ARD hier Stand: 25.01.2023 Von Yasmin Appelhans, NDR
Nicht nur im Klimasystem, sondern auch im Klimaschutz gibt es Kipppunkte. Wissenschaftler erforschen, ob Straßenblockaden oder Proteste Wendepunkte in der Bekämpfung der Klimakrise sein können.
Irgendwann, so erzählt es der Klimaforscher Tim Lenton von der Uni Exeter, hatte er genug davon, immer nur schlechte Nachrichten zu überbringen. Denn sein eigentliches Forschungsgebiet sind und waren die Kippelemente des Klimas. Also die kritischen Grenzen des Erdsystems, deren metaphorisches Umkippen dafür sorgt, dass sich das Klima oft unumkehrbar, radikal ändert.
Ohnmacht in Handlungsfähigkeit verwandeln
Lenton begann also, sich damit auseinanderzusetzen, wie wir als Gesellschaft mit der komplexen Bedrohung durch den Klimawandel umgehen können. Und wie die Ohnmacht, die manche Menschen angesichts der Klimakrise empfinden, wieder in Handlungsfähigkeit verwandelt werden kann.
Durch seine eigene Urgroßtante wusste er, dass auch kleine Gruppen großes bewirken können. "Sie war im Gefängnis, weil sie eine der berühmten Suffragetten war. Sie wurde inhaftiert, weil sie verdächtigt wurde, am Brand des Teehauses in Kew Gardens beteiligt gewesen zu sein." Es waren auch ihre Verhaftung, ihr Hungerstreik und eine verhältnismäßig kleine Gruppe an Frauen, die mit ihrem teilweise auch gewaltsamen Eintreten für das Frauenwahlrecht schlussendlich die Gesellschaft nachhaltig verändert haben. Ein Kipppunkt mit globalen Auswirkungen.
Pop-Band macht E-Autos populär
Lenton begann also, sich auch wissenschaftlich mit den sogenannten sozialen Kipppunkten auseinanderzusetzen, die helfen könnten, die Klimakrise zu lösen. Solche Elemente gab es schon in der Vergangenheit, stellte er fest. So trug die Pop-Band a-ha maßgeblich dazu bei, dass in Norwegen Elektroautos schnell populär wurden und jetzt 90 Prozent Marktanteil haben. Einfach, indem sie mit anderen bekannten Personen die mediale Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme bei der Zulassung und Infrastruktur lenkten, die in der Folge schnell beseitigt wurden.
Kleine Veränderungen in der Besteuerung und in Subventionen im Strommarkt im Vereinigten Königreich führten dazu, dass sich Kohlestrom dort nicht mehr lohnt. Sie setzten eine ganze Kaskade in Gang. "Dann sind wir an einem unumkehrbaren Kipppunkt angelangt, und das Vereinigte Königreich wird auf keinen Fall zur Kohleverbrennung zurückkehren. Und zum Glück sind wir die los."
Bildung und Finanzmarkt als Kippelemente
Eine der ersten, die sich mit den sozialen Kipppunkten in der Klimakrise auseinandergesetzt hat, ist die Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto von der Universität Graz. Sie befragte im Jahr 2020 für eine Studie in der Fachzeitschrift PNAS Experten und Expertinnen zu solchen möglichen Kippelementen. "Die Frage war: Was könnten solche Elemente sein? Und ist es überhaupt möglich, die Klimaneutralität in den nächsten Jahren zu erreichen? Es war sehr positiv, dass fast alle befragten Experten gedacht haben, dass es möglich ist."
Die Experten schlugen Interventionen auf verschiedenen Gebieten vor. Zum Beispiel im Finanzsystem, sodass sich Investments in Projekte mit fossilen Brennstoffen nicht mehr lohnen. In Städten, indem dort klimafreundliches Bauen gefördert wird. Oder im Bildungssystem, indem klimabewusste Lebensweisen in den Unterrichtsstoff an Schulen integriert werden.
Zusätzlich, so Otto, habe sich in den Jahren nach der Studie gezeigt, dass auch die Bereiche "Gesundheit" und "Werbung" das Potential hätten, mit wenig Aufwand die Gesellschaft zu ändern. Denn die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie wichtig vielen Menschen ihre Gesundheit sei. Würden in der Kommunikation die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der Klimakrise stärker betont, könnte das Auswirkungen haben. Und auch ein Werbeverbot für Produkte, die fossile Brennstoffe nutzen, könnte zu einem Umdenken führen.
"FFF" und "Letzte Generation" als Auslöser?
Auch neuere Protestbewegungen haben das Potenzial zum Kipppunkt, meint Otto. In ihrer Studie wird unter dem Punkt Bildung auch explizit die Bewegung "Fridays for Future" erwähnt. Auch die Initiativen "Lützi bleibt" oder "Die Letzte Generation" könnten nach ihrer Einschätzung großflächig zum Umdenken führen. Gerade auch, wenn die Generation der heute noch jungen Menschen aus Schule, Ausbildung und Studium in Positionen mit mehr Entscheidungsgewalt kämen. Denn gerade diese jungen Menschen unterstützen die Proteste größtenteils.
"Ich unterstütze die Klimaaktivisten", sagt Otto. Man brauche neue Methoden, um mehr Druck auf die Politik auszuüben. Sie glaube, dass schon eine Wirkung erkennbar sei - in den vergangenen Wochen sei sehr viel passiert.
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