hier SwissInfo 23. März 2023
Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte befassen. Die Klage eines Schweizer Vereins könnte einen Präzedenzfall in Europa und weltweit schaffen, sagt die Juristin Corina Heri.
Am 29. März 2023 wird die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht nur einen, sondern gleich zwei klimarelevante Fälle öffentlich verhandeln. Angefangen mit "KlimaSeniorinnen" gegen die Schweiz.
Geklagt hat der in Zürich ansässige Verein "KlimaSeniorinnen" ,in dem sich vor allem "ältere Frauen" mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren und andere Klägerinnen zusammengeschlossen haben.
"Unabhängig von ihrem Ausgang lenken die Klage der Schweizer Seniorinnen
und damit verbundene Fälle die Aufmerksamkeit auf das sehr reale Risiko,
das der Klimawandel für die Menschenrechte darstellt."
Vor dem EGMR berufen sie sich auf die schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf das menschliche Leben und die Gesundheit. Konkret prangern sie die Verletzung mehrerer Rechte an, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sind. Denn als ältere Frauen seien sie besonders anfällig für die Auswirkungen extremer Hitze.
Diese Aktion folgt auf einen landesweiten Prozess, in dem eine ehrgeizigere Klimapolitik der Schweiz gefordert wird, besonders bei der Reduzierung der Treibhausgase im Einklang mit den im Pariser Abkommen festgelegten Zielen.
Es hat den Anschein, dass der Gerichtshof den Fall der "KlimaSeniorinnen" (zusammen mit zwei anderen) nutzen wird, um klare und einheitliche Standards für den Klimawandel zu definieren, die in künftigen Urteilen angewendet werden sollen.
Die Verfahren sind komplex: Zusammengenommen betreffen diese Klimaklagen 33 Mitgliedstaaten des Europarats und stellen etablierte Praktiken auf unterschiedliche Weise in Frage.
Die Klimaklage der "KlimaSeniorinnen" umfasst auch eine ungewöhnlich grosse Anzahl von Drittparteien-Interventionen: von Regierungen, Anwältinnen, Klimawissenschaftlern, Nichtregierungsorganisationen und anderen interessierten Parteien. Einige der Einschätzungen, die in diesen 23 Papieren enthalten sind, werden während der Anhörung mündlich vorgetragen.
Was ist zu erwarten?
Es ist schwierig, Vorhersagen darüber zu treffen, wie der Gerichtshof im Fall der "KlimaSeniorinnen" entscheiden wird. Mehrere Szenarien sind denkbar, angefangen bei der Zulässigkeit der Klage.
Die Schweizer Regierung hält die Klage für unzulässig, da es sich um einen Fall von öffentlichem Interesse handle (eine verbotene "actio popularis", wie es im Jargon des Gerichtshofs heisst). Mit anderen Worten: Sie ist der Ansicht, dass die Rechte der Klägerinnen nicht ausreichend beeinträchtigt wurden, um ein gerichtliches Vorgehen zu rechtfertigen.
Sollte der Gerichtshof zustimmen, könnte sein Urteil Auswirkungen auf andere Menschenrechtsbemühungen haben. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die schlimmsten Risiken des Klimawandels noch abgewendet werden können.
Dies würde nicht nur künftige Klagen in Strassburg beeinflussen, sondern könnte auch andere nationale und internationale Gerichte zu ähnlich restriktiven Ansätzen inspirieren.
Es ist jedoch durchaus möglich, dass der Gerichtshof diese Klage für zulässig erklärt. In diesem Fall wird er prüfen, ob die Untätigkeit der Schweiz im Klimabereich das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) und das allgemeine Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, der auch die geistige und körperliche Unversehrtheit schützt) verletzt.
Zur Untermauerung ihrer Argumentation legten die "KlimaSeniorinnen" wissenschaftliche Beweise vor. Diese belegen die überhöhte Sterblichkeitsrate ihrer Bevölkerungsgruppe während Hitzewellen.
Es ist nicht bekannt, wie das Gericht auf dieses Argument reagieren wird. Obwohl der Gerichtshof in der Vergangenheit anerkannt hat, dass Umweltschäden gegen die Verpflichtungen eines Staats zum Schutz von Leben und Gesundheit verstossen können, hat er diese Rechtsprechung nie auf den Klimawandel angewandt. Dessen Auswirkungen sind global und dessen Ursachen werden mit einer Vielzahl von Beteiligten in Verbindung gebracht.
Konsequenzen für die Schweiz
Ein positiver Entscheid des Gerichtshofs würde die wachsende, wenn auch zögerliche Bereitschaft internationaler Menschenrechtsgremien stärken, das Thema Klimawandel aus einer Grundrechtperspektive zu betrachten. Das könnte dazu beitragen, einen Fahrplan für die Interaktion zwischen Menschenrechten, Wissenschaft und Klimarecht festzulegen.
