Samstag, 23. Oktober 2021

"Verzicht, der neue Kampfbegriff"

hier  Essay von Kathrin Hartmann 
aus der Süddeutschen Zeitung

Je mehr die Klimakatastrophe sichtbar wird, desto schriller wird der Ton derer, die Raserei, Fleischkonsum und Billigflüge verteidigen. Wie kann das sein? Dabei liegt im Verzicht auch die Chance auf ein besseres Leben - für jeden.

Anfang des Jahres sorgte Saskia Esken für einen Eklat, ja, gar für eine "Kriegserklärung an einen Großteil des Volks". Das warf ihr zumindest die Zeitung Die Welt vor.
(Anmerkung: Die Welt  ist offizieller Medienpartner der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (kurz INSM genannt), einer Lobbyorganisation, die eine zentrale Rolle in der deutschen #Klimaschmutzlobby spielt. Ziel der Initiative ist es, die dringend notwendige Energie- und Verkehrswende zu verzögern (hier)). Oswald Metzger und Thomas Bareiß sind Mitglieder der INSM)
Ihr Vergehen: Die SPD-Vorsitzende hatte in einem Interview gesagt, dass wir "darüber nachdenken müssen, wie wir von manchem weniger haben können, ohne Lebensqualität zu verlieren, und manchmal welche dazugewinnen. Das gilt fürs Fahren, fürs Fliegen und auch fürs Fleisch". 

Das ist ein so wahrer wie harmloser Satz, denn dass all dies drastisch reduziert werden muss, um die Folgen der Klimakrise und des Artensterbens überhaupt nur eindämmen zu können, ist ja längst Konsens in der Wissenschaft und auch - zumindest in Teilen - der Gesellschaft. In den rechten Netzwerken aber kursierte schnell ein gefälschtes Esken-Zitat "Es wird Zeit, dass die Deutschen Verzicht lernen!" Dieser Satz, den sie so eben nie gesagt hat, wurde sodann im Wahlkampf von Politikern der CDU und FDP in den sozialen Medien fleißig geteilt.

"Verzicht" ist ein Wort, das im Wahlkampf und auch in den Monaten davor auffallend häufig fiel - immer negativ konnotiert, mit abschreckender Wirkung. "Verzichtsideologie führt nicht zum Ziel", sagte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. "Ich will nicht verzichten, und ich will auch nicht, dass andere verzichten müssen", erklärte FDP-Chef Christian Lindner. "Maßnahmen wie Tempolimit, Fleischverzicht oder Flugverbot müssen in der Mottenkiste bleiben", postulierte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Es müssten "nicht alle Engel werden", versprach Grünen-Chef Robert Habeck. Seine Partei gab sich große Mühe, etwaige Zumutungen möglichst dezent zu verpacken, um das Image einer Verzichts- oder Verbotspartei endlich loszuwerden. Es haftet den Grünen an, seit sie 2013 vorschlugen, Kantinen sollten an einem Tag pro Woche mittags kein Fleisch anbieten.

Klimapolitik sei gleichbedeutend mit Freiheitsverlust, persönlichen Einschränkungen und hohen Kosten - dieses Narrativ übernahmen auch viele Medien. In den Talkshows konzentrierten sich die Diskussionen zum Klimaschutz gerne darauf. Am Ende wirkte es fast, als gehe es nur darum, wer den Wählerinnen und Wählern am wenigsten Einschränkungen aufbürden möchte. Nun wird nicht einmal ein Tempolimit, das in allen anderen Ländern Europas längst gilt, umgesetzt werden. Die Autobahn bleibt ein Ort für Raser, obwohl man mit der einfach umsetzbaren Maßnahme den CO₂-Ausstoß um zwei Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr reduzieren könnte - etwa so viel, wie Inlandsflüge in Deutschland pro Jahr ausstoßen (die auch nicht zur Disposition stehen).

