Treibhausgas-Ausstoß wäre dem "Global Carbon Budget 2022" zufolge schon in neun Jahren das Kohlenstoffbudget aufgebraucht, das noch zur Verfügung steht, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. In den nächsten zwei, drei Jahren müsste es also zumindest eine Trendwende geben. "Wir können uns nicht eine weitere Dekade mit steigenden Emissionen leisten", sagt der Nachhaltigkeitsforscher Jan Christoph Minx vom Berliner Forschungsinstitut MCC. "Sonst stehen wir in zehn Jahren beim Zwei-Grad-Ziel dort, wo wir jetzt beim 1,5-Grad-Ziel stehen. Das wollen wir vor allem auch unseren Kindern und Kindeskindern nicht zumuten."

Dem Weltklimarat IPCC zufolge macht es einen großen Unterschied, ob sich die Welt um 1,5 Grad oder zwei Grad Celsius erwärmen wird - dieses halbe Grad könnte zum Beispiel darüber entscheiden, ob praktisch alle tropischen Korallenriffe auf der Welt absterben oder 10 bis 30 Prozent noch erhalten bleiben. Aber selbst nach Überschreiten der Zwei-Grad-Schwelle wird die Welt nicht untergehen - wenngleich mehr und mehr geprägt sein von Extremwetter, steigendem Meeresspiegel und einem rapiden Artensterben samt dem Verlust wichtiger Ökosysteme.

"Es passiert zu wenig dafür, dass wir die Klimakipppunkte nicht erreichen."

Der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC listet 15 mögliche Kandidaten von Kippelementen auf. Deren Überschreiten könnte irreversible Veränderungen im Erdsystem wie das Abschmelzen des westantarktischen Eisschildes bewirken. Einen kompletten Kollaps halten die Autoren zwar für relativ unwahrscheinlich, sollte die Erderwärmung auf 1,5 oder zwei Grad Celsius begrenzt werden. Sie können ihn aber auch nicht ausschließen.

Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2022 im Fachjournal Science kommt hingegen zum Ergebnis, dass bereits heute die globale Erwärmung so weit fortgeschritten sei, dass der untere mögliche Eintrittsbereich von fünf Kipppunkten erreicht sei. Das gelte etwa für die Teile der Eisschilde der Westantarktis (ein bis drei Grad Celsius) sowie Grönlands (0,8 bis drei Grad Celsius). Aber auch tropische Korallenriffe, Permafrostböden oder die Konvektionsströmung in der Labradorsee vor Grönland könnten laut der Studie schon über ihren Kipppunkt hinaus sein. Viele der Einschätzungen sind mit großer Unsicherheit behaftet. Klar ist aber: Je weiter sich die Welt aus dem Bereich von 1,5 bis zwei Grad Celsius hinaus entfernt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Kipppunkte überschritten werden.

"Was mir persönlich wirklich unglaublich Angst macht, ist, dass wir 3,7 Milliarden Menschen in Todeszonen stecken. In Zonen rund um den Äquator, wo es einfach zu heiß ist, dass sie dort leben können. Diese Menschen werden entweder fliehen. Oder, wenn sie nicht fliehen können, dann zwingen wir sie dazu, sich bei lebensbedrohlichen Bedingungen gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Und ich weiß nicht, wie es unsere Demokratie aushalten wird, wenn so viele Menschen hierher kommen."

Auf weniger als einem Prozent der Landoberfläche der Erde herrschen Durchschnittstemperaturen von über 29 Grad Celsius. Vorwiegend in der Sahara. Berechnungen von Wissenschaftlern um Chi Xu von der Universität Nanjing aus dem Jahr 2020 zufolge könnte sich der Anteil dieser lebensfeindlichen Zonen im Zuge des Klimawandels dramatisch ausweiten: auf bis zu 29 Prozent der Landoberfläche der Erde bis zum Jahr 2070.

Allerdings kommt es stark darauf an, wie sich die CO₂-Emissionen entwickeln: Steigen sie weiter wie bisher oder fallen sie so weit, dass sich die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius begrenzen lässt? Je nach Erderwärmung und Bevölkerungsentwicklung könnten 1,5 bis 3,5 Milliarden Menschen in jenen Zonen leben - vorrangig in den Tropen. Das, so die PNAS-Studie, könnte Migrationswellen auslösen. Allerdings ist es den Autoren zufolge "unmöglich, das Ausmaß der klimagetriebenen Umverteilung der menschlichen Bevölkerung abzusehen". Das hänge auch von der Fähigkeit der Menschen ab, sich an die Klimabedingungen anzupassen.

"2050 werden wir zwei Drittel unserer Ernten einbüßen auf der Welt."

Der Bericht des Weltklimarats geht davon aus, dass Ernteerträge im Laufe des 21. Jahrhunderts sinken werden - um rund ein Prozent pro Jahrzehnt. "Bei den durchschnittlichen Ernteerträgen in der Welt sehen wir selbst bei drastisch steigenden Temperaturen bis 2050 keine dramatischen Verluste im langjährigen globalen Mittel", sagt der Agrarökonom Hermann Lotze-Campen vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). "Sehr wohl steigt aber das Risiko regionaler Missernten, und das ist hoch brisant, wenn dies zum Beispiel Kleinbauern in Afrika trifft."

Fazit: Auch wenn einige Aussagen zugespitzt, zu pauschal oder ungenau sein mögen, so folgen sie in ihrer Tendenz durchaus den Erkenntnissen der Klimaforschung.

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