Internationaler Gerichtshof soll staatliche Pflichten für Klimaschutz begutachten
Die UN-Vollversammlung hat eine aus Sicht von Beobachtern wegweisende Klima-Resolution an ihr oberstes Gericht erlassen. Was müssen Staaten zum Schutz der Umwelt tun?
Ein Plenarsaal mit vielen Stühlen und Reihen, ganz vorne ist eine Bühne auf der ein Rednerpult steht, an dem ein Mann spricht. Darüber ist ein Logo zu erkennen, es zeigt eine Weltkugel umringt von Zweigen
UN-Generalsekretär António Guterres spricht bei einer Veranstaltung der UN-Generalversammlung im März 2023
"Sie schreiben gerade gemeinsam Geschichte", sagte UN-Generalsekretär António Guterres am Mittwoch nach Verabschiedung der Resolution in New York. Diese fordert den Internationalen Gerichtshof dazu auf, die rechtlichen Verpflichtungen der UN-Mitgliedstaaten im Kampf gegen den Klimawandelfestzulegen; zum Schutz des Weltklimas für derzeitige und künftige Generationen.
Bedrohte Inselstaaten im Fokus
Die in der UN-Vollversammlung einstimmig beschlossene Resolution betrifft die "Handlungen" von Staaten, die für die globale Erwärmung verantwortlich sind - sowie ihre "Verpflichtungen" gegenüber besonders betroffenen Staaten. Auf den Weg gebracht wurde sie von dem kleinen Pazifik-Inselstaat Vanuatu. Er und eine Kerngruppe von 18 Staaten - zu der Deutschland gehörte - machten sich für den Schritt stark.
Der Regierungschef von Vanuatu, Ishmael Kalsaku, sprach von einer "klaren und deutlichen Botschaft" für die Welt. Die "Völker der Vereinten Nationen" hätten beschlossen, "zusammenzuarbeiten, um die größte Herausforderung unserer Zeit, den Klimawandel, anzugehen".
Inselstaaten sind besonders von der Erderwärmung und damit einhergehenden Konsequenzen, wie dem steigenden Meeresspiegel und immer stärkeren Stürmen, betroffen. Der dort angerichtete Schaden solle daher im Fokus des Gutachtens stehen.
Weg frei für mutigeren Klimaschutz
Das Gutachten des höchsten UN-Gerichts wird in etwa zwei Jahren erwartet. Obwohl Verlautbarungen wie diese rechtlich nicht bindend sind, besitzen sie erhebliche juristische Bedeutung und werden oft von nationalen Gerichten berücksichtigt. Vanuatu und die anderen Unterstützerstaaten hoffen daher, dass das künftige IGH-Gutachten für einen erheblichen Schub bei der internationalen Klimapolitik sorgen wird.
Guterres sagte, auch wenn die Resolution nicht völkerrechtlich bindend sei, so werde eine Einschätzung des Gerichtshofes in Den Haag zur Klimagerechtigkeit doch "die Vollversammlung, die UNO und die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, die mutigeren und kraftvolleren Entscheidungen zum Klimaschutz zu treffen, die unsere Welt so dringend braucht".
Zeit hier Eine Analyse von Martin Klingst 29. März 2023,
Klimawandel: Vanuatus Sieg gegen die Großen
Für Klimawandelschäden wollen Industrienationen nur freiwillig aufkommen. Doch nun hat ein bedrohter Inselstaat dagegen ein internationales Rechtsgutachten erzwungen.
Es ist noch kein epochaler Umbruch, keine Revolution des internationalen Klimaschutzes, aber ein längst überfälliger, wichtiger Meilenstein: Am Mittwoch, dem 29. März 2023, hat eine überwältigende Mehrheit der Weltgemeinschaft im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York für eine Resolution des vom Untergang bedrohten pazifischen Inselstaats Vanuatu gestimmt. Damit wird erstmals die Klimakatastrophe vor das Weltgericht in Den Haag gebracht.
Auf Antrag Vanuatus wird der Internationale Gerichtshof (IGH) um ein Rechtsgutachten über die drängende Frage gebeten, welche Verpflichtungen sich für jene Nationen daraus ergeben, dass sie mit ihrem hohen Ausstoß von Treibhausgasen die Rechte und die Freiheit heutiger wie künftiger Generationen gefährden.
Konkret soll der IGH folgende drei Fragen klären, die im Diplomaten- und Juristendeutsch so lauten:
(1) Welche völkerrechtlichen Verpflichtungen haben die Staaten, um den Schutz des Klimasystems und anderer Teile der Umwelt vor anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen für die Staaten sowie für gegenwärtige und künftige Generationen sicherzustellen?