Darüber hinaus könnte es die Erkenntnisse nationaler Gerichte in anderen Mitgliedstaaten (etwa in den Niederlanden und Belgien) bestätigen. Diese haben bereits entschieden, dass die Untätigkeit in Bezug auf den Klimawandel gegen die EMRK verstösst. So böte sich eine Alternative zum ungünstigen parallelen Ansatz im Rahmen des EU-Rechts.
Schliesslich könnte sie die derzeitigen Bemühungen um die Anerkennung des Rechts auf eine gesunde Umwelt als eigenständiges Recht im Rahmen der EMRK wiederbeleben.
Was könnten die Folgen für die Schweizer Klimapolitik sein, wenn die Klägerinnen ihren Fall gewinnen? In den meisten Fällen gibt der Gerichtshof nicht an, welche Massnahmen erforderlich sind, um seine Feststellungen im Rahmen der nationalen Gesetzgebung umzusetzen. Dies wird den Staaten selbst überlassen, die mit ihrem nationalen Kontext besser vertraut sind, auch wenn sie unter der Aufsicht des Europarats stehen.
Mit anderen Worten: Sollte der Gerichtshof zum Schluss kommen, dass die Klimapolitik der Schweiz die Rechte der Klägerinnen auf Leben und Gesundheit verletzt, wäre es höchstwahrscheinlich Sache der Schweizer Regierung, die entsprechenden Massnahmen zu bestimmen.
Die "KlimaSeniorinnen" forderten den Gerichtshof jedoch auf, spezifischere Bestimmungen zu erlassen. Sie argumentieren, dass die Schweiz verpflichtet werden sollte, einen legislativen und administrativen Rahmen zu schaffen, der eine Netto-Null-Bilanz der inländischen Emissionen bis 2050 gewährleistet.
Dies ist durchaus möglich: Der Gerichtshof kann diese Befugnis (gemäss Artikel 46 EMRK) ausüben, auch wenn er dies nur selten getan hat. Und einige nationale Gerichte haben bereits ähnliche Anordnungen in klimarelevanten Fällen erlassen.
Obwohl es für den Gerichtshof eher ungewöhnlich wäre, dies zu tun, haben ihm mehrere Dritte wissenschaftliche Gutachten zu diesem Thema vorgelegt, die ihn dennoch dazu veranlassen könnten.
Risiko des Klimawandels für die Menschenrechte
Selbst wenn der Gerichtshof zum Schluss kommen sollte, dass die Risiken für das Leben und die Gesundheit der Klägerinnen nicht gegen die EMRK verstossen, könnte die Klimaklage in anderer Hinsicht von Bedeutung sein.
So werden beispielsweise auch Verstösse gegen verfahrensrechtliche Menschenrechte geltend gemacht, da das Schweizer Rechtssystem den Klägerinnen keinen ausreichenden Zugang zur Justiz oder die Möglichkeit eines wirksamen Rechtsbehelfs garantiert habe (Artikel 6 und 13 EMRK). Die Klärung dieser Fragen könnte die Rolle der nationalen Gerichte in künftigen Klimafällen sowohl in der Schweiz als auch im Ausland stärken.
Zweitens würde die Zulassung von Klagen, die vom Schweizer Verein und nicht von ihren einzelnen Mitgliedern eingereicht werden, zu einer dringend erforderlichen Änderung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Gerichtshofs führen.
Die Möglichkeit, dass Umwelt-NGOs für ihre Mitglieder klagen, würde den Zugang zu Gerichten bei komplexen Fragen verbessern, die zu anspruchsvoll sind, um einzeln behandelt zu werden.
Unabhängig von ihrem Ausgang lenken die Klage der Schweizer Seniorinnen und damit verbundene Fälle die Aufmerksamkeit auf das sehr reale Risiko, das der Klimawandel für die Menschenrechte darstellt.
Sie werden wahrscheinlich auch weitere Rechtsstreitigkeiten beeinflussen und offene Fragen im neuen Bereich der Menschenrechte klären (etwa in Bezug auf Verursachung, akzeptables Risiko und territoriale Zuständigkeiten).
Insgesamt fordern diese Klagen den Gerichtshof auf, seine Rolle bei der Bewältigung von Problemen grossen Ausmasses zu überdenken. Der Gerichtshof muss nun die Weichen für die Zukunft stellen, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Er muss sich überlegen, ob er die Entscheide den nationalen Entscheidungsprozessen überlässt oder ob er die "mit dem Leben verbundenen" Menschenrechte energisch schützen will.
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