Sonntag, 24. Oktober 2021

Buchvorstellung: Die Kunst des Aufhörens

 Der Freitag hier, Auszüge in blau

Welzer stellt fest, dass unsere Kultur kein Konzept vom Aufhören hat: Sie baut Autobahnen für Zukünfte, in denen es keine Autos mehr gibt; sie versucht, Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches weiterhin falsch ist

Die Masse der von Menschen hergestellten Objekte hat sich seit 1900 etwa alle 20 Jahre verdoppelt. Damals betrug sie etwa drei Prozent der Biomasse, drei Prozent also alles dessen, was lebt. Im Jahr 2020 hat die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. usf. – die Biomasse erstmals übertroffen. Die Biomasse aller Wildtiere ist in den letzten 50 Jahren dagegen um mehr als vier Fünftel geschrumpft. Ein atemberaubender Vorgang: Während die Biomasse durch Entwaldung und Zerstörung von Böden und Meeren und Artensterben weiter sinkt, wächst die menschengemachte Masse immer schneller an. So berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom israelischen Weizmann-Institut.

Man hat versucht, diesen Vorgang dadurch zu veranschaulichen, dass jede Woche für jeden Menschen auf der Welt Produkte geschaffen werden, die seinem Körpergewicht entsprechen.
52 Mal im Jahr kommt das Äquivalent von einem selbst zur toten Masse dazu. Das ist ziemlich gruselig, scheint mir, wobei betont werden muss, dass diese 52-mal-ich-Produktmenge aus Substanzen besteht, die den lebendigen Böden, den Wäldern, den Meeren und Flüssen entnommen werden – woanders können sie ja nicht herkommen. Mit anderen Worten: Die Welt wird in immer noch wachsender Geschwindigkeit von einer natürlichen in eine künstliche oder besser: von einer lebendigen in eine tote umgewandelt. Hergestelltes schlägt Biomasse. Totes schlägt Lebendiges........

Was Tomasello sich nicht fragt: Was, wenn die kulturelle Entwicklung eine falsche Richtung eingeschlagen hat, wenn sie nicht lebensdienlich war? Dann geht das Ganze ein paar Generationen so weiter, und da die Welt, in die die jeweils Nächsten hineingeboren werden, »ihre« Welt ist, die einfach so ist, wie sie sie kennenlernen, bleibt natürlich lange Zeit unerkennbar, wenn die Entwicklungsrichtung ohne Zukunft ist. Denn die Kultur, in die man hineinwächst, ist nichts Äußerliches – sie sitzt nicht nur in unseren Infrastrukturen und Institutionen, in unserem Grundgesetz, unseren Lehrplänen und Verkehrsregeln, sondern in unseren Gewohnheiten, in unseren Wahrnehmungen und Deutungen, in unserer Psyche, unserem Selbst. Wir sind ja nicht nur Gestalterinnen und Gestalter dieser Lebensform, sondern gleichzeitig von ihr gestaltet, und diese Gestaltung erfolgt nicht bewusst und absichtsvoll, sondern durch die Praxis.

Zum Beispiel durch die, dass man in modernen Hyperkonsumgesellschaften alles immer und immer alles haben kann. Das scheint uns ganz selbstverständlich, und nur wenn es durch eine Havarie wie der im Suezkanal zu »Engpässen« kommt, wird einem gelegentlich klar, dass all das Zeug in den Einkaufszentren nicht einfach »da«, sondern irgendwo hergekommen ist. Unser Kulturmodell blendet die Frage, wo das alles herkommt, systematisch aus. Das ist das kulturell Unbewusste, und daher sind wir alle, als Mitglieder dieser Kultur, gut durchtrainierte Vergessenskünstler – denn wenn wir so ein schönes neues iPhone in Händen halten, interessiert uns die Frage nach seiner höchst vielfältigen und komplexen Herkunft durchaus nicht. Wir kommen nicht mal drauf, uns für diese Frage zu interessieren, so selbstverständlich ist Verfügbarkeit für uns.....

Deswegen ist es so schwer, sich vorzustellen, dass die Kultur, der man angehört, eine »falsche« Richtung eingeschlagen haben könnte. Diese Kultur ist ja für jeden von uns immer schon »da«, eine Selbstverständlichkeit, so wie für einen Fisch das Wasser. Aber vielleicht kann man so viel sagen: Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss im Irrtum sein. Das wäre auch menschheitsgeschichtlich gar nichts Neues. Wir haben massenmörderische Kulturen gesehen, wahnhafte und solche, die ihr kulturelles Gepäck in Lebensräume getragen haben, wo es nicht hinpasste. Oder die einen Weg eingeschlagen haben, der ins Desaster und in die Selbstabschaffung führte.

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