(2) Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus diesen Verpflichtungen für Staaten, wenn sie durch ihre Handlungen und Unterlassungen dem Klimasystem und anderen Teilen der Umwelt erheblichen Schaden zugefügt haben, und zwar in Bezug auf:
(a) Staaten, einschließlich insbesondere kleiner Inselentwicklungsstaaten, die aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres Entwicklungsstandes durch die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen geschädigt oder besonders betroffen oder für sie besonders anfällig sind?
(b) Völker und Einzelpersonen der gegenwärtigen und künftigen Generationen, die von den nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen betroffen sind?
Umweltsünder fürchten hohen Schadensersatz
Weit mehr als 100 der insgesamt 193 in den UN versammelten Staaten haben am Mittwoch für diesen Antrag gestimmt. Als das Ergebnis feststand, brandete heftiger Applaus auf, sprangen etliche Delegierte vor Erleichterung und Begeisterung von ihren Stühlen. Auch Deutschland hat am Ende mit Ja votiert, nach einer langen Hängepartie und mühsamen Verhandlungen, in denen an jeder Formulierung in der Resolution gefeilt worden war.
Vor einem guten Dreivierteljahr noch, im Juli 2022, hat die grüne Außenministerin Annalena Baerbock zu Besuch auf Palau, einem anderen bedrohten Inselstaat, vor Palmen und den Wellen des Pazifiks verkündet: "Keine Region leidet stärker unter der Klimakrise als Sie hier, und das, obwohl Ihr Anteil an den weltweiten Treibhausgasemissionen zu den geringsten gehört. Das ist eine eklatante Ungerechtigkeit." Und dann versprach sie, alles dafür zu tun, um "die Auswirkungen der Krise auf Ihr Leben zu minimieren und Ihnen dabei zu helfen, die bereits entstandenen und stellenweise unwiderruflichen Schäden zu bewältigen".
Doch als Vanuatu, unterstützt von einer Kerngruppe von 18 Ländern, zu denen unter anderem Uganda, Rumänien, Costa Rica und selbst Australien zählten, eine dreiseitige Resolution vorlegte, in der es genau darum geht, nämlich um rechtliche Verpflichtungen zur Schadensminimierung, wurde die Bundesregierung vorsichtig. Zu groß war die Angst, am Ende könnten die vom Klimawandel am meisten geschädigten Staaten gewaltige Rechnungen aufmachen und – unterstützt von der internationalen Gerichtsbarkeit – die größten Umweltsünder, zu denen auch die Bundesrepublik gehört, zur Kasse bitten.
Freiwillige Leistungen können nicht eingefordert werden
Loss and damage, auf Deutsch: Verluste und Schäden – das Thema sorgt schon seit Langem auf internationalen Klimakonferenzen für Streit. Statt rechtlich zur Zahlung von Schadenersatz oder anderer Reparationen verpflichtet zu werden, möchten Staaten wie Deutschland lieber freiwillig technische Hilfe bei der Bewältigung von Klimafolgen leisten. Hier eine Entsalzungsanlage und der Anbau von Mangroven zum Schutz gegen weitere Bodenerosionen, dort neue Häuser auf höher gelegenen Gebieten und das notwendige Instrumentarium für einen nachhaltigeren Fischfang. Diese Hilfe ist nicht nur rechtlich unverbindlich, sondern spült zugleich Geld in die Kassen deutscher Unternehmen.
Vor wenigen Wochen jedoch lenkte die Bundesregierung ein und unterstützte als sogenannte Mitunterzeichnerin den Antrag Vanuatus auf ein Rechtsgutachten des IGH. Allerdings erst nachdem der Außenminister von Vanuatu persönlich nach Berlin geflogen war, um Druck auf Deutschland auszuüben und dabei auch von Nichtregierungsorganisationen wie ClientEarth, World Youth for Climate Justice und dem European Center for Constitutional and Human Rights unterstützt worden war.
Vanuatu, ein von etwa 300.000 Menschen bewohntes Paradies aus 83 Inseln im Südpazifik, steht laut Weltrisikobericht auf Platz eins der durch Natur- und Umweltkatastrophen am meisten gefährdeten Staaten.
Auf 1,2 Milliarden US-Dollar hat Vanuatu seine Kosten geschätzt
Im März 2015 zerstörte Zyklon Pam mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 300 Stundenkilometern weite Teile der Inselwelt, die Hauptstadt Port Vila lag in Trümmern. 2020 richtete ein weiterer Zyklon schwerste Verwüstungen an. Und erst vor wenigen Wochen fegten zwei neue Zyklone der Kategorie 4 im Abstand von nur zwei Tagen über Vanuatu. Die Regierung rief den Notstand aus, Vanuatus Klimaschutzminister Ralph Regenvanu schrieb in der britischen Tageszeitung The Guardian von einer "schrecklichen Spur der Zerstörung und des Verlusts von Menschenleben und Lebensgrundlagen". Die Leute "wachen auf und wissen nicht, wohin sie gehen sollen, und es fehlt ihnen das Nötigste zum Überleben".