"Verzicht" - den Begriff kennen viele vor allem in einem religiösen Zusammenhang. In der Fastenzeit lässt man zur Seelenreinigung Süßigkeiten, Playstation, Alkohol, Kaffee oder Zigaretten weg, also liebgewonnene, aber überflüssige oder schlechte Gewohnheiten. Aber sind gesellschaftliche Veränderungen, die unser aller Lebensgrundlagen schützen, wirklich als "Verzicht" zu betrachten? "Nichtinanspruchnahme von etwas, das einem zusteht; Aufgabe eines Wunsches", so lautet die Definition von "Verzicht". Stehen uns denn Dinge, deren Produktion und Nutzung zwangsläufig mit Leid und unumkehrbarer Zerstörung verbunden sind, überhaupt zu?

Verzicht ist ein "Unwort für das, worum es eigentlich geht", sagt Stephan Lessenich

"In unerträglichen Verhältnissen zu leben, darin permanent unerträgliche Effekte zu produzieren und es sich trotzdem schönzureden, ist eine intelligente Form des Selbstbetrugs", sagt Stephan Lessenich. In seinem Buch "Neben uns die Sintflut.
Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis" beschreibt der Soziologe, wie der westliche Wohlstand grundsätzlich auf Rechnung anderer geht, vornehmlich der Länder des Südens, weil die ökologischen und sozialen Kosten von Wirtschaftswachstum und Konsum systematisch dorthin und in die Zukunft abgewälzt werden. 

"Verzicht", folgert der Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, "ist ein Unwort für das, worum es eigentlich geht." Der Begriff werde ausschließlich individuell gedeutet, nicht kollektiv, er werde nur auf den Konsum bezogen, nie auf die Produktion. "Dabei können wir als Gesellschaft einen Konsens darüber finden, was wir wirklich brauchen und was nicht - und worauf wir gemeinsam verzichten wollen", sagt der Soziologe. "Zum Beispiel darauf, Menschen auszubeuten, Natur zu zerstören und Leben zu vernichten - dafür können wir demokratische Regeln aufstellen."

Ich esse seit mehr als 30 Jahren kein Fleisch. Ich habe das nie als Entbehrung betrachtet, ich wollte einfach kein Teil eines Systems sein, das Tiere quält und umbringt. Ich weiß natürlich, dass mein individueller Verzicht daran nichts ändert. Aber wir können uns gemeinsam für eine Landwirtschaft entscheiden, die Bäuerinnen und Bauern genauso schützt wie Klima, Wasser, Böden und Natur. Eine, die Tiere nicht mehr ausbeutet und ihnen Leid zufügt, und die ökologische und gesunde Lebensmittel für alle produziert, nicht nur für jene mit dickem Geldbeutel. Ich fahre so gut wie nie Auto. Auch das empfinde ich nicht als Verzicht, sondern freue mich über die damit verbundene Unabhängigkeit. Aber das geht nur, weil ich, seit ich vom Land in die Stadt gezogen bin, mit Bus, Bahn und Fahrrad überall hinkomme.

Verzicht muss man sich übrigens oft auch leisten können. Gerade für Menschen mit niedrigem Einkommen gehört es zum Alltag, gezwungenermaßen auf viele Dinge zu verzichten, die andere so im Überfluss haben, dass sie den freiwilligen Verzicht darauf irgendwann auch als Gewinn von Lebensqualität empfinden können. Wenn, wie im Moment, die Energiepreise steigen, wird der unfreiwillige Verzicht dieser Menschen zur Not. Deshalb finde ich es problematisch, wenn Konsumverzicht als eine Frage der persönlichen Moral betrachtet wird. Denn wenn die - meist wohlhabende - vermeintlich "gute" Konsumentin mit dem Finger auf den vermeintlich "schlechten" - oft armen - Konsumenten zeigt, vertieft das allenfalls die gesellschaftlich Spaltung.

