Dienstag, 19. Oktober 2021

Für immer verloren

Süddeutsche Zeitung hier Kommentar von Tina Baier

Hoffen, dass es mit dem Aussterben von Tieren und Pflanzen nicht so schlimm kommt? Erst reagieren, wenn die Konsequenzen am eigenen Leib spürbar sind? Den Fehler kennt man aus der Klimakrise. Doch beim Artensterben hätte er weit gravierendere Folgen.

Jedes Eichhörnchen, jeder Igel und jeder Zugvogel kennt das Prinzip der Vorsorge: Wer jetzt im Herbst keine Vorräte anlegt, sich keine Speckschicht anfrisst oder nicht rechtzeitig in wärmere Gefilde aufbricht, bekommt im Winter ein Problem.

Menschen, denen es in der Gegenwart gut geht, tun sich dagegen erstaunlich schwer damit vorzusorgen. Vor allem dann, wenn das irgendwie mit Einschränkungen oder gar Verzicht verbunden wäre. Das war beim Klimawandel so, bei dem noch vor zwanzig Jahren kaum jemand Handlungsbedarf sah. Damals konnte oder wollte man sich nicht ausmalen, was die Erwärmung der Erde anrichten würde. Jetzt wiederholt sich das Ganze beim weltweiten Artensterben. Es ist zum Verzweifeln.

Auf der Weltnaturkonferenz im chinesischen wurde in den vergangenen Tagen immer wieder betont, wie wichtig es wäre, den Schwund von Tieren und Pflanzen innerhalb der kommenden zehn Jahre wenigstens zu bremsen. Ob die Appelle etwas nützen, ist fraglich: Noch hat das weltweite Artensterben auf die meisten Menschen keine Auswirkungen.

Homo sapiens? Der Mensch überfischt die Meere, betoniert das Land und überdüngt den Boden

Die Fehler, die schon beim Klimawandel gemacht wurden - hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, und erst reagieren, wenn die Konsequenzen am eigenen Leib spürbar sind -, dürfen sich beim Artensterben auf keinen Fall wiederholen. Wenn nämlich der Punkt erreicht ist, an dem sich der Schwund von Tieren und Pflanzen derart drastisch bemerkbar macht wie der Klimawandel vor wenigen Monaten durch die Hochwasserkatastrophe in Deutschland, ist es definitiv zu spät.

Zwischen beiden Krisen gibt es einen Unterschied: Der Klimawandel lässt sich in gewisser Weise rückgängig machen, das Artensterben nicht. Während die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre wieder sinken könnte, wenn nichts mehr nachkommt, gilt beim Artensterben: Jedes Tier und jede Pflanze, die verschwindet, ist für immer verloren.

Eine Million von geschätzt etwa acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht, und zwar nicht in ferner Zukunft, sondern viele schon in den kommenden Jahrzehnten. Und die Ursachen sind bekannt, alle haben mit dem Menschen zu tun: Die Spezies Homo sapiens überfischt die Meere und betoniert das Land zu. Sie überdüngt die Böden, belastet sie mit Pestiziden und vermüllt den Planeten mit Plastik, das sich sogar noch in den tiefsten Tiefen und höchsten Höhen nachweisen lässt. Trotzdem glauben viele immer noch, dass das alles sie selbst kaum angehe.

Ein fataler Irrtum. Den meisten Menschen, vor allem in den Industrienationen, ist offensichtlich nicht mehr bewusst, wie sehr sie von einer funktionierenden Natur abhängen. Von anderen Spezies, Tieren wie Pflanzen, die mit ihnen auf der Erde leben. Man sollte sich das schleunigst wieder klarmachen, denn der Artenschwund gefährdet Grundbedürfnisse: essen, trinken, atmen.

Weniger Artenschutz bedeutet: mehr Missernten, mehr Pandemien

Beispiel Ernährung: 75 Prozent aller Pflanzen, die Menschen essen, müssen von Tieren bestäubt werden. Die meisten Bestäuber sind Insekten, deren Schwund auch in Deutschland längst wissenschaftlich belegt ist. Auch dass es irgendwann keine Fische mehr gibt, wenn ständig mehr von ihnen aus den Meeren herausgeholt werden als nachwachsen können, ist nur logisch.

Zugegeben: Das meiste darüber, wie die Menschen von der Vielfalt anderer Arten abhängen, ist so komplex, dass es zum Teil auch noch nicht ganz verstanden ist. Dass das Artensterben weniger ernst genommen wird als der Klimawandel, hat auch damit zu tun, dass die Kausalitäten weniger anschaulich und eindeutig sind. Zudem gibt es anders als für die Erderwärmung nicht nur eine Ursache - Treibhausgase -, sondern viele verschiedene.

Klar ist aber, dass Ökosysteme wie zum Beispiel ein Wald (der Sauerstoff zum Atmen produziert) oder ein Boden (der Wasser filtert und reinigt, sodass man es trinken kann) umso stabiler sind, also umso zuverlässiger arbeiten, je mehr verschiedene Tiere und Pflanzen darin leben. Wenn Arten aus solchen funktionierenden Systemen wegfallen, breiten sich oft Schädlinge und Krankheitserreger aus. Für den Menschen bedeutet das: Die Gefahr von Missernten und Pandemien steigt.

Es braucht mehr Schutzgebiete - die Natur muss sich ausruhen können

Es ist aber gar nicht nötig, jedes Detail zu verstehen, um etwas gegen den Schwund unternehmen zu können. Man weiß auch so ziemlich genau, was zu tun wäre. Der Entwurf für ein neues Abkommen, das auf dem zweiten Teil der Weltnaturkonferenz im kommenden Frühjahr in Kunming unterzeichnet werden soll, ist gar nicht so schlecht: den Einsatz von Dünger halbieren, den von Pestiziden um zwei Drittel senken und die Plastikvermüllung stoppen. Vor allem aber: 30 Prozent des Festlandes und der Meere unter Schutz stellen. 
Es ist sogar ziemlich genau bekannt, wo genau diese Schutzgebiete liegen müssten, damit sie den größtmöglichen Effekt haben. Die Ausrede, man müsse erst noch mehr Wissen ansammeln, gilt nicht.

Mehr Schutzgebiete wären ein guter Anfang, weil Tiere und Pflanzen dort Rückzugsorte hätten, in denen sie sich vom Menschen ausruhen, unbehelligt ihren Nachwuchs großziehen und sich wieder vermehren könnten. Dafür braucht es allerdings Schutzgebiete, die den Namen auch verdienen. In Deutschland sind schon jetzt 45 Prozent von Nord- und Ostsee unter Schutz gestellt. Klingt gut, ist es aber nicht: In mehr als der Hälfte darf absurderweise ganz legal und in großem Stil gefischt und nach Öl gebohrt werden.

Mit derart faulen Tricks hat man gegen das Artensterben keine Chance. Wer es bekämpfen will, muss als Erstes damit aufhören, die Gefahr zu unterschätzen. Und dann akzeptieren: Ohne Verzicht in der Gegenwart wird sich der Schwund von Tieren und Pflanzen nicht stoppen lassen. Es würde sich lohnen.

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