Mittwoch, 22. März 2023

Bilanz nach drei Jahren Tempo 100 in den Niederlanden

Eingebremst  hier  im Standard  Markus Hagspiel  16. März 2023

Bild links: kürzliche Tempolimit-Aktion in Ravensburg

Die Niederlande haben 2020 die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen tagsüber auf 100 km/h reduziert. Die Meinung der Menschen dazu hat sich in den Jahren geändert

Die Niederlande haben weltweit die höchste Fahrraddichte. 17 Millionen Einwohner besitzen 22 Millionen Fahrräder. Am 16. März 2020, also genau heute vor drei Jahren, haben sie zudem eines der niedrigsten Tempolimits in Europa eingeführt. Seither darf auf Autobahnen untertags nicht schneller als 100 Stundenkilometer gefahren werden. Es scheint, als ob die Fahrradnation das Autofahren weniger attraktiv machen möchte. Tatsächlich aber musste die Regierung um Ministerpräsident Mark Rutte von der konservativ-liberalen VVD das Gesetz widerwillig beschließen. "Wir konnten viele Arbeitsplätze am Bau retten, aber dafür dürfen wir, und das finde ich schrecklich, nur mehr 100 fahren", sagte er am Tag des Beschlusses. Doch wie hängt das zusammen?

Die Niederlande stecken in einer Stickstoffkrise. So sehr, dass es für die Problematik seit 2022 eine eigene Ministerin gibt. Zwar ist Stickstoff ein essenzieller Nährstoff, doch zu viel davon schadet Pflanzen, Tieren und Menschen. Stickstoff verbindet sich mit anderen Elementen, wie Sauerstoff oder Wasserstoff. Diese Stickstoffverbindungen lagern sich zum Teil im Boden ab, wodurch ein saures Milieu entsteht, das der Biodiversität schadet – ein Problem, vor allem für gefährdete Lebensräume.

Das Stickstoffproblem

Solche Gebiete will die EU mit dem Projekt Natura 2000 schützen. Da in 129 von 162 Natura-2000-Gebieten in den Niederlanden die Grenzwerte für die Ablagerungen überschritten wurden, stoppte das Oberste Gericht 2019 tausende Bauvorhaben. Denn durch das Bauen werden ebenfalls Stickstoffverbindungen ausgestoßen, die sich dann im Boden ablagern. Um weiterbauen zu dürfen, mussten daher die beim Bau entstehenden Emissionen kompensiert werden. Die Reaktion der Regierung: Tempo 100.

"Der wahre Grund für die Geschwindigkeitsbegrenzung waren Baugenehmigungen und nicht der Umweltschutz", sagt Verkehrsexperte Bert van Wee von der TU Delft. Nur sechs Prozent der Stickstoffablagerungen im Boden stammen aus dem Straßenverkehr. Da Tempo 100 zudem nur einen kleinen Teil aller Emissionen im Straßenverkehr mindert, hat die Maßnahme lediglich verschwindend geringe Auswirkungen auf die Ablagerungen. Im April 2022 wurde daher in einem weiteren Urteil entschieden, dass das Tempolimit nicht mehr als Kompensation für Bauprojekte herangezogen werden darf. Aber es bringt dennoch Vorteile für die Umwelt.

Ein Pkw, der 100 statt 130 Stundenkilometer fährt, verbraucht rund ein Viertel weniger Sprit, womit auch ein Viertel weniger CO2 ausgestoßen wird. Zudem werden halb so viele Stickoxide emittiert. Sie tragen zur Bildung von Feinstaub bei, der sich ebenfalls um ein Drittel reduziert. Stickoxide und Feinstaub verunreinigen die Luft und sind gesundheitsschädigend. Laut der European Environment Agency ist die Luftverschmutzung in der EU das "größte umweltbedingte Gesundheitsrisiko".

Schneller fahren – mehr Emissionen

Wie sich die Emissionswerte durch Tempo 100 in den Niederlanden veränderten, ist methodisch schwer zu erforschen. Das Problem: Zeitgleich wurden Corona-Maßnahmen eingeführt. "Die Veränderungen durch den Lockdown von den Veränderungen durch die Geschwindigkeitsbegrenzung zu trennen, ist etwas schwierig", erklärt van Wee. Die Auswirkungen auf die Umwelt können daher noch nicht mit Studien belegt werden. Für den Experten ist das aber gar nicht nötig: "Wir kennen die Auswirkungen. Wenn Fahrzeuge schneller fahren, stoßen sie mehr Emissionen aus. Das ist offensichtlich."