Gemeinsam könnten wir uns für eine Verkehrswende entscheiden, für ein gerechtes und gutes Gesundheits- und Bildungssystem, das niemanden zurücklässt, eine gute Daseinsvorsorge für alle. Für eine demokratische Wirtschaft und mehr bürgerliche Beteiligung. All das würde die Lebensverhältnisse für alle gerechter und besser machen und zugleich die systemischen Ursachen der allumfassenden Krise bekämpfen. Für eine solche ökologische und soziale Transformation ließen sich sogar gesellschaftliche Mehrheiten finden. Das zeigen ja die wachsenden Proteste für mehr Klima- und Artenschutz, für eine Landwirtschafts- und Verkehrswende, für bezahlbares Wohnen und eine bessere Pflege. Das Tempolimit befürworten in aktuellen Umfragen zwei Drittel der Deutschen. Einerseits.

Andererseits entschieden sich junge Wählerinnen und Wähler trotzdem nicht, wie erwartet, aus Sorge um das Klima mit großer Mehrheit für die Grünen. Viele von denen, die zum ersten Mal wählten, machten ihr Kreuz bei der FDP. Jene Partei, die persönliche Freiheit und finanziellen Wohlstand über alles stellt, erlebt gerade ein unverhofftes Comeback. Die Panikmache vor Verzicht hat offenbar verfangen. "Wir haben es", sagt Lessenich, mit einer "kollektiven Umdeutungstheorie" zu tun, gespeist aus einer "unbestimmten Mischung aus Bequemlichkeit, Unwohlsein, Sorglosigkeit und Überforderung, Gleichgültigkeit und Angst." Deswegen gelänge es auch so gut, jene zu diskreditieren, die einen Wandel fordern, der wiederum eine Änderung der Lebensweise zur Folge hätte.

Je mehr Privilegien in Frage gestellt werden, desto schriller der Ton derer, die sie verteidigen

"Verzicht" ist deshalb auch ein politischer Kampfbegriff. Er wird von jenen genutzt, die vom Status quo profitieren und den Verlust ihrer Privilegien fürchten. Indem sie also eine "Verzichtsdebatte", eine "Umerziehungskultur" oder gar das Schreckensszenario einer "Ökodiktatur" heraufbeschwören, versuchen sie, eine Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen und ihr einzureden, dass diese die für sie schädlichen Partikularinteressen teilt. So gelingt den Besitzstandswahrenden eine bemerkenswerte Täter-Opfer-Umkehr: Klima- und Umweltschutz erscheinen dann nicht mehr als die Voraussetzung für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen und globalen Gerechtigkeit, sondern als Bedrohung für den Wohlstand, ja, als antidemokratische Gewaltherrschaft. In dieser Logik sind dann auch nicht mehr die SUVs, die unsere Städte verstopfen, eine Zumutung - sondern diejenigen, die eine echte Verkehrswende fordern, mit dem Ziel, unsere Städte grüner, gerechter und gesünder zu machen.

Je mehr Privilegien gesellschaftlich in Frage gestellt werden, je näher die klimatischen Einschläge rücken, je dringlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler also vor den Folgen der ökologischen Krise warnen und je weniger Zeit bleibt, zu handeln, desto schriller wird der Ton derer, die sie verteidigen und desto überzogener sind die Abwehrreaktionen. Das klingt dann etwa so wie in einem Kommentar in der FAZ mit der Überschrift "Nichts gegen das Auto": "Ein Bündnis aus Verbotsrhetorikern und Verzichtspredigern hat sich zusammengefunden, die den staatlichen Eingriff in die individuelle Bürgerfreiheit mit übergeordneten moralischen Zielen legitimieren. Um die Gattung zu retten, wird das einzelne Individuum bevormundet, erzogen und am Ende entmachtet."

"Verbot" ist im Klimadiskurs die Zwillingsschwester des Reizwortes "Verzicht". Einmal erklärte der FDP-Politiker Andreas Pinkwart in Anne Wills Talkshow, warum er Billigflüge und dergleichen "nicht verbieten" wolle: "Da ist vielleicht auch die Rentnerin dabei, die zum ersten Mal eine Kreuzfahrt macht oder fliegt, oder ein Student, der mal in den Süden fliegt." Konservative und liberale Politikerinnen und Politiker entdecken erstaunlicherweise nur dann ihr Herz für Arme, wenn sie das vermeintliche Recht auf (Billig-)Konsum verteidigen. Für Umverteilung, höhere Löhne und Renten, die Abschaffung von Hartz IV und bezahlbare Mieten hingegen setzen sie sich nicht ein. So soll der Billigflug für den ausbeuterischen und schlecht bezahlten Job entschädigen.