Regenvanu fordert zu Recht, dass ein Ende der Ausweitung fossiler Brennstoffe "ein dringender erster Schritt" sei zur Begrenzung der im Pariser Übereinkommen festgelegten Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Die Konsequenzen des Klimawandels für Vanuatu: rasant steigender Meeresspiegel, geringere Fischbestände, Versalzung des Bodens, ausfallende Ernten, Land- und Trinkwasserverlust, Umsiedlungen, Verteilungskämpfe, Gewalt, Flucht ins Ausland.
Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass die Klimakrise rund um den Erdball schwere Konflikte anheizt und sie längst zu einer entscheidenden Frage der Sicherheit und des Weltfriedens geworden ist. Die Folgen verletzen tagtäglich grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Leben und Gesundheit, auf Ernährung und intaktes Trinkwasser, auf Bildung und einen sicheren Zufluchtsort. Und sie verstoßen gegen die internationale Verpflichtung, der Erderwärmung Einhalt zu bieten. Diese Rechte und Pflichten sind verbindlich festgeschrieben, zum Beispiel im UN-Rahmenabkommen über Klimaänderungen, dem Seerechtsübereinkommen oder der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Doch die großen Industriestaaten wollen sich für die von ihnen verursachten Schäden partout nicht in Haftung nehmen lassen. Helfen wollen sie nur aus freien Stücken. Aber freiwillige Leistungen sind halt so eine Sache, sie können nicht eingefordert und außerdem nach Gutdünken jederzeit wieder eingestellt werden. Vor Jahren schon haben die Industrienationen den ärmeren und am schwersten betroffenen Staaten 100 Milliarden US-Dollar versprochen, um sich zumindest halbwegs für die Klimakatastrophe zu wappnen. Auf 1,2 Milliarden US-Dollar hat Vanuatu Anfang dieses Jahres seine Kosten geschätzt.
Gutachten haben meist eine mittelbare Rechtswirkung
Eigentlich Peanuts. Aber nur wenig ist passiert. Viel zu wenig. Und viel zu wenig konsequent. Kein Wunder also, dass Inseln wie Vanuatu, aber auch Küstenstaaten wie Chile und Kolumbien jetzt internationale Gerichte anrufen und endlich wissen wollen, ob die permanente Verletzung der Menschenrechte nicht internationale staatliche Verpflichtungen zur Abhilfe und zum Schadenersatz nach sich zieht.
Um es gleich vorwegzunehmen: Es sind schwierige Fragen zu klären. Wer trägt in erster Linie Verantwortung? Und lässt sich bei so komplizierten Vorgängen eine lückenlose Kausalkette vom Verursacher zum Geschädigten schließen? Die Expertise der Haager Richter wird auch nicht über Nacht geschrieben, sondern wird mindestens ein, zwei Jahre brauchen. Außerdem: Ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag ist, wie das Wort schon sagt, ein Gutachten, also ohne unmittelbare Rechtsfolgen für die schlimmsten Klimasünder.
Und dennoch: Wie die Erfahrung mit derartigen Gutachten lehrt, bleiben sie nicht ohne mittelbare Rechtswirkung. Zumindest würde größere Rechtsklarheit geschaffen, in welchem Ausmaß internationale Verpflichtungen bestehen. Denn viele der Abkommen zum Schutz der Menschenrechte wurden zu einer Zeit ausgehandelt und geschlossen, als noch niemand an den Klimawandel und dessen Verheerungen dachte. Kurzum: Was die Haager Richterinnen und Richter feststellen, wird Folgen für die Auslegung von internationalen Abkommen, von Handelsverträgen und damit für den Menschenrechtsschutz haben. Der Veränderungsdruck auf Staaten, so die Organisation World's Youth for Climate Justice, würde wachsen und die betroffenen Menschen hätten es leichter, die verantwortlichen Regierungen vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen.
Das ist keine trockene akademische Debatte, keine Spielwiese für Juristen und bloßer Stoff für Doktorarbeiten. Das Anliegen Vanuatus und vieler anderer Staaten hat einen sehr konkreten, praktischen Kern: Es geht um Gerechtigkeit, um den längst überfälligen Ausgleich zwischen mächtigen und schwachen, zwischen für die Klimakrise verantwortlichen und nicht verantwortlichen Staaten. Und um die Vorherrschaft des Völkerrechts, auf das sich der Westen – zu Recht – gerade auch im Ukraine-Krieg beruft.
Es geht, wie Außenministerin Baerbock im Juli auf Palau sagte, um verbindliche Grundsätze, die "Verlässlichkeit, vertrauensvolle Beziehungen, gleichberechtigte Partnerschaften und die friedliche Beilegung von Konflikten" fördern. Diese Regel muss sich endlich auch im globalen Klimaschutz durchsetzen, ein erster Schritt ist mit der Resolution und dem Rechtsgutachten getan.
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