Trotz der intervenierenden Corona-Maßnahmen konnte eine Steigerung der Verkehrssicherheit in den letzten drei Jahren nachgewiesen werden. So zeigt eine Studie des Landwirtschaftsministeriums, dass auf den Autobahnen mit Tempo 100 die Unfälle stärker als im Durchschnitt zurückgingen. In Bezug auf die tödlichen Unfälle konnte dies wiederum wegen den Corona-Maßnahmen nicht eindeutig nachgewiesen werden, auch wenn es in den letzten drei Jahren weniger tödliche Unfälle gab. "Es gibt einige Studien zur Fatalitätsrate im Straßenverkehr. Wenn die Geschwindigkeit auf der Autobahn um ein Prozent erhöht wird, steigen die Todesfälle um drei bis vier Prozent an", erklärt van Wee.

Zustimmung braucht Zeit

Trotz der beschränkten Aussagekraft der Daten wird das Tempolimit akzeptiert. "Kontroverse politische Maßnahmen, die die Rolle des Autos runterspielen, erhalten nach der Einführung mehr Zuspruch", sagt van Wee. Er könne das zwar nicht beweisen, doch viele Beispiele sprächen dafür. "Früher konnte an vielen historischen Plätzen in den Niederlanden geparkt werden. Als das geändert wurde, haben sich viele Menschen beschwert. Wer würde das heute wieder wollen?", fragt er. Umfragen stärken diese These auch für das seit drei Jahren geltende Tempolimit in den Niederlanden. So befürworteten nur 46 Prozent der Niederländer Tempo 100 vor der Einführung, während sich zwei Jahre nach der Einführung 60 Prozent sogar für eine Reduktion auf 90 Stundenkilometer aussprachen.

Auch die Regierung hat ihre Meinung geändert. Die Ministerin für Natur und Stickstoff, Christianne Van der Wal (VVD), bezeichnete die Temporeduktion als "dringend notwendig". Auf die Frage, wie das Fazit nach drei Jahren Tempo 100 laute, antwortet ihr Büro: "Mit dieser Maßnahme konnte zunächst der Bau von tausenden Häusern realisiert werden, erst in Folge hat es vor allem den Druck auf unsere Natur reduziert."

Eine Stickstoffkrise gibt es in Österreich nicht. Die intensive Landwirtschaft ist in den Niederlanden maßgeblich für diese verantwortlich. Dennoch ist die Belastung durch Stickstoffverbindungen in der Luft auch in Österreich ein Problem. "Besonders Stickstoffdioxide sind gesundheitsschädigend. Sie können zu Schäden bei Atemwegen führen. Der Straßenverkehr ist in Österreich mit 44 Prozent der größte Verursacher", erklärt Christian Gratzer vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ). Zudem ließen sich durch Tempo 100 jährlich 460.000 Tonnen CO2-Äquivalente vermeiden, berechnete das Umweltbundesamt 2018.

Lehren für Österreich

Die hierzulande diskutierte Forderung von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen, 80 Stundenkilometern auf Freilandstraßen und 30 Stundenkilometern innerorts würde all diese Effekte verstärken. In Österreich passieren laut VCÖ mehr als die Hälfte der Unfälle auf Freilandstraßen, weshalb ein Ausweichen auf diese Straßen verhindert werden sollte. Mit Tempo 100/80/30 würden im Straßenverkehr rund 116 Menschen (28 Prozent) weniger getötet und knapp 7.000 (19 Prozent) weniger verletzt werden.

"Wichtig ist, dass Maßnahmen auf ihre tatsächliche Wirksamkeit im Beitrag zur Naturwiederherstellung und Klimaverbesserung geprüft werden. Sie müssen Ihre eigene Bewertung auf nationaler Ebene vornehmen", rät das Büro von Van der Wal der österreichischen Regierung, wenn sie Tempo 100 einführen möchte. Derzeit fehlt in der Regierung allerdings der Wille.

Kanzler Karl Nehammer hat Österreich erst vergangenen Freitag als "das Autoland schlechthin" bezeichnet. Laut einer aktuellen Umfrage sind 59 Prozent der österreichischen Bevölkerung zudem gegen eine Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen. Ein Blick in die Niederlande legt jedoch nahe: Sollte die Mehrheit bei uns jemals für Tempo 100 sein, dann erst nach der Einführung. (Markus Hagspiel, 16.3.2023)

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