Wer Veränderungen als Einschränkung begreift, sieht nicht, was alles möglich ist

All das dient aber nur dem Erhalt eines Systems, das uns zwingt, bereits heute auf das zu verzichten, was wir wirklich dringend brauchen. So ist der als Freiheit verbrämte Verzicht auf ein Tempolimit nicht nur eine Lizenz zur besinnungslosen Raserei (was, angesichts von rund 3000 Verkehrstoten im Jahr, schlimm genug ist). Er verhindert Veränderung, indem er eine autozentrierte Mobilität festschreibt und der Autoindustrie signalisiert, weiter auf zu große und zu schnelle Autos zu setzen, die - Elektro-Antrieb hin oder her - Ressourcen und Platz verschlingen werden. Wenn wir aber aufhören, Veränderungen als Einschränkung zu begreifen, dann wird unser Blick frei auf das, was alles möglich ist.

So war es ja auch zu Beginn der Corona-Pandemie: Unzählige Videos von autofreien Straßen wurden fasziniert in den sozialen Medien geteilt. Viele Menschen bewunderten den makellos blauen Himmel und hörten in der Stadt Vogelzwitschern zu einer Zeit, in der sonst der Feierabendverkehr lärmt. Dieser jäh verfügbare freie Raum machte ja nicht nur sichtbar, wie absurd es ist, dass sich die Städte und das Leben darin den Autos unterordnen sollen. Er führte an vielen Orten auch zu Veränderungen, die vorher undenkbar waren und bekämpft wurden. Ruckzuck wurden in vielen Städten Pop-up-Radwege eingerichtet. Autoverstopfte Metropolen wie Paris, London und Brüssel bauen ihre Zentren um, Bilder des verkehrsberuhigten Seine-Ufers in Paris gelten nun als Vorbild. Auf einmal war es selbst in München möglich, Parkplätze für die sogenannten Schanigärten frei zu machen. Ist das Verzicht? Will das ernsthaft wieder jemand gegen parkende Autos eintauschen? Ich glaube nicht.

Aber ich glaube, dass noch sehr viel mehr möglich ist. Ich sehe das an dem Ort, aus dem ich komme. Viele Jahre hatte ein Bürgerverein dafür gekämpft, dass die über Jahrzehnte stillgelegte Bahnstrecke von der bayerischen Kleinstadt Weißenhorn ins baden-württembergische Ulm wieder in Betrieb genommen wird. Seit acht Jahren nun fährt auf dieser Strecke stündlich eine S-Bahn in beide Richtungen. Zusätzlich fahren Ruf- und Linienbusse in alle Dörfer rund um Weißenhorn - mehrmals am Tag und sogar in meines! Eine solche Freiheit habe ich mir damals, als ich dort groß wurde, immer gewünscht. Und sie wäre an vielen anderen Orten in Deutschland möglich, wenn die 238 stillgelegten Bahnstrecken, die dorthin führen, wieder in Betrieb genommen würden. Gekostet hat dieser Anschluss zehn Millionen Euro. Hundert mal weniger als die umstrittene Isental-Autobahn in Bayern, die fast genauso lang ist wie die sanierte Bahnstrecke.

Jedes Mal, wenn ich jetzt dorthin fahre, ist das Renaissance-Städtchen noch schöner geworden. So schön, dass Touristen kommen. Es gibt hübsche Restaurants und Geschäfte und im Sommer ein Kulturfestival und ein Open-Air-Kino. Alle profitieren. Nichts wurde verboten. Niemand verzichtet. Nur das Auto, das lassen jetzt viele stehen.

ZUR PERSON: Kathrin Hartmann ist Buchautorin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Klimakrise und ihren Folgen. Zuletzt von ihr erschienen: "Grüner wird's nicht: Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen"



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